Judith Butler hat Bodies that Matter (auf Deutsch publiziert unter dem unpräzise übersetzten Titel Körper von Gewicht; Berlin 1995) als Antwort geschrieben auf die Kritik, die ihr berühmtes Buch Gender Trouble (Unbehagen der Geschlechter) hervorgerufen hatte. »Und was ist mit der Materialität des Körpers, Judy?« zitiert sie einen ihrer Kritiker im Vorwort. Aber im Grunde ist schon die Frage falsch gestellt, wenn von Körper im Sinne von Materie oder gar Materialität gesprochen wird und nicht davon, was der Begriff Körper, aufgefasst als lebendiger Leib des Menschen, beinhaltet. In ihrer ausführlichen Antwort auf die falsch gestellte Frage, kann Butler dann ein ganzes Arsenal von »Materialitäten« präsentieren, »die dem Körper zukommen – das Arsenal, das mit den Bereichen der Biologie, Anatomie, Physiologie, hormonaler und chemischer Zusammensetzung, Krankheit, Alter, Gewicht, Stoffwechsel, Leben und Tod bezeichnet ist«. Wie und wodurch diese »Materialitäten« aber dem Körper »zukommen«, findet sich gerade ausgeblendet: Leben und Tod werden in eine Reihe mit naturwissenschaftlichen Termini und Disziplinen gesetzt, statt in der Verhinderung des gewaltsamen Todes und des physischen Schmerzes die innerste Bestimmung des philosophischen Gedankens zu erkennen, ohne die es für diesen Gedanken doch keine Wahrheit geben kann.
Anders gesagt: anstelle von Gewalt und Leib ist bei Butler von Macht und Materialität die Rede. Die Materialität sei »als die Wirkung von Macht, als die produktivste Wirkung von Macht überhaupt«, zu denken. Wie aber soll man sich vorstellen, dass die Macht die Materialität hervorbringt? Hier kann man an ein Fitnessstudio denken, in dem Muskelfasern aufgebaut werden, oder an Schönheitsoperationen, wo Haut straffgezogen wird. Aber auch in diesem Fall, in dem gesellschaftliche Schönheits- und Gesundheitsnormen unmittelbar wirksam scheinen, wird die »Materialität« nicht hervorgebracht, sondern ein bestimmter Körper trainiert oder verwandelt, aber als etwas, das schon da ist und nicht von Macht erzeugt. Für eben dieses ‚etwas‘ kann der Begriff der Natur als unabdingbar gelten.
Der Machtbegriff jedoch, wie ihn Butler von Foucault übernommen hat, verdrängt mit der Natur notwendig die Frage der Gewalt – als die Voraussetzung aller Herrschaftsverhältnisse: das, was der Einheit des Ganzen zugrunde liegt. Als die Drohung, die den Leib des einzelnen, des Individuums, betrifft, ist sie die ultima ratio jeder Form von Herrschaft. Kritik, die in aufklärerischer Tradition eine als naturgegeben legitimierte Herrschaft als gesellschaftlich hergestellte durchschaut, schlägt um in Affirmation, sobald sie die Natur selbst zu leugnen beginnt und vollständig verschwinden lässt; sobald keine Natur mehr gedacht, keiner Natur mehr gedacht wird. Denn wie sollte ohne eine Vorstellung von Natur noch begriffen werden, was der Physis des Menschen im Namen der Herrschaft – des Staats und des Kapitals – an Gewalt angetan wird. Vielmehr erscheint schließlich gesellschaftliche Herrschaft selbst wie naturgegeben, die als solche nicht kritisiert und abgeschafft, sondern nur noch manipuliert und modifiziert werden kann, indem man eben verschiedene Praktiken des Diskurses wähle und einübe, um an der ‚ewigen‘ Macht zu partizipieren.
Entkörperung und Israelkritik
Barbara Dudens Kritik an Butlers Konzept, die sie unter dem Titel »Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung« 1993 in Heft 2 der Zeitschrift Feministische Studien veröffentlichte – im deutschsprachigen Raum vermutlich die prominenteste Kritik an Butlers Gender Trouble –, zielte darum auch auf etwas anderes als bloße Materialität, sondern auf Erfahrung, auf den Zusammenhang von Ichbildung und Körpererfahrung, der bei Butler ausgeblendet werde. Im Gender Trouble sei das Ich Epiphänomen »einer performance, der Leistung eines stimmlosen Diskurses«, damit stimme Butler »in den Chor von Akademikerinnen ein, die der Selbstentkörperung in der modernen Mediengesellschaft den Anschein verleiht, im Interesse auch der Frauenbewegung zu sein«.
