Nachdem das »Dritte Reich« fakten- und bekenntnisgesättigt aufgearbeitet, die Schuld eingestanden und die Buße abgeleistet worden war – spätestens seit Mitte der neunziger Jahre –, konnte der Nationalsozialismus in Deutschland zum diskursiven Bolzgelände wissenschaftlich und künstlerisch ambitionierter Borderliner werden, die ihre unverdauten Wissens-brocken und frei flottierenden Projektionen munter auf das »dunkelste Kapitel unserer Geschichte« losließen. Einen privilegierten Platz unter ihnen nimmt der Typus des hauptberuflichen Hobbyhistorikers ein. Die Unfähigkeit zu triftiger Begründung seiner Thesen wird ihm als literarische Begabung gutgeschrieben, seine Neigung zum abgeschmackt Anekdo-tischen als Fähigkeit zur Konkretion. Berufshistoriker begegnen Vertretern dieser Spezies meist mit höflicher Ablehnung, ignorieren können sie sie aber nicht, weil sie dank Guido Knopp zu massenmedialen Diskursleit-hammeln geworden sind. Dass die neue Studie des in Yale lehrenden Holocaust-Forschers Timothy Snyder, die auf Deutsch »Black Earth – Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann« heißt, hierzulande auf dem Cover mit dem Satz »Der Holocaust begann an einem dunklen Ort: in Hitlers Kopf« beworben wird, verdeutlicht den Siegeszug dieser Klientel.
Als büttenredenreifer Witz auf die Zeitgeschichte erscheint auch die Studie »Der totale Rausch«, in der der Journalist und Schriftsteller Norman Ohler die »Drogenrealität« im »Dritten Reich« darstellen will. Ohler ist Absolvent der Hamburger Journalistenschule, hat 1995 mit seinem Buch »Die Quotenmaschine« den ersten Internet-Roman überhaupt ins Netz gestellt und als Drehbuchautor für Wim Wenders gearbeitet. Außerdem war er (es gibt nichts, was es nicht gibt) 2004 Stadtschreiber von Ramallah. Ein Multifunktionsabenteurer also, wie die deutsche Öffentlichkeit ihn liebt. Durch Recherchen in unpublizierten Briefen, Arztprotokollen und Tagebüchern, insbesondere von Hitlers Leibarzt Theodor Morell, glaubt Ohler belegen zu können, dass fast die gesamte NS-Führungsclique spätestens seit 1940 unter Drogen stand. Anders hätten sie das mit dem Holocaust gar nicht hinbekommen: Die Soldaten der Wehrmacht wurden demnach regelmäßig mit Pervitin versorgt – einem Wirkstoffbestandteil des heutigen Crystal Meth –, Hitler war süchtig nach dem Opioid Eukodal, Morell spritzte ihm außerdem Hormonpräparate, von dem HNO-Arzt Erwin Giesing erhielt er Speed und (in Form von »Nasen- und Rachenpinselungen«) Kokain. Außerdem war nahezu der ganze Volkskörper dank massenwirksamer Plakatkampagnen von morgens bis abends auf Amphetamin; der schlimmste Dopingskandal der deutschen Geschichte sozusagen.
Die Einwände gegen dieses Szenario liegen so nahe, dass man sie sich kaum zu formulieren traut. Zum einen bedient sich Ohler heutiger Klischees über die Gefahren synthetischer Drogen (Chrystal Meth, kennt man ja aus »Tatort«!) und stilisiert die nationalsozialistischen Massenversammlungen gleichsam zur Urform des Ecstasy-Rave. Im Gegenzug verharmlost er aber auch die Psychopathologie der deutschen Volksgemeinschaft, die noch nie bewusstseinserweiternde Substanzen nötig hatte, um auszuticken. Durch ihr Flüchtlingsdelirium stellen die Deutschen gerade wieder eindrucksvoll unter Beweis, dass es ihnen auch clean gelingt, zu lynchwütigen Mobbürgern oder umarmungssüchtigen Kuscheltierbanden zu mutieren. Schließlich, und das passt gut zu jener Psychopathologie, kommt Ohlers Buch so effekthascherisch daher, dass schon allein der Stil gegen den Inhalt spricht. Sein Vorwort nennt er »Packungsbeilage«, Amphetamin eine »Volksdroge«, den NS-Blitzkrieg »Amphetaminkrieg«, einzelne Kapitel übertitelt er mit »Sieg High« und »High Hitler« – um sowas lustig zu finden, muss man nicht auf Speed, sondern derart runtergekifft sein, dass keine historische Urteilskraft sich mehr regt.
