Im Mai 1968 explodierte der Unmut einer Generation in den Straßen von Paris, Student_innen und Arbeiter_innen demonstrierten, Barrikaden wurden errichtet und Poster gedruckt. Einer der populärsten Slogans lautete: Alle Macht der Fantasie! Anders als bei früheren Revolutionen ging es der 68er-Generation nicht primär darum, die Macht im Staat an sich zu reißen, sondern auf möglichst direkte Art und Weise das Leben selbst zu verändern: Es ging um Liebe, neue Formen des Zusammenlebens, die Befreiung von überholten Normen eines von grauen Technokraten geschaffenen Systems. Diese Eruption ereignete sich nicht nur in Paris, sondern etwas zeitverschoben auch in Berlin, Prag, Belgrad, Mexico City, London, Berkeley. Den Anlass für 68 gaben vielerorts Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und die besondere Art der Kriegsführung: mit High-Tech, Napalm, Pflanzengift und Bomben gegen ein armes Land im Süden. Der Anlass Vietnam war jedoch nur ein Aspekt einer tieferen tektonischen Krise der technologischen Massengesellschaft. Der Preis für den Fortschritt der Zivilisation war die Unterdrückung des Eros gewesen, schrieb Herbert Marcuse, Vordenker der 68er-Generation. Die Revolution der technischen Produktionsmittel – die Fließbandproduktion von Konsumgütern, chemische Produkte auf der Basis von Öl, Atomkraft und neue elektronische Kommunikationsmittel wie das Fernsehen und Satelliten – traf auf konservative gesellschaftliche Strukturen: die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter gesellschaftlich zementiert durch Kirche und Alleinverdienergehalt für den Mann; alte Nazis an den Schaltstellen in Deutschland und Österreich; Rassendiskriminierung in den USA; stalinistische Kommunisten nicht nur im Ostblock, sondern auch in Frankreich und Italien dominierten die Gewerkschaften, die mehr am Erhalt der eigenen Macht orientiert waren als an der Weltrevolution. Die Eliten hatten geglaubt, dass mit dem wachsenden materiellen Wohlstand die politische und persönliche Unfreiheit in der genormten Massengesellschaft einfach hingenommen werden würde.
68 als Revolution gegen eine kybernetische Kontrollgesellschaft fand adäquaten Ausdruck in der Kunst. Das Jahr 1968 bildete eine Art Wasserscheide: In den sozialen Bewegungen ebenso wie in der Kunst hatten viele Trends früher eingesetzt, mit den Revolten von 68 kam jedoch mit einem Schlag alles an die Oberfläche. Danach sollten die Uhren für immer anders ticken. Von Bauhaus, Konstruktivismus und Konkreter Kunst inspirierte Neo-Avantgarden wie die Neuen Tendenzen hatten Mitte der 1960er Jahre die großen Festivals und Biennalen in Europa dominiert (siehe Mythos Kunst Teil 3). Um 1966 jedoch begann eine Trendwende. In Italien verkündete Germano Celant die Arte Povera; in den USA wurden Happenings und Aktionen immer populärer; in New York und London wurde eine analytische, von Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie inspirierte Konzeptkunst entwickelt. Das Tafelbild und die traditionelle Skulptur hatten ausgedient, die Kunst verließ die Galerie, ging auf die Straße (Happening) und in die Landschaft (Land Art), bezog sich auf den Körper (Body Art) und verwendete neue Medien (Fotografie, Video). Eine besonders vitale Konzeptkunstszene entwickelte sich im ehemaligen Jugoslawien, mit Gruppen wie der slowenischen Künstlergruppe OHO, und rund um die studentischen Kulturzentren, die das Regime eingerichtet hatte, um der Studentenszene ein Ventil zu bieten.
