Der Dozent traf Groll vor dem Sozialministerium an der Wiener Ringstraße. Groll saß hinter einem Campingtisch und vor einem selbstgemalten Transparent, das an eine Litfaßsäule geklebt war.
Auf dem Transparent war zu lesen: »Hoppauf, Herr Sozialminister! Weiter so, Herr Wohnungsstadtrat! Nieder mit den Schwachen! Ich baue auf Ihnen!«
Auf dem Tisch hatte Groll zwei kleine Fahnen, die österreichische und die europäische, befestigt. Die Flagge der EU wehte auf Halbmast, jene Österreichs lag am Boden. Auf der anderen Seite der Ringstraße tummelten sich einige Menschen mit Kameras, Mikrophonen und gezückten Notizblöcken.
»Geschätzter Groll, fühlen Sie sich wohl?« fragte der Dozent und reichte Groll die Hand zum Gruß.
»Ich habe mich nie besser gefühlt.«
»Sie meinen, der Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeiten wirkt sich anregend auf die Psyche aus?«
»Was heißt Widerstand? Ich habe eine Wette mit einem behinderten Freund laufen. Dieser Sozialminister ist unser Tod, habe ich gewettet, während mein Freund sich auf die beschwichtigenden Nuschelworte des Herrn Hundstorfer verließ.«
»Als er landauf, landab verkündete, das Pflegegeld werde nicht angetastet«, warf der Dozent ein.
Groll nickte. »Für eine Kiste »Ried Alte Bergen« vom Weingut Fegerl aus Deinzendorf bei Retz bin ich zu jeder Untat fähig.«
»Der fürchterliche grammatikalische Lapsus?« fragte der Dozent weiter.
»Ein Zugeständnis an das Pülcher-Idiom des Sozialministers«, bemerkte Groll kühl.
»Und die Menschenansammlung auf der anderen Straßenseite?«
Groll winkte den Personen zu, freudig erwiderten sie den Gruß. »Meine Freunde von der Internationalen Presse«, erklärte er. »Der Donaukorrespondent von Reuters, ein Mitarbeiter der zypriotischen »Cyprus Weekly«, der Wiener Korrespondent des Linzer Magazins »Versorgerin« sowie die Korrespondentinnen des »New York Wheeling Courier« und des in Irkutsk am Baikalsee erscheinenden Pornomagazins »Spermafrost«. Ihre Anwesenheit verhindert, daß ich von den Schergen der Antiterroreinheit abgeschoben, stranguliert und füsiliert – mit einem Wort: amtsbehandelt werde.«
»Was haben Sie als Behindertenrentner schon zu befürchten?« Der Dozent zog seinen Notizblock aus der Nappalederjacke.
»Mehr als Sie denken«, erwiderte Groll. »Die Palette reicht von der Zwangseinweisung in eine Hochsicherheitsanstalt für politisch wache Staatsbürger, dem Verlust von Kinder-, Überschwemmungs- und Begräbnisbeihilfe über die Verleihung des Goldenen Rathausmannes mit dem braunen Blechherz bis zur Abschiebung in ein unsicheres Drittland, Hietzing, zum Beispiel.«
Der Dozent verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie müssen mir nicht immer meine Herkunft unter die Nase halten!«
»Eine schlechte Angewohnheit, ich weiß es und ersuche Sie nicht um Entschuldigung, aber doch um Verständnis«, sagte Groll und senkte den Kopf. Als er ihn wieder hob, setzte er entschuldigend hinzu. »Seit der Budgetsanierung auf dem Buckel der Gebeugten mußte ich Unmengen von innenpolitischen Artikeln und Presseaussendungen lesen. Da verdorrt nicht nur der Verstand, es verrohen auch die Sitten und schließlich verblaßt auch noch der letzte Rest von menschlicher Zuwendung. Hier!« Groll griff nach einem Artikel. »Da verliert eine sechsköpfige Familie mit Migrationshintergrund ihre Gemeindewohnung, weil Nachbarn sich vom autistischen Sohn gestört der Familie gestört fühlen. Der Jugendliche arbeitet tagsüber in einer Lehrwerkstätte, abends aber soll er zweimal gegen Wände gehämmert und einmal dazu geschrien haben. Ein derartiges Verhalten kann in einem Wiener Gemeindebau nicht geduldet werden. In Wiener Gemeindebauten lebt man mit sich und der Welt im reinen, man trinkt nicht, ist den strengsorgenden Behörden in keiner Weise auffällig oder Bürgern anderer Kultur gegenüber ausfällig, im Wiener Gemeindebau ist man tolerant, weltoffen und nimmt sich mit Liebe und Geduld der Schwächsten an.«
Der Dozent griff nach dem Artikel, Groll fuhr fort:
»Der Vater des Buben arbeitet auf dem Bau, seine Frau und er weigern sich, das autistische Kind in ein Heim abzuschieben. Wie die Wohnversorgung der zur Delogierung anstehenden Familie zukünftig aussieht, steht in den Sternen. Eine andere Gemeindebauwohnung werde es für sie jedenfalls nicht geben, sagt der Sprecher des Wohnbaustadtrats Ludwig. Und dann sagt dieser Mann mit dem schönen Wiener Namen Hanno Csisinko den ungeheuerlichsten Satz des neuen Jahrtausends, einen Satz, der das unwiderrufliche Ende des sozialdemokratischen Zeitalters markiert, er sagt: »Es gibt noch andere Möglichkeiten als den Gemeindebau – wir sind nicht das Sammelbecken der sozial Schwächsten«. Ich wiederhole: Herr Csisinko, Sprecher des Wohnbaustadtrats und Vizebürgermeisters Doktor Ludwig, sagt zur Familie eines aus der Türkei stammenden Arbeiters, der sich weigert, seinen behinderten Sohn in ein Heim abzuschieben: »Wir sind nicht das Sammelbecken der sozial Schwächsten«.
