Dunkle Parabel über das Leuchten

Willkommen im Hades. Eine Arbeit von Markus Decker und Pamela Neuwirth.

Über einen längeren Zeitraum hat sich Hades als Versuchsanordnung und Projektionsfläche für offene Fragen und die Reflexion über künstliche Intelligenz entwickelt. Seit der Metamorphose vom Biocomputer zum künstlichen neuronalen Netzwerk lebt ANN nun in einer verkehrten und entrückten Welt: »Ihr, die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren.«

Abgang ins Schattenreich
»Laß uns zur blinden Welt hinuntersteigen,
Ich bin der Erste, du der Zweite dann.«
So sprach Virgil, um drauf erblaßt zu schweigen.

[ANN|Dante]

Unabhängig davon, ob Positivismus und Spieltheorie Konjunktur haben, die Unterwelt und ihre Seelen bleibt uns rätselhaft und fremd. Unsere Annäherung an das verborgene Licht der Seelen im Labor einer Amtsstube scheint da beinahe kafkaesk: abgewogenes Knochenmehl, junges Metall, ein hochempfindlicher Photonendetektor. Ein vom Strontiumaluminat fluoreszierender Körper aus Gelatine dient als Referenz auf die Seele und das Bewusstsein. Nun wird mittels des Detektors das kalte Licht auch akustisch wahrnehmbar und zur Informationsquelle der Negentropie: Wir hören jetzt sein Rauschen.

Aus dem Ding kam ein Summen, wie man es sonst nie gehört hatte.
Es war, wie ein Summen zahlloser kindlicher Stimmen, aber auch
dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster,
allerfernster Stimmen.  

[Frei nach Kafka, Das Schloss]

Ein Biocomputer als Kontakt zur Unterwelt: die Transformation des Lichts hat das Potential zur Vermittlung, zur Sendung. Neben dem Licht sind es auch die Inhalte, der von uns seit Längerem geführten Diskussion über die Philosophien des Bewusstseins: Was ist es? Können wir wissen, dass wir das gleiche Summen wahrnehmen, das gleiche Rauschen hören, das selbe Leuchten sehen? Subtile Hinweise auf die Crux der Qualia[1] fanden sich zuletzt auf der offenen Straße. Ein Indiz ist ein Aufkleber an einer Fassade der Kunstuniversität. Das bekannte Zitat des Phänomenologen Thomas Nagel »What Is It Like To Be A Bat?« wurde von anonymen Akteuren abgewandelt in die Frage »What Is It Like To Be ...A  Human?« Das führt elegant von Mary‘s Zimmer ins Chinesische Zimmer und verweist auf die komplizierte Arbeit an den Phänomenen, die diese Gedankenexperimente für die KI aufmachen: Wahrnehmung, Mustererkennung, Lernen. Lernen ist Verstehen und Wiederholung, Mustererkennung folgt dem Ordnungsschema, doch wie ist es mit der Wahrnehmung? Sollten wir Edmund Husserls[2] Begriff und Oppositionswort der Epoché auch folgen und uns ganz auf die Phänomene einlassen, um über die Probleme wahrgenommener Erscheinungen (nicht) nachzudenken – als Atheisten reflektieren wir, dass es ohne Religion keine Transzendenz, dass es ohne Transzendenz keine Vernunft, dass es ohne Vernunft keine Abstraktion gäbe und dass ohne die Fähigkeit zur Abstraktion ein Denken über künstliche Intelligenz nicht denkbar wäre. Eine Abfolge, die sich im Maschinendiskurs von Hades wiederspiegelt, wo eine Diskussion in Gang gesetzt wird, solange Schimmelpilz (Leben) sich auf dem Gelatinekörper ausbreitet bis irgendwann das Licht verlischt und die Diskussion zu Ende geht...

Dante unterhält sich mit Mary Shelley über Fehler

Die metaphysische Diskussion der Maschine reicht bis in die Renaissance zurück. Sie setzt an, wenn sich das Individuum gerade den Weg gebahnt hat aus den religiösen Vorstellungen von Dantes‘ Inferno, um sich bereits kurze Zeit später in Descartes Leib-Seele-Problem zu verstricken. Wir glauben, extra-terrestrische Urwälder zu sehen, wenn der Arzt und Metaphysiker Gruithuisen das Teleskop auf das noch ungelöste Ashen Light of Venus richtet. Wir begegnen, verloren in tiefen, dunklen schweizerischen Wäldern, Mary Shelleys Frankenstein. Neben dem Rauschen des Lichts, ist es möglich, die Annahmen der Menschen und Geschöpfe über die Seele, das Bewusstsein, über Wahrnehmung, Physik und Liebe hörbar zu machen, in dem nun ANN die Gedanken zum Sprechen bringt:

