Psychiatriekritik und Theoriearmut

Elisabeth Übelmann stellt den Sammelband »Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie« vor.

Seit einigen Jahren erfährt die Kritik an Psychologie und Psychiatrie, die zeitweilig in den Hintergrund trat, wieder etwas Aufwind; Tagungen und Salons werden organisiert, Zeitschriftenprojekte reaktiviert. Da ist es nur konsequent, dass auch ein Sammelband zu diesem Thema erscheint. So geschehen im Frühjahr 2015 mit dem prägnant beginnenden und dann etwas dröge auslaufenden Titel Gegendiagnose – Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie. Die Herausgeber gestehen sich bereits in der Einleitung ein, dass sie »über eine ähnliche Stoßrichtung der institutionellen und disziplinären Kritik hinaus, inhaltlich keine gemeinsame programmatische Linie vertreten«. Vielleicht war es das eigentliche Ziel der Herausgeber, eine Art Parteiprogramm zu verfassen, notwendig ist dies sicher nicht für ein gutes Buch. Die Selbstkritik der Herausgeber trifft jedoch einen relevanten Punkt, insofern sie einräumen, dass »die gewählten Ansätze und politischen Konsequenzen der Beiträge teils im Widerspruch zueinander stehen«. Dann verlässt sie aber die Courage, denn statt »zumindest« in der Einleitung die bestehenden Widersprüche auszuführen, gegeneinander zu setzen und zu diskutieren, verkaufen sie diesen Pluralismus als »Stand der derzeitigen linksradikalen antipsychiatrischen Theoriebildung«, über den sie sich selber nicht hinaus wagen wollen, und überlassen es dem Leser oder in diesem Fall der Rezensentin, sich selbst wahlweise die Trüffel herauszupicken oder die Gegenüberstellung zu denken.

Dass gesellschaftliche Verhältnisse nicht ausgeblendet werden dürfen, wenn es um psychische Erkrankungen geht, ist ebenso banal wie notwendig ins Gedächtnis zu rufen. Psychiatrie und Psychologie sind seit jeher ein Teil des Systems und erfüllen darin ihre Aufgabe, die Einzelnen wieder »fit2work«, wie sich eine entsprechende österreichweite Beratungsstelle bei gesundheitlichen Problemen am Arbeitsplatz nennt, zu machen. Sohvi Nurikurinens und Lukaš Lulus erläutern unter diesen Gesichtspunkten die Diagnose Depression, die Leerstellen der medizinisch-organischen und verhaltenstherapeutischen Deutung dieses Störungsbildes und ergänzen diese um die Reflexion über den Zusammenhang von Gesundheit und durch Arbeit ermöglichte »Teilhabe an der Gesellschaft«. Die Depression drängt sich ja gerade auf, wenn es um die Versinnbildlichung gesellschaftlicher Schädigungen am Einzelnen geht. So steht sie in einschlägig kritischer Literatur häufig als Sinnbild der durch die kapitalistische Verwertung völligen Entfremdung des Einzelnen von sich selbst. Wohl auch deshalb wird im weniger kritischen Teil der Psychocommunity lieber über das Burnout-Syndrom als über Depression gesprochen, da dieses doch die prinzipielle Leistungsbereitschaft in den Mittelpunkt stellt.

