Süddeutsche, 9.9.2010
Angriffe auf Zugbegleiter - vor allem in der 1. Klasse
Dass sie Zugbegleiterin werden würde, wusste Carmen Niedermaier schon, als sie noch zur Schule ging. Vor zwölf Wochen hat die 28-Jährige gekündigt. Neben Niedermaier steht Jonas Berg. Die Beschimpfungen, denen er sich Tag für Tag ausgesetzt sieht, machen auch ihn mürbe. In der 1. Klasse, so hat es Carmen Niedermaier erlebt, waren die verbalen Attacken oft am schlimmsten. »Da denken sie offenbar, mit der Fahrkarte kaufen sie gleich das Zugpersonal mit.« Ein Gast hat ihr mal ins Gesicht gespuckt. Im Disput zuvor hatte er sich als »Fernsehjournalist« zu erkennen gegeben. »Im Zug«, sagt Carmen Niedermaier, »hatte ich das Gefühl, funktionieren zu müssen«. Vor allem, wenn sie beschimpft wurde, weil sich der Zug verspätet hatte. In solchen Fällen legten »die Geschäftsleute in der 1. Klasse sämtliche Manieren beiseite«, berichtet sie, »die Angriffe sind unter jedem Niveau«. »Schlampe« war noch eine der freundlichen. Im ersten Halbjahr 2010 verging keine Woche, in der nicht Bahnmitarbeiter Opfer von Gewalt wurden - ein Zuwachs von 20 Prozent.
Tagesspiegel, 27.8.2010
In- und ausländische Unterschichten
Wahrscheinlich fände manche Akademikerfamilie an einem Vorschlag Sarrazins Geschmack: Das Kindergeld für alle wird gestrichen und durch eine akademische Fortpflanzungsprämie ersetzt: Frauen mit Hochschulabschluss bekommen für jedes Kind, das sie vor Abschluss des dreißigsten Lebensjahres zur Welt bringen, die schöne Summe von 50.000 Euro. Sarrazin hat nichts gegen Staatsknete, er will sie nur nicht politisch, sondern biologisch korrekt verteilen. [Vorabdrucke von Sarrazins Hetzschrift erschienen gleichzeitig in »Spiegel« und »Bild«].
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Völkischer Sozialrassismus als Kulturkampf
»Ich halte 10% Sterilisierungen in jeder Generation für durchaus nicht zuviel. Es würde zweifellos im Interesse unseres Vaterlandes liegen, wenn das untüchtige Drittel der Bevölkerung keine Nachkommen haben würde.« (Fritz Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 1932)
In der jüngeren Vergangenheit mehren sich die Erscheinungsformen eines aggressiven Sozialrassismus der deutschen Neobourgeoisie gegen die – von ihr durch Niedriglöhne und Hartz-IV selbst geschaffene – »Unterschicht«. Es sind vor allem die Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen (besonders FAZ und Süddeutsche) und des Spiegels, die Demagogen wie Paul Nolte, Gunnar Heinsohn, Arnulf Baring, Karl-Heinz Bohrer, Peter Sloterdijk oder Thilo Sarrazin viel Platz für ihre sozialdarwinistischen »Manifeste« einräumen.
Zu den Diskurs-Bausteinen der neuen »Bürgerlichkeit« gehört die Polemik gegen die »schleichende Sozialdemokratisierung des Parteien-Systems« und gegen den »Steuerstaat«, der die »Leistungsträger« ausbeute und diese Finanzmittel an unproduktive und parasitäre (migrantische wie eingeborene) Transferzahlungs-Empfänger umverteile. »Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben.« (Sloterdijk in der FAZ). Die FDP hat mit dieser Demagogie bei der letzten Bundestagswahl fast 15 Prozent gewonnen.
Die Verachtung für die »schmarotzenden Klassen«, insbesondere für Hartz IV-Bezieher und ihre »Transferbabys«, ist der Kern einer Herrenmenschenprosa, die ganz unverhohlen die während der Finanzkrise versenkten Milliarden durch weitere Verarmung der Armen reinholen will (»Sparpaket«) und neben Umerziehungsprogrammen (»Aktivierung« von ALG II-Beziehern, fristlose Entlassungen wegen »Diebstahls«) »eugenische« und »rassenhygienische« Maßnahmen gegen den minderbemittelten Pöbel fordert. Ein ähnlicher biologistischer Diskurs bereitete einst die Zwangssterilisierungen vor (s.a. die Seite zum KH Elim).
Dieser Rückfall der bürgerlichen Distinktion in die pure Unterdrückung und das tiefe Verlangen nach einer Reorganisation des »wiedervereinten deutschen Volkes« zur hundertprozentigen »Rasse«, hat die Gestalt eines Kulturkampfes »von oben« angenommen, einer Propaganda der Ungleichheit, die sich nicht mehr in den sonst üblichen Konsumgestützten Distinktionsbemühungen erschöpft, sondern mehr oder weniger militante Formen annimmt, die von Sarrazins Hetze bis zu der Hamburger Bürgerbewegung reichen, die gegen die Verlängerung des gemeinsamen Schulbesuchs von Kindern aus heterogenen Milieus mobilisierte.