Die »Neuen Künstlerischen Praktiken« - wie ein vor allem in Jugoslawien gebrauchter Sammelbegriff lautete - arbeiteten mit der Alltagswelt als Material und thematisierten all das, was von der modernen Industriegesellschaft unterdrückt, beiseite geschoben, liegen gelassen wurde. Bei aller Verschiedenheit der Trends und Entwicklungen gab es jedoch auch wichtige Gemeinsamkeiten. Den neuen Bewegungen war eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem dominanten Narrativ der Moderne zu eigen und ihre Praxis dekonstruierte die bedeutungsstiftenden Elemente der modernen Kunst. Der ungarische Kritiker Laszlo Beke nannte das eine »metasprachliche Kritik« der Kunst. Das bedeutete, dass die Künstlerinnen und Künstler jene Aspekte der Kunst zu hinterfragen begannen, welche die Kunst erst als Kunst erkennbar werden ließen. Damit setzten sie einerseits Tendenzen der historischen Avantgarden und Neo-Avantgarden fort, insbesondere die Befreiung der Kunst aus dem Rahmen der traditionellen Medien Malerei und Skulptur, radikalisierten diesen Schritt aber in zuvor kaum gekannter Weise, indem sie das Spielfeld der Fragestellung verlagerten. Die Befreiung vom Medium mündete in eine postmediale Kunst, für die alles zum Medium werden konnte, ob Landschaft, Körper, Luft oder Küchenutensilien (siehe Martha Rosler weiter unten in diesem Artikel); dieser Schritt war eng gekoppelt an eine Form der Kunsttätigkeit, welche die Produktion von Kunst als praktizierende Kunsttheorie auffasste. In dieser Hinsicht waren die neuen künstlerischen Praktiken Vorläufer der heutigen, zeitgenössischen Kunst. Deshalb schreibt der einflussreiche englische Kunstphilosoph Peter Osborne, zeitgenössische Kunst sei postkonzeptuelle Kunst. Dabei ist diese postkonzeptuelle Kunst nicht als zeitliche Abfolge von der Konzeptkunst zur zeitgenössischen Kunst zu sehen, sondern beruht auf dem Umstand, dass jeder zeitgenössischen Praxis Selbstkritik und Selbstbefragung der Kunst zugrunde liegen. Diese Haltung markiert nach wie vor den Status Quo und führt bei einfacheren Geistern zu Missverständnissen. So hört man in Österreich immer wieder, etwas sei nur als Kunst anerkannt, weil es den »Kunstschmäh« habe, ein insiderisches Wissen, das an sich bedeutungslosen Arbeiten – so wird unterstellt - die Aura der Kunst verleihe (obwohl sie es eigentlich nicht verdienten), was wiederum durch ein kartellhaftes und insiderisches Betriebssystem Kunst sanktioniert werde. Solche Ansicht sind irrig, denn ungeachtet dessen, dass das Betriebssystem Kunst tatsächlich kartellhaft und insiderisch ist, hat Kunst als soziales System die Fähigkeit zur Selbstregulation, was dazu führt, dass Scharlatene, die wirklich nur den »Schmäh« bemühen, relativ leicht ausgefiltert werden.
Anders, und vielleicht etwas positiver ausgedrückt, lässt sich sagen, dass die Konzept- und Postkonzeptkunst auf der Erkenntnis beruhten, dass die moderne Kunst einen Raum unendlicher Kreation über den Weg der Selbstbefragung der Kunst eröffnete. Die Frage »Was ist Kunst«? Und die Anschlussfragen, die sich daraufhin eröffnen, wie »Wer ist ein/e Künstler/in?« oder »Was macht ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk?« verbunden mit der unermüdlichen Suche nach immer neuen Materialien, nach menschlichen und nichtmenschlichen Mit-Schöpfer_innen, hat eine dynamische Kettenreaktion ausgelöst und Kunst zu einem globalen Phänomen gemacht, das seine euro- und androzentrischen Ursprünge immer mehr hinter sich gelassen hat. Diese kritischen künstlerischen Praktiken waren oft Seismografen gesellschaftlichen Wandels und Gegengewichte zur fremdbestimmten und entfremdenden Macht der technologischen Industriegesellschaft.