Trotz aller unschönen Eigenschaften von Ohlers Buch gibt es aber auch Indizien, die für den Autor sprechen. Zum einen ist die Studie mit einem – wenn auch fast kränkend knappen – Nachwort des jüngst verstorbenen Historikers Hans Mommsen versehen, und der hat, was auch immer sich gegen ihn einwenden lässt, eigentlich niemals Vollpfosten angepriesen. Zum anderen liefert Ohlers Buch, sofern von der skandalheischenden Rhetorik abstrahiert wird, durchaus instruktives Material für eine politische Geschichte der Rauschmittel, die vielen im linken wie im bürgerlichen Milieu verbreiteten Annahmen widerspricht. Eine solche Abstraktion verlangt dem Leser jedoch einiges ab, tönt doch durch fast jeden Satz Ohlers die Absicht, das NS-System als verkommene Dealer-Organisation vorzuführen. Mit Blick auf Pervitin, das im »Dritten Reich« frei verkäuflich war und erst 1939 unter Rezeptpflicht gestellt wurde, heißt es: »Der Nationalsozialismus war toxisch, im wahrsten Sinn des Wortes. Er hat der Welt ein chemisches Erbe bereitet, das nicht mehr so schnell verschwinden wird. Obwohl sich die Nazis als Saubermänner gaben, mit propagandistischem Pomp und drakonischen Strafen eine (…) strikte Antidrogenpolitik umsetzten, wurde unter Hitler eine besonders potente, besonders süchtig machende, besonders perfide Substanz zum populären Produkt.«
Dass synthetische Drogen anders als Marihuana, Zigaretten oder der von Hitler verabscheute Alkohol dem Gestus der Sauberkeit nicht widersprechen, schon allein deshalb nicht, weil ihre Konsumenten eher zu megalomanischen Ego-Shootern als zu benebelten Labertaschen zu regredieren pflegen, wird übergangen. Dabei finden sich in Ohlers Buch selbst präzise Hinweise auf die unterschiedlichen, ja konträren psychischen und politischen Bedeutungen verschiedener Drogen in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen. In einem Abschnitt über »Antidrogenpolitik als antisemitische Politik« illustriert er anhand zahlreicher Quellen, dass die NS-Propaganda sowohl unterstellte, der »jüdische Charakter« sei »per se drogenabhängig«, wie auch den Juden »eine herausragende Stellung« im »internationalen Drogenhandel« attestierte. Dass der Verdacht von Drogenhandel und Drogensucht hier der Diffamierung einer für überreizt, nervös und dekadent erachteten Zivilisation dient, fällt auch Ohler auf. Während der »intellektuelle Großstadtjude« in den Augen der Antisemiten seine »aufgeregten Nerven« durch Kokain beruhigte, wurde den Deutschen eine homöopathische Volkskörperentgiftung empfohlen: »Seit Jahrzehnten war unserem Volk von marxistisch-jüdischer Seite eingeredet worden: ‚Dein Körper gehört dir.‘ Das wurde dahin verstanden, daß in Geselligkeiten der Männer untereinander oder zwischen Männern und Frauen jegliche Alkoholmengen genossen werden durften, selbst auf Kosten der Gesundheit des Körpers. Gegen diese marxistisch-jüdische Auffassung steht unvereinbar die germanisch-deutsche, daß wir Träger des ewigen Erbgutes der Ahnen sind«, heißt es in »Magische Gifte«, einem 1938 erschienenen völkischen »Standardwerk« über Rauschmittel.
