Javier Gerardo Milei, Argentiniens neuer rechtslibertärer Präsident, scheint wild entschlossen, die tiefe sozioökonomische Krise seines Landes voll auszunutzen. Mittels der üblichen neoliberalen Schocktaktik, mit der in Krisenzeiten immer wieder Sozialkahlschlag, Deregulierung und Privatisierung durchgepeitscht wurden, erließ Milei wenige Wochen nach der Amtseinführung ein Präsidialdekret, dass rund 300 bestehende Gesetze und Regelungen tangierte. Kurz darauf folgte ein gigantisches "Reformpaket", in dem mehr als 600 Kürzungs-, Deregulierungs-. Und Privatisierungsmaßnahmen enthalten sind.1 Diese Gesetzesflut hat laut der Financial Times (FT) vor allem das Ziel, den Widerstand in Parlament und Senat, wo die Anhänger des Präsidenten in der Minderheit sind, zu paralysieren. Die Strategie des selbst ernannten "Anarchokapitalisten" im Präsidentenamt bestehe darin, "möglichst viel an die Wand zu schmeißen, damit etwas davon hängen bleibt", so die FT wörtlich.2 Tatsächlich muss Milei möglichst viele Maßnahmen durchpeitschen, solange der abgewirtschaftete Linksperonismus glaubhaft für die Misere Argentiniens verantwortlich gemacht werden kann. Die Protestmüdigkeit, die Krisenerschöpfung der Bevölkerung eröffnen dem Präsidenten ein gewisses Zeitfenster.
Die Schocktaktik Mileis weist einerseits die vertrauten Züge neoliberaler "Reformen" auf, wie sie in den vergangenen vier Dekaden immer wieder in Reaktion auf Krisenschübe in der Peripherie oder Semiperipherie des Weltsystems mit zumeist verheerenden sozialen Folgen von IWF und Weltbank implementiert wurden – nur, dass sie diesmal am Rio de la Plata ins Extrem getrieben werden sollen.3 Den Startschuss lieferte die Entwertung der argentinischen Währung, des Peso, um mehr als 50 Prozent gegenüber der Welt-Leitwährung Dollar, was einem Wertverlust im selben Umfang für alle Argentinier gleichkommt, die über keine Immobilien oder Produktionsmittel verfügen. Es folgten radikale Kürzungen der Subventionen für Benzin und Transport, die Auflösung von rund der Hälfte aller Ministerien, sowie Hunderte von "Deregulierungsmaßnahmen": Die Rechte von Lohnabhängigen wurden massiv beschnitten, der Gesundheitssektor, die Pharmawirtschaft, der Tourismus und der Markt für Mietwohnungen wurden dereguliert.4 Zudem wurde der rechtliche Status von Staatsunternehmen modifiziert, um ihre Privatisierung zu ermöglichen. Die Finanztransfers des Staates an die Provinzen sollen "auf ein Minimum" reduziert, während alle öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen gänzlich eingestellt werden.
Als Ausgleichsmaßnahme, um das nackte Überleben der 40 Prozent der Bevölkerung Argentiniens zu gewährleisten, die in Armut vegetieren, soll der Wert der staatlichen Essensmarken um 50 Prozent steigen. Bei einer jährlichen Inflationsrate von mehr als 250 Prozent im Januar 2024 ist dies aber nur eine kurzfristige Maßnahme,5 da Milei zugleich die Mittel des größten Sozialprogramms Argentiniens auf dem Niveau von 2023 einfrieren ließ. Dabei haben auch die Subventionsstreichungen zum Preisauftrieb beigetragen – im Januar fungierte die Transportkosten als einer der größten Preistreiber.6 Der einzige substanzielle Rückzieher des Präsidenten besteht in der Verschiebung der "Dollarisierung" Argentiniens, die laut Milei nur einen "letzten Schritt" bei der Implementierung breiter Finanzreformen darstellen solle.7 Dennoch sprach der peronistische Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof, von einem Ausverkauf Argentiniens durch den "Anarchokapitalisten" im Präsidentenamt. Milei wolle "alles privatisieren, alles deregulieren, die rechte der Arbeiter zerstören und ganze Sektoren der Produktion auslöschen", wobei der rechtslibertäre Präsident zugleich "die Gewaltenteilung ignoriere" und seinen Kurs mittels Notverordnungen durchsetzen wolle, so Kicillof.8
Tatsächlich wird die extrem neoliberale Agenda Mileis auch durch antidemokratische, reaktionäre und autoritäre Komponenten flankiert, wie sie bislang eher von rechtspopulistischen oder ordinär faschistischen Bewegungen propagiert worden sind. Der ökonomische Turbo-Neoliberalismus am Rio de la Plata scheint mit einer rasch ablaufenden Faschisierung einherzugehen. Bei der Drohung des Präsidenten, die progressive argentinische Abtreibungsgesetzgebung zu verschärfen,9 könnte es sich noch um einen taktischen Schachzug handeln, um den Widerstand der katholischen Kirche gegen seinen sozial desaströsen Kurs aufzuweichen. Papst Franziskus, ein Argentinier, warnte kurz nach dem Wahlsieg Mileis vor "radikalem Individualismus",10 nachdem der Anarchokapitalist diesen im Wahlkampf als einen "Schwachkopf" beschimpfte, der "soziale Gerechtigkeit" verteidige.11 Ein striktes Abtreibungsrecht soll dazu beitragen, dass die Kirche bei sozialpolitischen Grausamkeiten stillhält, so das offensichtliche Kalkül des Präsidenten.