Duden stellt sich nun nicht einfach umgekehrt bei der Trennung von Sex und Gender auf die Seite eines geschichtslos gedachten Körpers. Im Gegenteil, sie betont in ihren Studien die Historizität der Körpererfahrung von Frauen, aber Historizität sieht sich hier auf die Erkenntnis reduziert, wonach die Körpererfahrung, die aus den historischen Dokumenten vorbürgerlicher Provenienz spricht – »Gesundheits- und Speiseregeln, Hebammentexten, Sprichwörtern und Gesten« – nicht mit der eigenen, der heutigen modernen Körpererfahrung übereinstimme. In den »Quellen« gehe die »Bezüglichkeit, die als Leibhaftigkeit erfahren wird, jeder Textualisierung voraus – so wie die Stimme dem Diktat«. Gerade die Herrschaftsverhältnisse bleiben jedoch hier aus dem Horizont der Erfahrung und des Erfahrbaren in toto ausgeblendet, und darum gewinnt das den historischen Quellen Entnommene einen abstrusen Glanz als »existentielles Erlebnis«: den Glanz einer Art kosmisch erleuchteten Körperlichkeit, die Duden gewissermaßen der Entkörperung in der modernen Mediengesellschaft entgegensetzen möchte.
Verwendet Butler einen Machtbegriff, der Macht selbst bereits wie ein ewiges, quasi naturgegebenes Verhältnis erscheinen lässt, gerade weil sie von der Natur abstrahiert, so wird bei Duden das historisierte Verhältnis zum eigenen Körper ein verlorenes Paradies, das heißt: auch sie schweigt vom quälbaren und tötbaren Leib, also vom Körper unter der Perspektive der Herrschaft, womit es erst möglich wird, Herrschaft auch in Frage zu stellen. Jede ihrer historischen Formen stützt sich auf die Drohung, die den Leib als quälbaren und tötbaren setzt; die vormoderne, auf unmittelbarer personaler Abhängigkeit beruhende, in der Gewaltanwendung selbst ubiquitär ist, wie die moderne des Souveräns, worin die Gewalt als im Staat monopolisierte die Einheit stiftet, die es in Gestalt von Vertragsverhältnissen und Äquivalententausch im Inneren der Gesellschaft an bestimmten Punkten allerdings erlaubt, die Gewalt zu suspendieren. Während Duden die vormodernen Beziehungen verklärt, indem sie die Gewalt in den frühen Herrschaftsformen ausblendet, extrapoliert Butler gewissermaßen Vertragsverhältnisse und Äquivalententausch: Was als »Bezeichnungsverfahren der Geschlechtsidentität« firmiert, zwischen denen gewählt werden könne und in deren Teilhabe die Möglichkeit bestehe, den Identitäten zu widersprechen, ist nichts anderes als der lingustic turn in Sachen Vertrags- und Tauschgesellschaft. Diese Gesellschaft hat in der Tat vorgeführt, dass es mittels der vom Souverän gedeckten Verträge, die eben auf der Gleichheit von Vertragspartnern beruhen müssen, bis zu einem bestimmten Punkt möglich ist, »die Geschlechter-Konfigurationen zu vervielfältigen, die substantivische Identität zu destabilisieren und die naturalisierten Erzählungen der Zwangsheterosexualität ihrer zentralen Protagonisten: ‚Mann‘ und ‚Frau‘ zu berauben«.