Zwei Generationen zuvor wurden aus der Luxussteuer der Reichen die Wiener Gemeindebauten für die sozial Schwächsten unter den Arbeitern erbaut, eben diese Sammelbecken der Geschundenen und Beladenen waren der Stolz des Roten Wien, eine Errungenschaft, deren sich die Stadt bei Festbanketten für »Licht ins Dunkel« jedes Jahr aufs neue rühmt.
»Es mußte ein sozialdemokratischer Sprecher der lichten Gegenwart kommen, um diesen monströsen Satz abzusondern«, sagte der Dozent, dessen Stimme vor Zorn heiser war.
»Der Sprecher des Wohnbaustadtrats spricht, wie jede autoritäre Person, nicht für sich oder seinen Chef, er spricht im Namen eines großen volksgemeinschaftlichen WIR, er spricht im Namen des »Gemeindebaus«, Herr Csisinko IST der Gemeindebau«, ergänzte Groll.
Der Dozent hockte sich auf die Fersen, um mit Groll auf Augenhöhe zu sein. »Da wundere ich mich, daß die blauen Reiter mit den geistigen Schnürstiefeln bei den jüngsten Wahlen in den Gemeindebauten sich nicht zu einer erdrückenden Mehrheit aufschwangen, und die entsetzliche Antwort steigt so klar vor mir empor wie der Karl-Marx-Hof aus den Nebeln der Geschichte, daß nämlich es längst egal ist, ob die blauen Reiter oder die schrecklichen Sprecher und kaltschnäuzigen Stadträte in dieser Welthauptstadt der Musik den häßlichen Ton angeben.«
Dafür gebe es einen Grund, erwiderte Groll. »Der soziale Herr Minister kommt ebenfalls aus diesem Wiener Milieu der Hervorragenden und Mitfühlenden, heiter, rundlich und gelassen legt er sich mit den Mächtigen des Landes ins Bett und saniert hurtig drauf los, streicht alten und abgerackerten Frauen das Pflegegeld, hebt den Kündigungsschutz für behinderte Arbeitnehmer, diese Schmarotzer am Leib des Arbeitsmarkts, auf, und verschiebt, EU-Richtlinie her und UN-Menschenrechtskonvention hin*) die Barrierefreiheit auf den Sankt Nimmerleinstag. Damit nicht genug: Wie erst nach und nach durchsickert, nimmt er behinderten Autofahrern auch den Ersatz der Normverbrauchsabgabe und streicht den Mobilitätszuschuß zur Gänze. Fünf massive Verschlechterungen bei den behinderten Menschen, die keine Lobby haben. In weiser Voraussicht verzichtet die SPÖ seit Jahren auf betroffene Behindertensprecher im Parlament.
Behinderte Menschen, das zeigt die Partei in einer an Haß gemahnenden Brutalität, haben in dieser SPÖ nichts verloren und von ihr nichts zu erwarten.«
»Herr Hundstorfer wird von seinem ebenfalls aus gutem Wiener Geläuf stammenden ehemaligen Wohnbaustadtrat, der jetzt den Kanzler gibt, angefeuert«, sagte der Dozent und fügte hinzu »Und ein schwammig-eloquenter Plauderer aus dem Weinviertel, der sich am Dampf seiner finanzministerischen Füllworte berauscht, assistiert ihm dabei.«
Groll zog einen weiteren Artikel hervor. »Finanzstaatssekretär Schieder gibt an, es sei bei dem Sparpaket darum gegangen, den Finanzmärkten einen, wie er es ausdrückt, »glaubwürdigen Konsolidierungspfad« zu präsentieren. Das sind die sozialdemokratischen Lichtfiguren von heute: Kaum vermögen sie ihre flachen Gedanken in Worte zu fassen, aber die Unterwerfung unter das Diktat der Finanzmärkte geht ihnen leicht von der Hand, da wachsen sie mit jeder Faser ihrer sozialdemokratischen Identität über sich hinaus.«
»Die Hoffnung auf ein warmes Plätzchen am Gesindetisch der Mächtigen erwärmt selbst jene, bei denen schon lange keine Glut mehr brennt«, bemerkte der Dozent.
Leise sagte Groll: »Es scheint, eine neue, große Zeit hat begonnen.«
»Ihre Trommler sind nicht wie im Ersten Weltkrieg Generäle und Kirchenfürsten, sondern empathische Wohnbaustadträte, beflissene Diener der Finanzmärkte, nuschelnde Sprecher der sozialen Niedertracht und vor Eitelkeit schwitzende Minister der sozialen Herzensbildung.«
Er hätte es nicht besser sagen können, sagte Groll, strich die Flaggen und winkte die Korrespondenten zu sich.