Am deutlichsten zeigte sich die antagonistische Beziehung zum gesellschaftlichen Mainstream in der neuen, von Frauen gemachten Kunst. Zu unterscheiden ist zwischen einer explizit feministischen Kunst, die sich mit der zweiten feministischen Bewegung zu solidarisieren suchte, und einer Kunst von Frauen, die sich vom Etikett Feminismus distanzierte (am bekanntesten das Beispiel der serbischen Performance-Künstlerin Marina Abramovic). Die Frauenbewegung der 68er-Bewegung nahm abgesehen von den allgemeinen patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft vor allem den Sexismus und Machismus der eigenen studentischen Führer zum Ausgangspunkt. Die feministische Kunst dieser Zeit rebellierte gegen den Geniebegriff der Avantgarden, der männlich definiert war. Wie Griselda Pollock, eine der wichtigsten Theoretikerinnen dieser Phase hervorhob, gab es eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen feministisch inspiriertem gesellschaftlichen Protest, formaler Innovation und der Verwendung neuer Medien. Pollock betonte, dass die feministische Kunst der späten 1960er-Jahre hochgradig innovative Medienkunst war, wobei als Medium alle möglichen Dinge dienen konnten, nicht nur, aber auch relativ neue Medien in der Kunst wie Fotografie und Video. Experimente mit Medien schienen den Künstlerinnen eine Freiheit zu geben, die sie im jahrhundertelang männlich determinierten Medium der Malerei nicht finden konnten. Die Arbeiten von Künstlerinnen mit Fotografie, Video und Film wie zum Beispiel Friederike Pezold und Valie Export in Österreich, Sanja Ivekovic in Kroatien, Hannah Rosler in den USA, Ulrike Rosenbach in Deutschland, sollten dabei nur bedingt als Videokunst im engeren Sinn gelesen werden. Die Künstlerinnen protestierten gegen die ihnen traditionell zugestandenen Rollen in der Kunst, ob als Muse, Objekt oder als vom Künstlerin-Sein ausgeschlossen bleibende. Zugleich ging es um Gender und Repräsentation im weiteren gesellschaftlichen Feld. Das Medium Video bot die Möglichkeit, intime und »gefährliche« performative Akte aufzuzeichnen. In Video Girls and Video Songs for Navajo Sky: A Diary (1973) benutzte Shigeku Kubota den nackten Körper eines jungen Mannes sowie einen toten Hammel, den sie über diesem ausweidete. Mit der Aktion protestierte sie gegen die machistischen Praktiken der österreichischen männlichen Aktionisten, die Frauen als passives Material in ihren Performances benutzt hatten. In Genitalpanik (1969-69) posierte Valie Export mit gespreizten Beinen und im Schnitt geöffneter Hose, so dass der Schambereich sichtbar war, eine Maschinenpistole in den Händen haltend. Die Arbeit thematisiert das Bild der Frau in den Medien, die traditionell passive Rolle als Objekt durch diese radikale, selbstbestimmte Geste umdrehend. Wie Reinhard Braun analysierte[1], geht es bei dieser und vielen anderen Arbeiten aus dieser Zeit um ein Dreiecksverhältnis zwischen Medium, Subjekt und Öffentlichkeit. Die Künstlerinnen erzwangen durch ihre Interventionen eine gesellschaftliche Neubestimmung der Repräsentation von Weiblichkeit. Andere Arbeiten von Export und Kolleginnen taten das auf weniger skandalisierende Art und Weise. In der Serie von Fotoarbeiten mit dem Titel Körperkonfigurationen (1972-1982) setzte Export den Körper in Beziehung zur Architektur und abstrakten, geometrischen Formen, wobei zugleich das Verhältnis architektonischer Formen als aus dem Körper abgeleitet sichtbar wird. Friederike Pezold setzte in der Videoarbeit Das neue Dreieck (1974) die weibliche Schamzone ins Monitorbild, diese auf ein Zeichen reduzierend und damit dem voyeuristischem Blick entziehend. Diese Arbeiten verweisen, wie auch die ihrer männlichen Kollegen wie zum Beispiel Vito Acconci oder des Österreichers Karl Neubacher auf eine Semiotisierung (Zeichenwerdung) der Körper.
Video kam gelegen, weil es relativ billig war und es den Künstlerinnen ermöglichte, zugleich vor und hinter der Kamera zu stehen. Martha Roslers berühmte Arbeit Semiotics of the Kitchen (1973) brachte die feministische Kritik der Stellung der Frau mittels des Mediums Video auf den Punkt. In statischer Kameraeinstellung präsentiert sich Rosler in einer Küche und beginnt ein Alphabet aufzusagen, beginnend mit A wie Apron (Schürze). Ein Küchenutensil nach dem anderen aufgreifend und mit todernster Miene dessen Anwendung vorzeigend, endet Roslers Demonstration schließlich bei den mittels Messer und Gabel in die Luft geritzten Buchstaben X, Y und Z, wobei sie sich bei Y wie in einer Pose der Gekreuzigten zurück lehnt. Den Zusammenhang zwischen männlichem Geniekult und der unterstützenden Rolle der Frau, die mit den Arbeiten zur Erhaltung der Lebensfunktionen beschäftigt ist, und deshalb keine Zeit hat, selbst genial schöpferisch tätig zu werden, hat Mierle Laderman Ukeles 1969 mit dem »Maintenance Art Manifesto« auf den Punkt gebracht. Männlich bestimmt sei in der Gesellschaft die Entwicklung neuer Ideen, Formen, Disziplinen, weiblich die Erhaltung (engl.: maintenance) derselben, schrieb Ukeles. Und um diesen Punkt zu untermauern, bot sie Museen an »Maintenance Art Performances« auszuführen: Sie würde ins Museum kommen, dort wohnen, die Böden waschen, die Kunstwerke und Vitrinen abstauben, all das als Performance, als Akte der Kunst.