Etwa 250 Seiten weiter geblättert, findet sich der Beitrag von Lars Distelhorst Kein Ausgang. Zum komplementären Verhältnis von Diagnose und Inklusion: Darin stellt er dar, warum die Ausweitung der Diagnosen, wie in der Neuauflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V, die Diagnosebibel für Praktiker) geschehen, nicht im Widerspruch zum Konzept der Inklusion steht. So gehe es heute in der Diskussion um Normierung, anders als es Foucault fasste, um ein Kontinuum zwischen Krankheit und Gesundheit (das Normale), wodurch sich »der Bereich des Anormalen, potentiell Kranken und bereits Gestörten auf alle Menschen ausdehnt«. Auch wenn, wie Distelhorst erwähnt, bereits bei Freud und der Psychoanalyse die Kontinuumsannahme eine Rolle in der Konzeption von Krankheit spielte, sind es vor allem Anti- und Sozialpsychiatrie, die dieses Konzept hegemonial machten. Dass heutige Kritik an der Psychiatrie nicht ohne einen Blick auf die Errungenschaften der Sozialpsychiatrie ausfallen kann, macht auch Stephan Weigand in seinem Aufsatz deutlich. Die großen Verwahrungsanstalten für psychisch Kranke sind vielfach gemeindenahen Betreuungskonzepten gewichen. Weigands antipsychiatischer Übereifer bringt zwar wichtige Kritikpunkte an dieser Veränderung vor – wie an der Simulation des »normalen« Arbeitslebens durch betreutes Wohnen und Beschäftigungsprojekte, die schon zur Heilung beitragen soll, sowie am halbherzigen Einbezug von ehemaligen Psychiatriepatienten als schlechtbezahlten Peer-Beratern. Seine Enttäuschung über die verschwundene Psychiatriekritik durch sozialpsychiatrische Einflüsse versperrt ihm aber letztlich eine treffende Analyse der aktuellen Verhältnisse: Die heutige psychiatrische Versorgungslandschaft ist vielerorts gekennzeichnet durch eine Mischung aus anti-, sozial- und klassisch psychiatrischen Konzepten. In Wohn- und Betreuungsprojekten für psychisch Erkrankte wird häufig mit einer aus der Psychiatriekritik und der humanistischen Psychologie kommenden annehmenden und anerkennenden Haltung gearbeitet unter der Voraussetzung, dass das zur Verfügungstellen von Freiräumen und die Akzeptanz der Erkrankung zur Bewältigung dieser verhilft. Probleme entstehen dann, wenn der Erkrankte sich nicht dankbar und anpassend zeigt, sondern weiterhin eine Gefahr für sich oder andere darstellt. Gegen aggressives oder sexuell übergriffiges Verhalten gibt es kaum andere Handhabe als die Polizei zu benachrichtigen, was nicht selten zur Zwangseinweisung führt. Die fehlenden Konzepte zu Aggression und Sexualität paaren sich mit dem inkludierenden, gesellschaftlichen Anspruch der Verwertbarkeit. Übrig bleiben weiterhin die Menschen für die das Angebot des selbstständigen Lebens eine zu große Herausforderung bedeutet.

