Revolution, Opfer, Neuer Mensch

Zur kommunistischen Utopie des Ernesto Che Guevara.

Vor 50 Jahren, als Ernesto Che Guevara im Kampf fiel, war vom Kommunismus, wie er im Buche steht, nichts zu sehen. Pragmatismus hatte sich breit gemacht; die Führer und Ideologen im Ostblock beschieden sich mit dem »real existierenden Sozialismus«. Das Wirtschaftsleben, so hatte sich herausgestellt, ließ sich offenbar nur grob planen und vermittelte sich ansonsten, legal oder illegal, über Markt und Geld.
Nach der Revolution, als Industrieminister (1959-1965), hatte Guevara Druck gemacht; er wollte in Kuba keinen Realsozialismus, sondern Kommunismus. Dessen Hebelpunkt vermutete er dort, wo anstelle des Individualismus der Dienst an der Allgemeinheit trete. An diesem Punkt würde der Widerstand am größten; die Revolutionäre im Ostblock hätten an diesem Punkt, vor Materialismus und Egoismus, kapituliert. Die Arbeiter im Realsozialismus, so Guevara, arbeiteten für Lohn, die Betriebe nur für ihren Profit; so bestünden die alten kapitalistischen Kategorien fort: Ware, Geld und Markt. In Kuba müsse die Revolution radikaler sein; der Markt durch ein Plansystem restlos ersetzt, die Volkswirtschaft zu einem »einzigen großen Unternehmen« (Guevara, Bd. 3, S. 57) werden, worin jeder Arbeiter seinen Dienst tue wie ein »bewusstes Zahnrad« (Guevara, Bd. 6, S. 157). Die materiellen Interessen der Menschen sollen aufhören, maßgebend zu sein, gute Arbeit nicht mehr durch Lohnerhöhungen goutiert werden, sondern durch Urkunden. Pflichtbewusstsein wird die Bürger erfüllen, in der Bereitschaft gipfelnd, sich für das Gemeinwohl aufzuopfern. Was im revolutionären Kampfe der Schützengraben, werde in der kommunistischen Gesellschaft der Arbeitsplatz sein. Wie es die Guerillas vorgelebt haben!
Neu war diese Idee nicht: Die Kraft des Kommunismus gründe im Opfer – so hatte schon Georg Lukács verkündet, in Texten und Vorträgen (siehe Lukács: Taktik und Ethik. Politische Aufsätze I, 1975) aus dem Jahre 1919, dem Jahr der ungarischen Räterepublik: Anstelle des Zwanges, wie er in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht, werde eine kommunistische Moral treten, dahingehend, dass sich die Einzelnen aufopfern, auf den Schlachtfeldern der Revolution und in den Fabriken der neuen Gesellschaft.
Im Kuba war die Opferbereitschaft nach der Revolution nicht besonders ausgeprägt, wie ein Witz bezeugt, der im Umlauf war. Überliefert hat ihn Guevara in einer Rede vor Textilarbeitern, wobei er ihn ziemlich witzlos zusammenfasst, darauf erpicht, über dessen konterrevolutionäre Pointe aufzuklären. Der Witz lässt sich, trotz verbitterter Quelle, wiederbeleben:
»Ein Arbeiter ist von der Revolution begeistert, hat diese doch die Imperialisten verjagt. Er will der revolutionären Partei beitreten. Doch ein Parteivertreter bremst ihn und erklärt ihm die Pflichten: ›Als Parteimitglied musst du mit gutem Beispiel vorangehen, die Partei und den Kommunismus repräsentieren, musst in deinem Betrieb Überstunden leisten, pünktlich zur Arbeit kommen, dich aktiv an den Partei- und Nachbarschaftskomitees beteiligen, darfst während der Arbeit keinen Alkohol trinken, bei freiwilligen Arbeitseinsätzen nie fehlen und dich auch in deiner Freizeit nicht daneben benehmen!‹ Als der Parteifunktionär sieht, wie dem Arbeiter die Miene entgleist, setzt er noch eins drauf: ›Und du musst bereit sein, dein Leben für die Revolution zu geben!‹ ›Na logisch‹, fährt ihn da der Arbeiter ins Wort, ›wer so ein Leben führt, wie Sie es ausmalen, kann es auch hergeben.‹«