Viele dieser feministischen Künstlerinnen lehnten den Begriff der Avantgarde ab, da dieser zu sehr von der männlich dominierten historischen Avantgarde besetzt war, und auch von der Idee, dass ein utopischer Entwurf eines künstlerischen Subjekts, sei es ein Individuum oder eine Gruppe, den Weg in die Zukunft für die gesellschaftliche Mehrheit weisen würde. Ihre Arbeiten und Aktionen waren vielmehr wie künstlerische Guerilla-Angriffe aus unerwarteten Richtungen und mit unmittelbaren Konsequenzen im Hier und Heute. Auf lange Sicht hatten diese Künstlerinnen aber auf jeden Fall eine Vorreiterinnenrolle, indem sie einen gesellschaftlichen Wandel bezüglich der Stellung der Frau und des Verhältnisses zwischen Subjekt, Medien und Öffentlichkeit vorbereiten geholfen haben – ein Wandel, der allerdings im heutigen neoliberalen Klima von der Gefahr vielfacher Rückschritte bedroht ist.
Ähnliches lässt sich auch von den Aktivitäten männlicher Kollegen sagen, die sich ebenfalls von den Konzepten der Utopie und der Avantgarde, die für die unmittelbaren Vorläufer noch so wichtig gewesen waren, verabschiedet hatten. Als beispielhaft für viele sei hier die slowenische Gruppe OHO (1966 – 1971) genannt, die personelle Überschneidungen mit der größeren OHO-Bewegung (1966 – 1970) hatte. Diese Gruppe entwickelte sich aus anfänglichen Aktivitäten des Künstlers Marko Pogacnik und des Dichters Iztok Geister in der Stadt Kranj ab 1962. Nachdem Pogacnik von seinen Gymnasiallehrern auf Grund seiner künstlerischen Aktivitäten im sozialistischen Jugoslawien beinahe für verrückt erklärt und zwangspsychiatrisiert geworden wäre, übersiedelte er nach Ljubljana, studierte Kunst und fand Gleichgesinnte. Da sich in der Gesellschaft bestimmte dominante Denkmuster entwickelt hatten, räsonierte Pogacnik, konnte die Kunst nicht einfach Idealbilder erschaffen, sondern musste zu den Mitteln des Schocks greifen, um die Leute aus den eingefahrenen Bahnen zu reißen und sie für das Wunder des Lebens zu öffnen. Der Name OHO ist zusammengesetzt aus den slowenischen Worten für »oko« (Auge) und »uho« (Ohr). Nach der Veröffentlichung eines »Manifests für eine dritte Kunst« im Jahr 1966 durchschritt die OHO-Gruppe in rascher Folge die wichtigsten Stadien der gerade aktuellen Kunstströmungen, um am Ende einen ganz eigenen Weg eines »transzendentalen Konzeptualismus« (ca. 1970) zu gehen und sich daraufhin, im Jahr 1971, schließlich aufzulösen. OHO begann mit existentialistischen Äußerungen des entfremdeten Ich in einer als feindselig empfundenen Umwelt; formierte sich als Gruppe und machte von da an die Dialektik zwischen Individuum und Gruppe zum Thema von Arbeiten; pflegte zugleich eine in der Gruppe ausgeübte Lebenspraxis im Einklang mit damaligen Formen der Pop- und Rock-Undergroundkultur, einschließlich der Produktion von Anti-Vietnamkriegs-Graffiti und der gemeinsamen Einnahme psychedelischer Pilze; entwickelte das Konzept des Reismus (von lat. »res« Sache), einer Objektkunst mit Ähnlichkeiten zur amerikanischen Minimal und Pop Art; und legte sich mit der Performance »Triglav« mit der slowenischen Obrigkeit an. Dabei verwandelten sich drei Mitglieder von OHO mittels einer großen schwarzen Robe in Sloweniens Nationalberg, den Triglav, was soviel wie drei Gipfel aber auch drei Köpfe bedeutet, und marschierten, drei Hippieköpfe, die aus einem schwarzen Tuch hervorragten, durch einen Park in Ljubljana. Daraufhin kam es kurzfristig zu einer Spaltung der Gruppe und während Pogacnik seinen Militärdienst in Serbien absolvierte, hielten seine Kollegen in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Zagreb unter dem Namen »Große Großväter« 1969 die erste Ausstellung der Arte Povera auf jugoslawischem Boden ab. Kurz darauf trafen 1969-1970 alle wieder zusammen und generierten eine Serie von Arbeiten in der Natur, bestehend aus sehr einfachen, minimalistischen Eingriffen, die mittels Fotografie festgehalten wurden, in denen sie einerseits ihr Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln suchten, andererseits auf ein neues Naturverhältnis und die Befreiung von der rationalen Fortschrittsdoktrin der technologischen Industriegesellschaft zielten. Diese Arbeiten waren jedoch nicht einfach esoterisch oder irrational, sondern beabsichtigten eine neue Synthese von Rationalität, Sensibilität, Intuition und Konstruktion. Der Weg OHOs führte schließlich zum »transzendentalen Konzeptualismus« mit dem sie an der legendären Ausstellung Information 1970 in New York teilnahmen, sowie an der 7. Biennale für Junge Künstler in Paris und einem Aufenthalt im Aktionsraum Kunst im München, währenddessen sie eine mit Diagrammen gespickte Broschüre schufen, die ihre transkontinentalen telepathischen Experimente dokumentierte. Bevor jedoch die Möglichkeit bestand, dass sie vom Kunstmarkt korrumpiert wurden, löste OHO sich als Künstlergruppe auf und die Mitglieder zogen auf einen Bauernhof und gründeten eine Kunstkommune, die naturnahe Landwirtschaft mit Meditation, Yoga und Kunst zu verbinden suchte.