Der postdemokratische Charakter Mileis tritt hingegen bei seiner geschichtspolitischen Haltung zur Ära der argentinischen Militärdiktatur (1976-83) unzweideutig zutage.12 Der Anarchokapitalist bemüht sich nach Kräften, die Aufarbeitung der Militärherrschaft, der Zehntausende Oppositionelle zum Opfer fielen, zu revidieren, indem er das brutale Folterregime der Militärs zu rechtfertigen oder zu bagatellisieren sucht. Den informellen Draht zu bislang marginalisierten faschistischen Militärkreisen und den als negacionismo bezeichneten Legitimierungsbemühungen der Militärdiktatur bildet die frisch gebackene Vizepräsidentin Argentiniens, Victoria Villarruel. Der Vater der Vizepräsidentin war an "Anti-Guerilla-Operationen" während der Militärdiktatur beteiligt, ihr Onkel "arbeitete" in einem Geheimgefängnis. Villarruel verteidigte öffentlich die Funktionsträger der Militärdiktatur, sie bestritt deren Opferzahl von mehr als 30.000 Toten und Verschwundenen und griff öffentliche Opferorganisationen wie die berühmten Madres de la Plaza de Mayo an.13
Dieser neue Hang zum neoliberalen Autoritarismus kommt bereits bei der Implementierung der gegenwärtigen Schockstrategie zur Entfaltung. Die Demokratie sei "voller Fehler" – zu dieser Antwort konnte sich der Präsident durchringen, als ihn Reporter nach einem Bekenntnis zur Demokratie fragten.14 Dementsprechend sieht das konkrete Vorgehen des neuen Staatschefs aus, bei dem politische und rechtliche Auseinandersetzungen ineinander übergehen. Milei möchte den Notstand erklären und mittels Notverordnungen jenseits der Gewaltenteilung regieren, wobei die Dauer "Notstandsperiode", deren Ausrufung Teil der Schocktherapie ist, nach Kritik von ursprünglich zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt wurde.15 Da Milei über keine Mehrheiten im Parlament und Senat verfügt, ist er auf die Stimmen der Rechtsparteien in beiden Kammern angewiesen. Bis Mitte Februar konnte der Präsident seine Vorhaben im Parlament nicht durchsetzen und er reagierte mit Angriffen auf die peronistische Opposition.16
Der "Anarchokapitalist" operiert folglich in der rechtlichen Grauzone, um sein Zeitfenster zu nutzen. Ein Berufungsgericht hat bereits Teile seiner Politagenda, vor allem die Aufhebung von Rechten von Lohnabhängigen, für rechtswidrig erklärt und den Präsidenten Kompetenzüberschreitung bescheinigt.17 Milei versucht schlicht, mit Präsidialdekreten seine extremistische Politagenda durchzusetzen, obwohl es hierfür keine Rechtsgrundlage gibt. Hinzu kommen drastische Einschränkungen demokratischer Rechte durch den rechtslibertären Staatschef, der das Verhältniswahlrecht abschaffen will. Demonstranten sollen künftig für Polizeieinsätze finanziell haften, Straßenblockaden – in Argentinien traditionell ein beliebtes Protestmittel – sollen generell verboten werden, während der Staatsapparat mehr Möglichkeiten bekommen soll, Proteste schon im Vorfeld zu verhindern.18
Dieses autoritäre Vorgehen, das gerade auf die staatlichen Repressionsinstrumente setzt, scheint widersprüchlich angesichts der libertären, geradezu staatsfeindlichen Rhetorik Mileis im Wahlkampf, der immer wieder die uneingeschränkte, totale Marktfreiheit gegen jeglichen regulativen Einfluss des Staates einforderte. Doch es war gerade der Erfinder des ideologischen Kampfbegriffs "Anarchokapitalismus", Murray Rothbard (1926–1995), der immer wieder die totale Marktfreiheit mit staatlichen Gewaltfantasien gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen vermischte. Milei hat einem seiner geklonten Hunde den Vornamen des rechtsextremen Ökonomen verpasst. Die Ablehnung selbst rudimentärer staatlicher Institutionen ging bei Rothbard mit Forderungen nach der "Entfesselung" der Polizei gegen Wohnungslose und der Idee "sofortiger Bestrafung" gegen Delinquenten einher. Der Präsident Argentiniens beruft sich somit auf eine aus den USA importierte, erzreaktionäre Ideologie – ähnlich der rechtsevangelikalen Bewegung in Brasilien, die dem Rechtsextremisten Bolsonaro zur Macht verhalf.
