»Also schlug ich wie gehabt in Städten auf, in denen ich niemanden kannte, trieb mich mutterseelenallein auf Bahnhöfen herum, bis die zumachten, und sicherte mir so einen Unterschlupf für die Nacht, oder ich verkroch mich in reine Wohnstraßen, bis am nächsten Tag mein Zug zurückfuhr. Ich tat ganz einfach so, als sei ich gar keine Frau.« (Virginie Despentes – King Kong Theorie)
Virginie Despentes kennt sie, die Angst an verlassenen und unbekannten Orten vor allem des Nachts. Dennoch treibt sie sich genau dort rum. In ihrem jüngsten autobiographischen Buch mit dem Titel »King Kong Theorie« liefert die französische Autorin und Filmemacherin nicht nur flotte Thesen über Pornographie und Prostitution, sondern beschreibt auch wie sie sich als Teenager nach einer Vergewaltigung auf der Straße, eben diese wieder aneignete.
Der Name Virginie Despentes steht in Frankreich aber auch hierzulande für den Film »Baise moi«, zu Deutsch »Fick mich«, der 2000 in die Kinos kam. Despentes erzählt darin die Geschichte einer brutalen Vergewaltigung zweier junger Frauen und ihrem anschließenden blutigen Rachefeldzug. Brisant an der Sache ist nicht nur, dass der Film nach seinem Erscheinen aufgrund der expliziten Sexzenen, als Pornofilm klassifiziert und für einige Zeit mit einem Aufführungsverbot belegt wurde, sondern auch, dass Virginie Despentes darin von ihrer eigenen Vergewaltigung erzählt. Despentes war damals 16, mit einer Freundin unterwegs und hatte die drei jungen Männern beim Trampen kennengelernt. Sie hat massive Probleme mit der erlebten Vergewaltigung umzugehen und spricht jahrelang kaum darüber.
»Ich tat ganz einfach so, als sei ich gar keine Frau.« Dieser Satz lässt aufhorchen. Warum muss Virginie Despentes so tun, als sei sie keine Frau um sich des Nachts in verlassenen Gegenden aufzuhalten? Weil Frauen Angst haben des Nacht allein unterwegs zu sein? Weil der öffentliche Raum, wie es vielerorts heißt, ein männlicher ist, in dem Frauen nichts zu suchen haben? Weil Frauen, anders als Männer, der Gefahr ausgesetzt sind vergewaltigt zu werden?
Laut einer Studie des deutschen Bundeskriminalamtes aus dem Jahre 2001 haben mehr als zwei Drittel aller Frauen Angst, wenn sie sich im öffentlichen Raum aufhalten. Auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Plätzen, besonders des Nachts. Nicht so das andere Geschlecht. Denn obwohl Männer in der Praxis zwar häufiger als Frauen Opfer gewalttätiger Übergriffe werden, hat nur jeder vierte Mann Angst auf der Straße. Kurz, die Angst im öffentlichen Raum ist weiblich und das obwohl sie durch Zahlen über die Häufigkeit von Übergriffen nicht gedeckt ist.
Dabei müsste es frau eigentlich in den vier Wänden mit der Angst zu tun kriegen. Denn – und da erzähle ich nichts Neues – Gewalt an Frauen ist hausgemacht. Das zeigt nicht zuletzt wieder der Fall Amstetten sondern auch die Kriminalstatistik. Nun sind Statistiken, noch dazu polizeiliche, zwar nicht ungedingt eine verlässliche Quelle, sagen sie doch meistens wenig darüber aus, wie das Ergebnis zustande gekommen ist. Dennoch: Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik der letzten Jahre über Gewalt an Frauen ergibt, dass nur ein Viertel der angezeigten Gewaltdelikte im öffentlichen Raum passieren. Der weitaus größere Teil passiert im Privaten. Hinter verschlossenen Türen und Vorhängen. Die Täter sind dabei nicht die Unbekannten von der Straße sondern Verwandte und Freunde des Opfers.
Dabei ist das trügerische Bild des vertrauten sicheren »Drinnen« als Kontrastfigur zum gefährlichen »Draußen« nichts neues. Die Gleichung private Wohnung = sicher, der öffentliche Raum = unsicher, schleppen wir bereits seit dem dunklen 19. Jahrhundert mit uns herum. Damals verfestigte sich ein bürgerlicher Wertekanon, der besagt, dass Haus und Familie der eigentlich sichere und rechtmäßige Ort für die Frau sind. Draußen im öffentlichen Raum ist es tendenziell gefährlich. Der öffentliche Raum, die Straße war deshalb für die anständige Frau nur ein Transitraum, wenn sie von A nach B gelangen wollte. Die Straße bedeutete Schmutz, Gestank, da wurde frau angepöbelt, schlimmstenfalls sogar vergewaltigt.