Diese Hinwendung zur östlichen Philosophie, verbunden mit einer ebenso expliziten wie immanenten Zivilisationskritik steht exemplarisch für Tendenzen nach 68, die es als sinnlos erachteten, dominante politische Systeme zu attackieren und stattdessen nach alternativen Lebensformen suchten. Etwa zur selben Zeit war der steirische herbst noch ein von Künstler_innen gestaltetes Festival. Die Abwendung vom einseitigen Rationalismus der Industriegesellschaft wurde in von Horst Gerhard Haberl kuratierten Ausstellungen wie »Körper/Sprache« (1973) und »Kunst als Lebensritual« (1974) thematisiert. Viele der dort gezeigten Arbeiten zielten ähnlich wie OHO auf eine Revolution des Alltagslebens durch die Mittel des Rituals und andere, Aufmerksamkeit und neue Sensibilitäten erzeugende Praxen. Haberl gehörte damals gemeinsam mit Karl Neubacher und Richard Kriesche zur Gruppe Pool, die auch einen »artist run space« betrieb, wie man heute sagen würde, die Poolerie, eine Kunstzeitschrift herausgab (den »Pfirsich«), Videoeditionen zusammenstellte und gemeinsam mit Häftlingen der Strafanstalt Karlau Kunst produzierte, was einen von damals vielen Grazer Kunstskandalen verursachte. All das geschah in Zusammenarbeit mit österreichischen und internationalen Kolleg_innen wie Vito Acconci oder Chris Burden, die, wie sich rückblickend herausstellt, heute zu den wichtigsten globalen Stars der kanonisierten Museums-Kunstwelt zählen. In dieser Tonart ging es praktisch die gesamten 1970er Jahre weiter. Wie der österreichisch-kanadisch Künstler Robert Adrian im Interview mit dem Autor sagte, mussten in den 1970er Jahren viele kommerzielle Galerien schließen, weil es nichts zu verkaufen gab. Die konzeptuellen und postkonzeptuellen Praktiken waren stark politisiert, auf Prozesse und Alltagsleben ausgerichtet und benutzten entweder gar keine oder damals nur schwer verkäufliche Medien wie Fotos und Video. Am Ende der 1970er Jahre gab es jedoch plötzlich wieder einen starken Bruch, einen echten Paradigmenwandel in der Kunst. Einerseits war plötzlich die neo-expressionistische Malerei zurück, die sogenannten Neuen Wilden, andererseits begann mit der Gründung der Ars Electronica im Jahr 1979 ein neuer Zyklus der Medienkunst, dem der nächste Teil von Mythos Kunst gewidmet sein wird. Die entmaterialisierten, konzeptuellen und postkonzeptuellen Praktiken der 1970er sollten jedoch in den 1990er Jahren ein Comeback erleben, und eines, das diesmal nicht fernab des Marktes geschieht, sondern ironischerweise die Unterstützung des transnationalen Kapitals des Informationskapitalismus findet (womit sich der 6. und letzte Teil von Mythos Kunst beschäftigen wird).
Teil 1: Der Mythos des Künstlers
Teil 2: Kunst und Technik
Teil 3: Im Blitzlicht der Ästhetik des Neuen
Teil 5: Die Computerkunst ist tot, es lebe die Medienkunst!
Teil 6: Post-Art oder in der Endlosschleife des Zeitgenössischen