Die libertäre Ideologie, die maßgeblich von Rothbard in den USA des 20. Jahrhunderts geformt worden ist, befürwortet explizit den Sozialdarwinismus, der implizit dem wirtschaftsliberalen Denken innewohnt. Hinzu kommt ein ökonomisch grundierter Rassismus, bei dem die ökonomische und soziale Benachteiligung ethnischer Gruppen rassistisch oder kulturalistisch als Folge einer imaginierten Minderwertigkeit gedeutet wird. In der Praxis läuft die sozialdarwinistische "Freiheit" der rechtslibertären Bewegung und der Anarchkapitalisten darauf hinaus, dass ökonomisch mächtige Akteure in die Lage versetzt werden sollen, ihre Macht ungehindert zu entfalten – auch, wenn sie dabei über Leichen gehen müssen. Und genau diese Extremform kapitalistischer Marktfreiheit will der Präsident Argentiniens mittels staatlicher Repression durchsetzen. Der Staat soll mit seinen Repressionsorganen dafür sorgen, dass es keine Gesellschaft, sondern nur noch zu Marktsubjekten reduzierte Individuen gibt, während alle globalen Krisenprozesse entweder geleugnet – wie etwa der Klimawandel durch Milei19 – oder durch härtere sozialdarwinistische Konkurrenz überwunden werden sollen.20
Der Anarchokapitalismus als eine krisenbedingt verwilderte Spätform des Neoliberalismus, bei der gewissermaßen der barbarische Urknall dieser Ideologie in der chilenischen Militärdiktatur Pinochets wieder offen zutage tritt, wird den Krisenprozess in Argentinien somit zwangsläufig weiter verschärfen. Das gegenwärtige Scheitern des Linksperonismus in Argentinien verdeckt den simplen Umstand, dass der Neoliberalismus in dem Schwellenland in den vergangenen Dekaden zur Anwendung gelangte – mit verheerenden Folgen. Die ersten gescheiterten neoliberalen Experimente – die zu einer Pleitewelle, einem Schuldenberg und einer Hyperinflation führten – setzte die argentinische Militärjunta schon in den frühen 1980ern durch.21 Es folgte die Ära des Rechtsperonisten Carlos Menem, der in enger Koordination mit demselben IWF, der nun auch Milei unterstützt, Argentinien in den 1990ern zu einem Versuchslabor neoliberaler Politik machte.22 Die Folge der Privatisierungs- und Deregulierungsoffensiven, die schon damals mit einer Kopplung des Peso an den Dollar einher gingen, war der große Wirtschaftscrash von 2001, der zu einem massiven Verelendungsschub führte und den Neoliberalismus, bis auf ein Zwischenspiel unter dem konservativen Präsidenten Mauricio Macri 2015, weitgehend in die Defensive drängte.
Die keynesianische Nachfrage- und Inflationspolitik des staatsfixierten Linksperonismus bereitete aber erst der extremistischen Verwilderungsform des Liberalismus unter Milei den Weg. Argentiniens Wirtschaftsgeschichte ist somit spätestens seit den 1970ern faktisch durch Perioden von Inflation und Hyperinflation geprägt, die sich mit neoliberalen Austeritätsbemühungen abwechseln. Und gerade hierin spiegelt sich der ökonomische Krisenprozess wider, in dem sich das an seiner Produktivität erstickende spätkapitalistische Weltsystem befindet, da aufgrund permanenter Produktivitätsfortschritte kein neues Akkumulationsregime ausgebildet werden kann, in dessen Rahmen massenhaft profitabel Lohnarbeit verwertet werden könnte. Die unter Schuldenbergen stöhnende Politik kann nur den Weg der Krisenentfaltung wählen, die auf eine Entwertung des Werts in all seinen Aggregatzuständen hinausläuft: Inflation oder Deflation? Entwertung des Geldes in einer Hyperinflation, oder Entwertung der Produktionsstandorte und Lohnabhängigen in einer Deflation? Eine Überwindung der Krise wäre aber nur jenseits des Kapitals denkbar.