Und es ist heute noch so. Es ist vor allem die Vergewaltigung, die Frauen im öffentlichen Raum fürchten. Mädchen und Frauen wachsen oft bereits mit dieser Angst auf oder werden dazu erzogen. Es ist keine panische Angst. Sondern das dumpfe Gefühl, dass frau sich auf der Straße in einer potentiellen Gefahrenzone befindet. Es kommt vor, dass frau sich überlegt, welchen Weg sie geht, wenn sie abends aus der Kneipe kommt und sich schon manchmal fragt, ob das langsam fahrende Auto hinter ihr sie verfolgt oder ob es nur einen Parkplatz sucht. Wie gesagt, es ist keine explizite Angst, es ist eine Angst die mitschwingt. Eine kleine Umfrage, sozusagen homemade statistics, ergab: 90% meiner weiblichen Bekannten kennen diese Angst auf einer dunklen Straße, doch nur ca. 10% meiner männlichen.
Der öffentliche Raum gilt natürlich nicht überall als gleich unsicher und gefährlich. Besonders die zweite Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren machte die Rede von Angsträumen und (Vergewaltigungs)Tatorten populär. Man versuchte sich darauf hin am Entwurf der sicheren Stadt. Übersichtlich sollte alles werden, gut beleuchtet, einsehbar, sozial kontrollierbar, Fluchtwege erkennbar. Es wurden Frauenparkplätze eingerichtet, die erst recht auf ihre ängstlichen Benutzerinnen hinwiesen. Es wurden Überwachungskameras aufgestellt, ohne zu überlegen, dass die bloße Anwesenheit eines solchen Geräts keine Tat verhindern, nur später bei der Identifizierung eines Täters möglicherweise helfen kann. Überwachungskameras haben in dieser Hinsicht auch die Nebenwirkung, dass ihre bloße Anwesenheit Orte per se als unsicher kennzeichnet. Und somit für neue Angst sorgt.
Doch zurück zu Virginie Despentes. Einige Jahre nach ihrer Vergewaltigung, so erzählt sie es in ihrem Buch, liest Virginie Despentes ein Interview der umstrittenen US-Feministin Camille Paglia, das dazu führt, dass Despentes ihre Erfahrungen in einen größeren Kontext einordnet. Camille Paglia erzählt in diesem Interview, dass in den 60er Jahren, als sie aufs College ging, die Studentinnen am Abend um 10 Uhr eingeschlossen wurden, während die Studenten tun und lassen konnten, was sie wollten. Paglia fragte nach, warum Frauen und Männer derart unterschiedlich behandelt wurden und bekam zur Antwort, dass die Welt gefährlich sei und für die jungen Frauen Gefahr bestünde, vergewaltigt zu werden. Worauf Camille Paglia schnippisch antwortete, dass sie das Risiko vergewaltigt zu werden, gerne einginge. Camille Paglia entwickelte als Reaktion auf diese Erfahrung eine gewagte These: Vergewaltigung sei als Risiko zu betrachten, über das jede Frau im Bilde sein müsse, sofern sie am Nachtleben teilhaben will. Camille Paglia machte dadurch die Vergewaltigung im öffentlichen Raum zu einem politischen Sachverhalt, zu etwas, das einzustecken gelernt sein will. »Zum ersten Mal verstanden wir, was wir uns zu Schulden kommen lassen hatten. Wir waren raus auf die Straße gegangen, weil bei Papa und Mama tote Hose war. Wir sind das Risiko eingegangen und haben den Preis dafür bezahlt. Doch statt uns zu schämen, lautete unser Entschluss uns wieder aufzurappeln und uns, so gut es eben geht, wieder einzukriegen. Paglia machte es uns möglich, uns als echte Kriegerinnen zu fühlen, nicht persönlich für das verantwortlich, was wir selbst provoziert hatten.[...] Paglia war die Erste, die die Vergewaltigung nicht mehr als den völligen Alptraum betrachtete, über den man besser kein Sterbenswörtchen verlor, als etwas, das einem auf gar keinen Fall passieren durfte.«
Sicher, Paglias Sicht der Vergewaltigung provoziert und ist durchaus anfechtbar. In einem hat sie aber recht: sie macht darauf aufmerksam, dass es nicht nur um den Akt der Vergewaltigung geht, sondern auch darüber wie über ihn geredet und gedacht, mit welchen Konnotationen er aufgeladen wird. Denn wird der Akt der Vergewaltigung auf der Straße im gesellschaftlichen Diskurs zu einem unüberwindlichen Trauma, aus dem eine Frau nur völlig gebrochen herauskommt, so wird dadurch der öffentliche Raum zu einem Ort an dem frau sich nur äußerst ungern aufhält.
Virginie Despentes kam nicht damit zu recht, dass sie nach ihrer Vergewaltigung als hilfloses, schwaches, für ihr Leben gezeichnetes Opfer gesehen wurde und wollte sich auch selbst nicht so sehen. Die schmerzvolle Erinnerung war zwar da, doch sie zog wieder los. Vielleicht gerade deshalb.