Seine Skandaldramaturgie bezieht Ohlers Buch aus dem Widerspruch zwischen der Propaganda von Blutreinheit und Volksgesundheit und der reichhaltig dokumentierten Verwendung synthetischer Drogen durch führende Nationalsozialisten. Die Diagnose dieses Widerspruchs klingt bei Ohler jedoch eher wie ein Vorwurf der Inkonsequenz: Wenn die Nazis gegen die Vergiftung durch Urbanitäts- und Zivilisationsdrogen wetterten, hätten sie, statt zu koksen, Wasserpfeife paffen, Mohn essen oder Gras rauchen müssen. An dieser Diagnose orientiert sich Ohlers gesamte Materialaus-wahl, immer nach dem Motto: Sie waren ja selbst nicht besser. Da avanciert der deutsche Militärgeheimdienst zum »Drogenumschlagplatz«, die Wehr-macht verfügte über »Dealer«, und weil er von Morell und Giesing Aufputschmittel erhielt, wird der Führer mit dem Naserümpfen des guten Steuerzahlers als Heuchler an den Pranger gestellt: »Nach außen hin den Entsagenden bei der ununterbrochenen Arbeit für das Schicksal Deutsch-lands mimend, gönnte sich Herr Hitler im komfortlosen, fensterlosen Beton-loch des Führerhauptquartiers den Luxus des Eukodals.« Außerdem lässt Ohler seine Leser wissen, dass »Hitlers Hand beim Apfelteetrinken so sehr zitterte, dass Tasse auf Untertasse klapperte, was alle peinlich berührte«, und dass »das aggressive Sexualverhalten Eva Brauns« sich in »Blessuren« an Hitlers Körper manifestierte, während sie ihre eigenen »Lippen mit den Zähnen zu malträtieren« pflegte, »bis sie bluteten«: Eine Bande von Kreis-laufgestörten, Sexmaniacs und Autoaggressiven sind sie gewesen, diese Nazis, aber nach außen hin gaben sie sich harmlos-seriös wie Christian Wulff.
Zwischendurch schreibt Ohler in sein Buch auch Sätze wie: »Krankheiten, Medikamente und Massenmord bestimmten in dieser ersten Jahreshälfte 1944 den Alltag auf dem Berghof«, oder: »Tatsächlich war Hitlers Laune am D-Day (…) starken Schwankungen unterworfen«, für die der Verfasser die Goldene Himbeere in der Kategorie Wissenschaftsprosa verdient hätte. Der Führer selbst wäre eigentlich auch als WG-Mitbewohner von Tocotronic geeignet gewesen: »Hitler sprach auf so gut wie jede Droge mit der Ausnahme des Alkohols unmittelbar an. Er war nicht von einer speziellen Substanz abhängig, sondern schlechthin von Stoffen, die ihm wohltuende, künstliche Realitäten zugänglich machten.« Die Sehnsucht nach wohltuenden, künstlichen Realitäten scheint es demnach gewesen zu sein, die aus dem fünftklassigen Landhausmaler den dämonischen Völkermörder gemacht hat: Mit solchen Insinuationen verlässt Ohler vollends die Sphäre historischer Forschung, um sich als phantasie- und lustfeindlicher Kleinbürger erkennen zu geben, der allen, die schon immer wussten, dass die Suche nach künstlichen Paradiesen die Menschen größenwahnsinnig, verrückt und gemeingefährlich macht, empirische Beweise liefert.
Wer dem nachgehen will, worin Ohlers Buch über solche Botschaften hinausweist, kann sich an Mommsens Nachwort halten, in dem die Bedeutung der synthetischen Drogen für die NS-Führungsclique als Symptom für einen »Prozess der Selbstausschaltung« verstanden wird, der in einer Art suizidalem Exzess alle anderen mit sich in die Vernichtung reißt. Neben diesem Aspekt, der die Affinität des Nationalsozialismus zum Selbstmordattentat hervorhebt, wäre auch die Kompatibilität synthetischer Drogen mit einer sportlich-militärischen Selbstertüchtigungspraxis näherer Betrachtung wert. Insgesamt lässt Ohlers Buch es dringlich erscheinen, die gegensätzlichen lebenspraktischen und ideologischen Implikationen verschiedener Drogen wie Alkohol, Marihuana und Kokain in den Blick zu nehmen, bevor man sie als Wege in eine irgendwie höhere, irgendwie bessere Wirklichkeit glorifiziert. Zu dieser Frage lässt sich aber bei Walter Benjamin, Charles Baudelaire oder Wolfgang Schievelbusch Erhellenderes finden als in Ohlers Geschichtskolportage.