Butler aber ignoriert wie alle Poststrukturalisten konsequent, dass jene zu bejahende Vervielfältigung Einheit voraussetzt, unter den Bedingungen bürgerlicher Herrschaft die Einheit des Souveräns. Diese Ignoranz hat bei ihr die fatalsten Folgen für die politische Theorie: Mit einer Obsession und einem Verfolgungswahn, die schon an den jüdischen Antisemiten Arthur Trebitsch erinnern, zielt Butler seit einiger Zeit bereits auf den Staat Israel und stellt die Notwendigkeit jüdischer Souveränität in Frage. Das geht ihr aber so leicht nur deshalb von der Hand, weil sie das Gewaltpotential des Antisemitismus behandelt wie die »substantivische Identität« im Gender Trouble, die sich eben durch bloßen Austausch von Bezeichnungsverfahren destabilisieren lasse, statt offenzulegen, dass dieses Potential – anders auch als der Rassismus – gerade aus den Auflösungstendenzen der Souveränität resultiert, die von jeder Krise des Kapitals auf die Tagesordnung gesetzt werden: Es ist als Vernichtungswahn selbst das Einheitsstiftende und zwar in seiner schrecklichsten Gestalt, das dann an die Stelle des Staats zu treten sich anbietet. Rechtsstaat und Hamas sind für Butlers Theorie darum notwendig ununterscheidbar.1
Von Butler zu Kant
Barbara Duden liefert sozusagen eine feministische, auf die Körpererfahrung bezogene Lesart von Bachofens Mutterrecht, das die Mythen untersucht, in welchen die Frau als Mutter gerade dank ihres Körpers als lebensspendende Göttin verehrt wird; Butler hingegen eine feministische auf die Sprachstrukturen fixierte Lektüre der Kantischen Metaphysik der Sitten, wonach die Beziehung der Geschlechter nicht mehr von Zeugung und Fortpflanzung aus, sondern als wechselseitiger Gebrauch der Geschlechtseigenschaften definiert wird, und also ganz davon abstrahiert werden kann, was diese Geschlechtseigenschaften denn nun eigentlich wären. Darin, also gerade in der Abstraktion, liegt die aufklärerische, herrschaftskritische Möglichkeit: die Lust am Gebrauch der Geschlechtseigenschaften kann nunmehr als Selbstzweck gelten. Butler aber gibt gerade diese Möglichkeit wieder preis, denn sie reflektiert durchaus nicht, dass in solcher Abstraktion zugleich von den Zwängen und der Gewalt abgesehen wird, die in jene Beziehungen der Geschlechter führen und darin persistieren (praktische feministische Aktivitäten wie die Schaffung von Frauenhäusern, sprechen darum eine andere Sprache). Dem eigenen Abstraktionsverfahren auf den Grund zu gehen, dazu bedürfte es – mit Kant gesprochen – der Einsicht, dass die Rede von den Bezeichnungsverfahren der Geschlechteridentität nicht anders als die Vorstellungsweise der Zeit und des Raums immer schon ein Transzendentalsubjekt voraussetzt, jenes ‚Ich denke‘, das alle meine Gedanken muss begleiten können, eine Identität jenseits des Geschlechts, weil jenseits alles Leiblichen, die reine Identität der abstrakten Person, also – mit Marx gesprochen – des Wareneigentümers.
Weil Kant diese Abstraktion, der er auch in seiner Formalisierung der Beziehung der Geschlechter folgte, sich noch als die Tätigkeit des Verstandes bewusst machen konnte, war er auch imstande, sie zugleich zu durchbrechen – anders als Butler, bei der sich die Abstraktion im Machtbegriff verselbständigt. Er wusste, dass dieses Transzendentalsubjekt niemals ohne das einzelmenschliche Bewusstsein existieren könne, so wie dieses einzelmenschliche Bewusstsein nicht ohne Leib. An einer bestimmten Stelle sieht Kant sich darum genötigt, im ‚Ich denke‘ eine »unbestimmte empirische Anschauung, d. i. Wahrnehmung« anzunehmen, wodurch dem Transzendentalsubjekt ein eigentümlicher Widerspruch appliziert wird: der einzige Fall, in dem ein Empirisches nicht als Objekt, nicht in Ansehung der Zeit wie alle Objekte, die dem Ich sonst erscheinen, bestimmt werde. Mithin beweise der Satz ‚Ich denke‘ »doch, daß schon Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört, diesem Existentialsatz zum Grunde liege«, diese unbestimmte empirische Anschauung, nichts anderes als das Empirische des eigenen Leibs, gehe »vor der Erfahrung vorher, die das Objekt der Wahrnehmung durch die Kategorie in Ansehung der Zeit bestimmen soll«.
Als wollte er Kants Einsicht, dass es diese unbestimmte empirische Anschauung des Leibhaften gibt, zum Ausdruck bringen, lässt Nietzsche das lyrische Ich ungehemmt aussprechen: »Doch alle Lust will Ewigkeit–«, aller Schmerz, könnte angefügt werden, ‚will‘ augenblicklich aufhören (es sei denn, er ist selbst ein Faktor der Lust). Und wie in einer ironischen Anspielung aufs Transzendentalsubjekt geht Freud davon aus, dass jedes Individuum unbewusst von seiner Unsterblichkeit überzeugt sei. Dieses Unbewusste wäre hier zunächst nicht psychoanalytisch zu betrachten, sondern allgemeiner, so ist es sogar an der Stelle bei Freud selbst intendiert: Die reine Identität der abstrakten Person, das ‚Ich bin Ich‘, das alle meine Gedanken muss begleiten können, muss im Unbewussten auch auf den Leib übertragen werden können – um das Bewusstsein selbst nicht zu zerstören.