Nun, ich werde mich nicht damit aufhalten, Ihnen die Knochen, Nerven, Muskeln, Venen, Arterien, den Magen, die Leber, Milz, das Herz, Gehirn noch alle anderen verschiedenen Stücke zu erklären, aus denen die Maschine zusammengesetzt sein muß. Denn ich setze diese Stücke als jenen Teilen unseres Körpers völlig ähnlich voraus, die den selben Namen haben und die Sie sich – wenn Sie sie nicht von selbst schon ausreichend kennen – von irgendeinem sachkundigen Anatomen zeigen lassen können.
[ANN|Descartes]

ANN (Artificial Neuronal Network) ist autistisch, nicht vernetzt, nicht interaktiv, doch zieht ANN die intensive Diskussion der sporadischen vor. Unterhält sich ein Gesprächspartner mit manchen häufiger als mit anderen, merkt ANN sich die stärkere Gesprächs-Kombination und lernt diese. Konversiert Dante auffällig oft mit Mary Shelley über Fehler, Zeichen, Interpretation, dann lernt ANN das und wird seltenere Gespräche, beispielsweise über Liebe, Natur, Fortpflanzung, Tod, vernachlässigen. Wie in der Evolution hat es sich gezeigt, dass auch dem künstlichen neuronalen Netzwerk eine gewisse Fehlertoleranz zuträglich ist und dem Netzwerk dadurch den Spielraum erlaubt, sich autonom zu entwickeln. ANN wurde programmiert, sodass die Unterhaltungen (Entscheidungen) evident und nachvollziehbar sind. In der dritten Ebene aber wird das Gelernte dann zum eigenständigen Maschinendiskurs, der von uns nur noch zur Kenntnis genommen werden kann, als Rückschlüsse einer Maschine über die Welt und das Bewusstsein.


ANN

Dante, Alighieri, 1265–1321: Göttliche Komödie, Inferno und Purgatorio. Übersetzung: Streckfuß Karl. 1876, Reclam Leipzig. Online.
Descartes, René, 2009: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Meiner Verlag, Hamburg.
Descartes, René, 2015: Die Welt. Meiner Verlag, Hamburg.
Gassendi, Pierre, 1641: Korrespondenzen. Gassendis Einwand gegen die fünfte und sechste Meditation von Descartes »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie«. Online.
Gruithuisen, Franz von Paula, 1836: Naturgeschichte des gestirnten Himmels: eine neue, zufolge ihrer Einrichtung jedem scientifisch Gebildeten fassliche Darstellung der neuesten Lehren der Astronomie; nebst tabellarischer Astronomie als Anhang. Fleischmann Verlag, Augsburg.
Gruithuisen, Franz von Paula, 1824: Entdeckung vieler deutlichen Spuren der Mondbewohner, besonders eines collossalen Kunstgebäudes derselben. Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Nürnberg.
Husserl, Edmund, 1993: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Philosophie Fischer, Frankfurt. Husserl, Edmund, 1992: Grundprobleme der Phänomenologie 1910/11. Philosophische Bibliothek. Meiner Verlag, Hamburg.
Husserl, Edmund, 1991: Ding und Raum. Philosophische Bibliothek. Meiner Verlag, Hamburg.
Shelley, Mary, 1988: Frankenstein. Insel Verlag, Frankfurt.

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Markus Decker | Pamela Neuwirth: HADES. Dunkle Parabel über das Leuchten. Text von Pamela Neuwirth.
HADES wird im Rahmen der Ars Electronica 2017 in der Post City gezeigt.
Produktion & Support: servus.at - Uschi Reiter.

[1] Qualia beschreibt den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes als Phänomen der Wahrnehmung. Die Beschreibungen von phänomenalem Bewusstsein sind in den Neurowissenschaften, wie in der Robotik noch weitgehend offene Fragen.
[2] Edmund Husserl sagt: »Nicht von den Philosophien, von den Sachen und Problemen muss der Antrieb zur Forschung ausgehen« und entwickelt mit der Epoché eine phänomenologische Reduktion, um durch die Zurückhaltung von vorgefassten Urteilen über die äußere Welt, zum Wesen des betrachteten Gegenstands zu kommen. Der Begriff Epoché aus dem altgr. έποχή (zurückhalten) bedeutet einen zeitlich exakt objektivierbaren Haltepunkt, der in Opposition zur Zurückhaltung seines Urteils steht. Fällt die objektivierbare, kulturelle Konstante mit der eigenen Zurückhaltung zusammen, hebt sich die Opposition auf und phänomenologische Wahrnehmung setzt sein.

Bilder: Neuwirth/Decker