»Rückbesinnung auf christlich-abendländische Werte«
In der bürgerlichen Gesellschaft kursieren verschiedene Erklärungen für die bestehenden Status- und Einkommenshierarchien. Bevorzugt wurde in den letzten Jahrzehnten der Hinweis auf überragende eigene Leistungen. Obwohl das selten besonders überzeugend ist, ist diese Form der Legitimation immerhin besser als der Aberglaube, »Gott« sei der große gesellschaftliche Platzanweiser. An die Stelle von »Gott« tritt bei den völkischen Eugenikern die Auslese »gesunder« und »hochwertiger« Erbanlagen. Von daher scheint es nicht ganz zu passen, dass der neue sozialdarwinistische Eliten-Diskus von einer Renaissance des Religiösen begleitet wird. Doch in diesem Fall werden alle Register gleichzeitig gezogen.
Der neue völkische Sozialrassismus ist häufig religiös grundiert, und in dieser Variante reicht er inzwischen bis in die Vorstandsetagen großer DAX-Unternehmen, wo es nicht mehr unüblich ist, nach Verlesung des Geschäftsberichts »Gott« für seine Hilfe zu danken. Auch in der Bankenstadt Frankfurt »registriert man viele erwachsene Taufbewerber, nicht wenige aus dem Bankenumfeld. Die Kirchen denken darüber nach, in der Mittagspause Messen zu feiern« (FAZ, 7.8.10). In Stuttgart wurde soeben von katholischen und evangelischen Pastorenmanagern die Aktiengesellschaft »Kirche und Wirtschaft« (Kiwi-AG) gegründet, eine Unternehmensberatung, bei der die Vermittlung »christlicher Werte« besondere Berücksichtigung findet. Unter Anleitung von Pastoralreferenten und Geschäftsführern »gemeinnütziger« Kapitalgesellschaften, buchen dort komplette Führungsriegen Frankfurter Bankhäuser Seminare, wo in Anlehnung an die bei klerikalen Unternehmen üblichen »Unsere Werte verbinden«-Sprechblasen, neue Unternehmensleitbilder entworfen werden. Dieser Trend prägt längst auch den Nachwuchs: In den Schulen der »besseren Viertel« sind Jugendliche, die nicht zur Konfirmation gehen, bereits seit einigen Jahren in der absoluten Minderheit.
Zur Renaissance des Religiösen gehört auch, dass man hin und her gerissen ist zwischen Islamneid und Islamverachtung. Man beneidet den Islam als Ordnungsfaktor und als eine ideologische Macht, die Unterwerfung als »antidekadenten« Tugendterror durchsetzt. Aus der Re-Islamisierung migrantischer Milieus macht man vor allem ein Argument für die Re-Christianisierung des öffentlichen Lebens: »Muslimische Schüler erwarten von ihren christlichen Klassenkameraden eine christliche Erkennbarkeit« (Tebartz-van Elst, Bischof von Limburg). Als es kürzlich auf dem Deutschen Juristentag um die Einführung einer staatlich sanktionierten Islam-Lehre an deutschen Schulen ging, gab es 115 Ja-Stimmen und zwei Ablehnungen. Die Debatte war nicht zuletzt von der Erwartung bestimmt, dass sich dadurch der missionarische christliche Religionsunterricht und die Kruzifixe an staatlichen Schulen noch besser rechtfertigen lassen. Selbst die FAZ wunderte sich: »Freunde der Laizität gibt es hier kaum – nur eine Handvoll Teilnehmer sträubt sich gegen religiöse Symbole in der Schule.«
Auch bei dem rechten Antiislamismus von Sarrazin & Co. geht es weder um Religionskritik noch um die Lage muslimischer Frauen. Es geht allein um »Überfremdung«, und an diesem Punkt schlägt der Islamneid der »Eliten« wieder um: Man hat nichts gegen islamische Regimes und den Beitrag des Islam zur Selbstethnisierung der Migranten, aber es muss klar bleiben, wer hier über die »Leitkultur« bestimmt und dass bei der Verwaltung der »Unterschichten« auf die Herstellung einer völkischen Hierarchie geachtet wird.
Der Kulturklassenkampf von oben zeigt Wirkung auch bei denen, gegen die er sich richtet. Dass die »Vererbung der Intelligenz« Ursache von Ungleichheit ist, leuchtet auch manchem Leser der Boulevard-Zeitung ein, die das täglich propagiert. Außerdem gibt es etwas weiter »unten« immer noch einige, gegen die man sich abgrenzen kann, nicht zuletzt weil der Sozialrassismus stets auch ein völkisches Angebot enthält: Die autochthone »Unterschicht« steht über der migrantischen.
Fasziniert verfolgen viele Subalterne auch die medial inszenierten Lebenswelten der Celebrities der selbsternannten »Eliten«. Besonders wenn sie »adliger Herkunft« sind wie Karl-Theodor zu Guttenberg, Florian Henckel von Donnersmarck und andere Lieblinge von FAZ und Bild. Mit einem Titel wie Otto Friedrich Wilhelm von der Wenge Graf Lambsdorff war in den 1980 und 1990er Jahren noch keine besondere Aura aus verbunden. Heute wird das »Ehepaar zu Guttenberg« fast jeden Tag auf den Titelseiten gefeatured: Adelstitel fördern den Glauben an die genetische Überlegenheit des Mobs, der sich »Elite« nennt.