Wie gesagt, lachen kann Guevara darüber nicht. Opfer, so belehrt er seine Zuhörer, begreift der Revolutionär »als Teil seiner Pflicht [...] Wenn er kein Opfer bringt, fühlt er sich unwohl. So kommt es dahin, daß ›sich nicht Aufopfern‹ zum tatsächlichen Opfer eines Revolutionärs wird. Das heißt, die Begriffe und die Inhalte verändern sich.« (Guevara, Bd. 6, S. 134)
Die Kubaner sollen ihr Denken und Handeln dem Allgemeinwohl unterordnen; man könnte auch sagen, sie sollen lauter Philosophenkönige werden. So nennt Platon in seiner politischen Utopie die Herrscher. Dazu avancieren könne jeder, unabhängig von seiner familiären Herkunft, egal ob Mann oder Frau. Als Kinder werden die Kandidaten ausgewählt, dann über Jahrzehnte hinweg geschult und schließlich die besten von ihnen zu Philosophenkönigen. Entscheidend, so Platon, sei die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, d.h. die Fähigkeit, von sich und seinen Interessen zu abstrahieren und dem Gemeinwesen und der Idee des Guten zu dienen, welche ewige Harmonie verspricht, über den vergänglichen Begierden thront und Gipfelpunkt der Vernunft ist.
Während Platon eine Elite heranziehen möchte, die der Vernunft inne wird und sie im Gemeinwesen und für dieses durchsetzt, möchte Guevara die Selbstbeherrschung und den Dienst am Gemeinwohl demokratisieren. Alle sollen solidarische Mitglieder des Gemeinwesens werden vulgo zu Genossen. Eine »gigantische Bewußtseinsveränderung« (Guevara, Bd. 3, S. 85) sei nötig; auf dass der selbstlose, sozialistische Mensch entstehe: der Neue Mensch. Sprich: Wenn der Mensch nach seinem Bilde geformt ist, wird der Kommunismus funktionieren! Guevara denkt besonders an die Jugend; in ihr erblickte er den »Ton, aus dem sich der neue Mensch ohne all seine früheren Mängel formen lässt« (Guevara, Bd. 6, S. 31). By the way: Dass die Jugend im Westen dort, wo sie den Aufstand probt, das Konterfei von Che vor sich her trägt, deutet hin auf die Janusköpfigkeit der Rebellion. Was seine Beliebtheit zu erklären vermag, steht für die Sehnsucht nach Kampf und Kommando, Hingabe und Opfer: Seine Abkehr vom Elternhaus, sein Kampf in der Sierra Maestra, seine Ähnlichkeit mit Jesus, seine Entscheidung als Minister, abermals sein Leben zu riskieren, diesmal im Kongo, später in Bolivien, dort seine Gefangennahme und Exekution, sein Märtyrertod. »Es gibt kein Leben außerhalb der Revolution.« (ebd., S. 33) Darin, nur darin, erschien es ihm richtig. So ticken auch heutige Revolutionäre. Das »Unsichtbare Komitee« verkündet einen »kommenden Aufstand« und huldigt diesem an und für sich. Erhofft werden Ereignisse, in die sich mit Haut und Haar stürzen ließe, worin »sechzig Jahre der Befriedung« zu Ende gingen (im Kapitel »Auf Geht‘s«). Noch lüsterner erwarten zündelnde Revolutionäre aus Griechenland das Ende der Befriedung. »Wir wünschen, unser Alltagsleben in eine fortwährende Schlacht gegen die Macht und ihre Zivilisation zu verwandeln.« (Verschwörung der Feuerzellen 2014, S. 101) Immer wieder betonen sie ihre »Begierde nach einem fortdauernden Zusammenstoß« (ebd., S. 104). Fortwährende Schlacht, fortdauernder Zusammenstoß! – kein Wort über den Zustand danach, kein Wort über das Ende von Kampf und Entbehrung. So lesen sich die Pamphlete wie das Gegenkonzept zu Kants »ewigem Frieden«: ewige Anarchie, permanente Revolution, endloser Kriegskommunismus.