Ein Beitrag zu den Leerstellen der Psychiatriekritik wäre anknüpfend an Kevin Dudeks Analyse über antisemitische und shoahrelativierende Argumentationsmuster in der Antipsychiatrie wünschenswert gewesen. Doch das ist nicht das einzige Fehlende in dem Sammelband. Denn die wohl auffälligste Lücke ist die Abwesenheit der Schizophrenie, quasi der psychischen Erkrankung schlechthin. So werden zwar Diagnosen wie Sucht, Trauma oder eben Depression besprochen, über die Schizophrenie in all ihren Ausprägungen findet sich dagegen nichts. Das hat sicherlich viele Gründe: Zum einen steht Schizophrenie noch immer für Vieles und Nichts und die Auseinandersetzung in der Mainstreampsychiatrie beschränkt sich weitesgehend auf psychopharmakologische Ansätze gepaart mit ergotherapeutischer Beschäftigungstherapie. Für linke Theorie dagegen ist sie nicht so zugänglich wie alles Neurotische, das viel plausibler und augenscheinlicher mit der Gesellschaft ins Verhältnis gesetzt werden kann. Der Schizophrene entzieht sich ihr bereits früh und weitgehend. So wird die Schizophrenie in diesem Sammelband auch nur an poststrukturalistischer Theorie orientiert als radikal Anderes gesetzt, (inner)psychische Aspekte dagegen werden ausgespart.
Eine solche Theoriearmut, wenn es um Psychologie geht, findet sich in allen Beiträgen. Lediglich an zwei Stellen taucht eine Annäherung an psychische Prozesse auf. Daniel Sanin schreibt in seinem Beitrag über die Diagnose »Abhängigkeitssyndrom«, mit Bezug auf Klaus Holzkamp: »[A]us einer bestimmten Position und Lebenslage akzentuiere je ich – bewusst und unbewusst – bestimmte Bedeutungen, die aufgrund meiner bestimmten (vielfältigen und komplexen) Bedürfnisse und Interessen im Kontext meiner alltäglichen Lebensführung ihren Sinn ergeben«. Inwiefern sich diese Überlegungen von denen der kognitiven Verhaltenstherapie unterscheiden – also jenem Theoriezweig, der den behavioristischen Klassiker des Reiz-Reaktions-Schemas um Prozesse der Wahrnehmung, des Urteilens und des Begreifens erweitert –, bleibt im Aufsatz unklar. Auch Nurikurinen und Lulu nähern sich dem einzelnen Menschen, wenn sie betonen, dass »das menschliche Bewusstsein nicht in seiner biologischen Grundlage aufgeht«, sondern »der menschliche Geist in der Lage [ist], sich über sich selbst und die Welt, wie diese ihm entgegentritt, Gedanken zu machen«. Wie er das macht, wie in diesem Kontext Affekte zu verstehen sind und ob es dennoch Verschränkungen mit der menschlichen Biologie gibt und wenn ja, welche, wird nicht weiter besprochen.
Dass Natur keine Rolle spiele, darin sind sich alle Autoren unausgesprochen einig. Diese gehöre zur medizinischen Psychiatrie, von der man sich ja abgrenzt. Oder vielleicht zur Psychoanalyse, die dementsprechend im ganzen Band auch nur als Abgrenzungsthematik dient. Stattdessen geht um gesellschaftliche Verhältnisse. Da wundert es dann nicht, dass von Catalina Körner in ihrem Beitrag zu Trauma-Konzepten, die alte Mär von der Verführungstheorie (wonach die Ursache von Hysterie immer real erlebter sexueller Missbrauch sei) ausgepackt wird. Diese hätte Freud aufgrund des sozialen Drucks der »bürgerlichen Wiener Schicht« fallen gelassen und damit »den Grundstein für die Fixierung der Psychoanalyse (oder auch der modernen Psychotherapie allgemein) auf intrapsychische Prozesse als hinreichende Erklärung für psychisches Leiden« gelegt. Haben sich frühere Vertreter von Antipsychiatrie wie Ronald D. Laing oder Kritischer Psychologie wie Klaus Holzkamp noch bemüht, die Theorien der Psychoanalyse im Nachvollzug zu kritisieren, reicht heute das Gerücht über die Psychoanalyse und es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Das wird daran deutlich, dass die Behauptung, die Psychoanalyse vernachlässige äußere Gegebenheiten für die Erklärung psychischen Leidens in einem Aufsatz über Traumakonzepte falsch ist: Denn es war Freud, der betonte, dass der Aufmerksamkeit, die der Psychoanalyse während und nach dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit Kriegsneurosen (einem diagnostischen Vorläufer der heute klassifizierten Posttraumatischen Belastungsstörung) zuteil wurde, eigentlich kein wirkliches Interesse an der Psychoanalyse zugrunde liege, seien bei diesem Störungsbild doch die äußeren Faktoren so stark, dass innerpsychische Prozesse zweitrangig erscheinen.

Es wäre nicht falsch, dem Sammelband die Gegendiagnose zu stellen, dass es sich hier um eine Fixierung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse handelt, die dadurch die einzelnen Erkrankten vernachlässigt. Die oben erwähnte Widersprüchlichkeit ergibt sich aus der spezifischen Bewertung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es sollen nicht – wie in der Alten Psychiatriekritik häufig getan – die Betroffenen zum revolutionären Subjekt schlechthin erklärt, und damit ihr Leidensdruck vernachlässigt werden. Um dem zu entgehen, wird in postmoderner Manier bereits in der Einleitung in Frage gestellt, ob es die Betroffenen überhaupt gibt. Was auf den ersten Blick wie ein Einlassen auf den je Einzelnen erscheint, bringt letztlich neben dem Leidensdruck das ganze Subjekt zum verschwinden. Wie weit diesem Ansatz gefolgt werden soll, ist dann der große Streitpunkt, der nicht ausgetragen wird. Eine Parteinahme für das einzelne Subjekt als Gegenstück zum mainstreampsychologischen Funktionalitätskonzept ist zwar ein Anspruch, den das Buch sich stellt, den es aber nicht erfüllen kann.

Der Unwille zur Spekulation und die damit verbundene Absenz von Theoriebildung machen aus vielen Beiträgen des Buches eine scheinkritische Verdopplung aktueller deskriptiver Wissenschaftsarbeit. So kommt der Sammelband in seiner Gesamtheit kaum anders daher als ein lieblos zusammengestellter akademischer Tagungsband, der keinem zu nahe treten und es sich mit niemanden – außer der sich allzu oft bloß als Scheingegner erweisenden Mainstreampsychologie/-psychiatrie – verscherzen will.

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C. Schmechel, F. Dion, K. Dudek & M. Roßmöller (Hrsg.) (2015).
Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie.
Münster: edition assemblage.
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