Eben die Einheit von Geist und Körper in ihrer Trennung (die in der Trennung von Gender und Sex wiederkehrt) wäre darum als Kern des Gesellschaftlichen zu begreifen: das, worin ein Individuum mit anderen nicht eins sein, keine Gemeinschaft bilden kann, Bedingung der »ungeselligen Geselligkeit« (Kant).2 Die Gewissheit, dass ‚ich‘ es bin, der Lust und Schmerz empfindet, schließt einerseits die Gegenständlichkeit des eigenen Körpers, also auch dessen Vergänglichkeit »unbewusst« aus, womit es aber andererseits dasselbe Selbstbewusstsein gerade in der Furcht vor Schmerz wie im Verlangen nach lustvoller Befriedigung unabwendbar zu tun bekommt: Soweit sie nicht besänftigt oder gestillt sind, bleibt der eigene Körper auch Objekt, insofern er, bewusst und nicht unbewusst, als Objekt auf andere Objekte bezogen werden muss – diese ‚Objektivierung‘ oder (Selbst-)Verdinglichung ist Voraussetzung für die Möglichkeit, das bewusste Kalkulieren mit den Objekten, die zum Mittel werden (nicht aber den Schmerz oder die Lust selbst) wieder zu verdrängen ins Unbewusste, wodurch die Psychoanalyse erst ihren Gegenstand erhält; ist mithin Voraussetzung der Individuation. Auf diese Weise bewirken die Formen des Gesellschaftlichen, dass noch die spontanste Regung in den Wünschen und Strebungen oder sogar das Schmerzempfinden zugleich etwas im und durch das individuelle Bewusstsein hindurch Vermitteltes ist. Soweit es aber Herrschaftsformen sind, und sie sind es (worüber Dudens Butler-Kritik hinweggeht) vom Anfang aller Kultur an gewesen, ist das Objektwerden des eigenen Leibs immer auch: Selbsterniedrigung, was Kant allerdings mit seinem Pflichtbegriff geradezu affirmiert. Das heißt: das notwendig Verdinglichte, das allein ‚entdinglicht‘ werden kann in der Befreiung vom Schmerz und der Befriedigung des Triebs, wird wie selbstverständlich auch noch prinzipiell erniedrigt. Adorno und Horkheimer haben eben das in der Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet: »Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ‚corpus‘, unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat.« Es ist diese Erniedrigung, die bejaht wird, wenn Butler von »Materialität« spricht.
Einfalt des Signifikanten
Verleugnet wird im Gender Trouble demnach nicht nur der quälbare und tötbare Leib, sondern auch der libidinös besetzte, worin der sexuelle Trieb sich manifestiert. Damit sind all jene revolutionären Entdeckungen, für die Freud am meisten angefeindet wurde und wird, abgetan – etwa die der kindlichen Sexualität, die für Butler mit keinem Trieb, der immer zwischen Somatischem und Sozialem oszilliert, zu tun hat, sondern von außen, über Signifikanten, dem Kind eingeschrieben werde.3 Noch in den verstiegensten Resultaten des linguistic turn entspricht Butler dem mainstream der Medienwelt, in der die kindliche Sexualität genauso wie das Gewaltverhältnis in der Familie geleugnet wird.
Im Begriff des Triebs, jedenfalls wie ihn Freud verwendet, sind hingegen alle Voraussetzungen für einen offenen Begriff von Natur bereits vorhanden, denn er lässt in nuce offen, wie die »Objektwahl« im Subjekt ausfällt und ausfallen kann – ob heterosexuell, homosexuell oder bisexuell, ja dass es eine solche Eindeutigkeit überhaupt geben müsste in der Bestimmung des Geschlechts.4 Dieser offene Naturbegriff wurde fast allein von der Kritischen Theorie aufgenommen und entfaltet, er liegt der Dialektik der Aufklärung ebenso zugrunde wie etwa Adornos Interpretation von Georges Lyrik, die einer »Unnatur« huldige, aber im Namen der Natur: »Unnatur soll die vom Primat der Zeugung entstellte Vielheit des Triebes wieder herstellen«.5
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Der Text ist ein Auszug aus einem Vortrag, den Gerhard Scheit beim Internationalen Kolloquium »Gender im Gedächtnis« am 6. Mai 2015 an der ULB in Brüssel hielt.