Mit dem Vorhaben, durch Erziehung Gemeinschaftsmenschen zu formen, stand Guevara in sozialistischer Tradition. Schon die Saint-Simonisten hatten die moralische Erziehung als sozialistisches Werk deklariert. Die Losung vom »Neuen Menschen« verbreitete sich dann in den 1920er-Jahren in der Sowjetunion. Die Theorie dazu nannte sich »Soziologischer Materialismus«. Einer ihrer Vertreter, Aron Salkind, Psychoanalytiker und Mitbegründer der Pädologie (Wissenschaft vom Kind), begrüßte die »massenhafte Veränderung der Kinder in einer dynamischen neuen Umwelt« (zit. n. Anweiler, S. 314). In der widerstreitenden Theorie, genannt »Biogener Materialismus«, wurde der Mensch hingegen als Geschöpf betrachtet, das durch Natur und Erbgut vorgeprägt sei. Einer ihrer Vertreter, der Psychoanalytiker Moshe Wulff, warnte davor, die Kinder als »tabula rasa« zu betrachten, »worauf sich beliebiges schreiben ließe« (zit. n. Etkind, S. 330f.). Ob soziologischer oder biogener Materialismus – beiderlei lässt sich mit Marx-Zitaten autorisieren. Entweder: Der Mensch ist ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse. Oder: Der Mensch ist ein Naturwesen. Um den Streit auszutragen, wurde 1927 ein pädologischer Kongress ausgerichtet. Der Parteiintellektuelle Bucharin behauptete dort, dass nicht allein der Charakter, sondern auch die Physis des Menschen sozial bedingt sei. Mit Nachdruck und Segen des Kremls setzte sich die Position des »soziologischen Materialismus« durch; im Kongressresümee wurde die »Formbarkeit des Menschen« betont (siehe Anweiler, S. 314). Soweit war die Revolution: Statt eine bessere Gesellschaft für die Menschen sollten fortan bessere Menschen für die Gesellschaft geschaffen werden. Auch mit Gewalt: »Von einem breiteren Standpunkt aus, d.h. vom Standpunkt eines dem Um- fange nach größeren historischen Maßstabes, bildet der proletarische Zwang in allen seinen Formen, angefangen mit Erschießung bis zur Arbeitspflicht, eine, so paradox dies auch klingen mag, Methode der Bildung einer neuen, kommunistischen Menschheit aus dem Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche.« (Bucharin, S. 157) Guevara tönte vierzig Jahre später, man müsse »einen Frontalangriff führen gegen die Unlustigen, die Unklaren, Verworrenen und Faulen, diese Masse umerziehen und erziehen, sie in die Revolution einreihen und die Widerstrebenden entfernen« (Guevara, Bd. 3, S. 35).
Der Frühsozialist Robert Owen hatte sich bedächtiger geäußert. Nachdem seine Kommune »New Harmony« ihrem Namen nicht gerecht geworden war, notierte er: »Eine Erfahrung von achtzehn Monaten hat uns bewiesen, daß für ein ständiges Mitglied der kommunistischen Gemeinde folgende Eigenschaften erforderlich sind: 1. ehrliche Absicht; 2. Mäßigkeit; 3. Fleiß; 4. Sorgfalt; 5. Reinlichkeit; 6. Wissensdurst; 7. die Anerkennung der Tatsache, daß der Charakter des Menschen für ihn, nicht von ihm, gebildet wird.« (zit. n. Hillquit, S. 67) Der letzte Satz rät zu Zurückhaltung: Die Menschen lassen sich nicht formen.
Der neue Mensch wurde kein Massenphänomen, in Kuba so wenig wie in der Sowjetunion. Materialismus und Egoismus behaupteten sich, wie Fidel Castro zum 20. Todestag von Guevara bekümmert kundtat: »Wenn Che gewusst hätte, daß das Geld zum wichtigsten Instrument der Motivierung der Menschen geworden ist, dann wäre er, der so dagegen war, entsetzt gewesen.« (Castro, S. 10)

Literatur

Otto Anweiler: Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland [1963], West-Berlin 1978.
Nikolaj Bucharin: Ökonomie der Transformationsperiode [1920], Reinbek bei Hamburg 1970.
Fidel Castro: Ansprache vom 8.10.1987, in: Guevara, Bd. 3, S. 7-27.
Alexander Etkind: Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland [1993], Leipzig 1996.
Ernesto Che Guevara: Ausgewählte Werke, Bd. 3 (Aufsätze ü. Wirtschaftspolitik) und Bd. 6 (Der Neue Mensch), Bonn 2003.
Morris Hillquit: History of Socialism in the United States [1903], New York 1910.
Das Unsichtbare Komitee: Der Kommende Aufstand [2007], verschiedene Versionen im Internet.
Verschwörung der Feuerzellen: Warum wir eure Nächte in Brand stecken [2014], http://www.magazinredaktion.tk/nihilin.php.

Che-Ikone im Europabad am Attersee (Foto: Thomas Kolar)