Die FPÖ und der Rechtsstaat

Eine Groll-Geschichte von Erwin Riess.

Groll und der Dozent saßen in der Kärntner Straße in einem Café. Der Dozent wollte mit Groll über die neuesten Entwicklungen in Kärnten sprechen. Sie sollten eingangs das bei ihnen beliebte Vorlesespiel absolvieren, das würde Kopf und Gemüt für das Kommende aufhellen. Das Vorlesespiel bestand darin, daß der Dozent einen Text vorlas, und Groll müsse raten, aus welcher Zeitung der Ausschnitt stamme. Groll lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. Der Dozent las mit lauter Stimme:
»‘Das Volk steht über dem Verfassungsgerichtshof’«. Sätze wie dieser waren von Jörg Haider oft zu hören. Sätze, die noch ungeahnte Sprengkraft bekommen könnten. Der Satz vom Volk, das über den Verfassungsrichtern steht, ist eine Attacke auf die Verfassung selbst. Wenn Haiders Satz stimmte, dann könnte das »Volk« mit Mehrheitsbeschluss jedes Grundrecht hinwegfegen. Dann ist keine Minderheit mehr geschützt. Dieser Satz ist damit genau das Gegenteil vom Rechtsstaat. Er ist das Funktionsprinzip diktatorischer Staaten, in denen kein unabhängiger Richter den Bürger gegen die politische Macht schützt. Damit ist erstmals sehr ernst über die demokratische Legitimation des freiheitlichen Lagers zu diskutieren. Dies bestätigen auch Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs – wenn auch nur im vertraulichen Gespräch. Ist die Linie des Gerichtshofs aufrechtzuerhalten, der die FPÖ immer als nicht-faschistisch, demokratisch eingeordnet hatte? Der Verfassungsgerichtshof hat das letzte Urteil über die Legitimität der FPÖ zu sprechen, etwa nach dem Verbotsgesetz.«
»Das ist nicht schwer«, sagte Groll. »Ich tippe auf einen Text in den neunziger Jahren aus der ‘Volksstimme’.«
»Falsch.«
»Der Kommentar eines Kärntner Slowenen in einer Minderheitenzeitung.«
»Wieder falsch.«
»Also gut. Die Übersetzung eines Artikels aus dem englischen ‘Guardian’.«
»Verloren«, sagte der Dozent und reichte Groll die »Presse« vom 15. Jänner 2002, in der der damalige Herausgeber Andreas Unterberger diese Sätze geschrieben hatte.
»Unterberger empfiehlt der SPÖ in dem Leitartikel dringend, sich einer Reform des Wahlmodus zum Verfassungsgerichtshof nicht zu verschließen«, fuhr der Dozent fort. »Denn derzeit könnten die Richter allesamt von Blau-Schwarz ernannt werden. Aber die SPÖ versteht die Gefahr nicht einmal.’ Und er schließt: ‚Wenn es denn wirklich geschehen sollte, wird es die Linke nicht einmal merken, wenn wirklich der Wolf kommt.’«
»Ein starkes Stück«, meinte Groll. »Besteht die Gefahr auch heute noch?«
»Sie ist so aktuell wie vor neun Jahren« erwiderte der Dozent. »Falls Strache an die Regierung kommt – mit wem auch immer – besteht die Gefahr, daß er – ähnlich wie Orbán in Ungarn – die unabhängige Justiz nach oben beschriebenem Muster aushebelt. Und niemand wird sich aufregen, drei Kommentare werden erscheinen, das wird’s dann gewesen sein.«
»Wie die Blauen mit der Justiz umgehen, beweisen sie ja immer wieder aufs Neue, am deutlichsten mit dem Lehrstück vom unschuldigen Uwe«, erwiderte Groll und zog einen färbigen Bogen Papier aus dem Rollstuhl. »Ein Freund in Kärnten hat mir das zugesandt. Es ist ein Pamphlet des Landes-hauptmann-Stellvertreters Uwe Scheuch an alle Kärntnerinnen und Kärntner, in dem er das über ihn verhängte Urteil in der bekannten Korruptionsaffäre wütend attackiert und die Justiz gröblich beschimpft.«
Groll plättete das Papier, das einen lachenden Uwe Scheuch im rechten oberen Eck zeigt, und fuhr fort.
»Uwe Scheuch bezeichnet das Urteil als ‚vollkommen überzogen und parteipolitisch motiviert’, unterstellt also dem Richter, im Sold einer anderen Partei zu stehen. Des weiteren heißt es im Pamphlet: ‚Nachdem sowohl das Gericht, als auch die Medien die Rechtslage, die Fakten und vor allem meine persönliche Sichtweise vollkommen ignoriert haben, wende ich mich an jene über 580.000 Kärntnerinnen und Kärntner, denen ich mich verpflichtet fühle. … Nach dem schrecklichen Unfalltod unseres Jörg Haider, der über 30 Jahre von den Medien, den politischen Mitbewerbern und anderen Institutionen verfolgt wurde, hat diese linke Jagdgesellschaft nun wohl mir diese Rolle übertragen.’«
Der Dozent schaute verblüfft auf. »Er schlüpft in die Rolle des Märtyrers, der sich von der ganzen Welt verfolgt wähnt und ständig das Volk anruft, um sich zu erhöhen«, sagte er. »Ein klassischer Trick des Nationalsozialis-mus. Hitler hat diese Umkehrung der Wirklichkeit in den 1920er und frühen 30er Jahren zur Perfektion getrieben. Hitler war so sehr von der Welt verfolgt, daß er gar nicht anders konnte, als diese zu vernichten. Und das alles mit dem Appell ans Völkische. Haider hat es übernommen, nun tritt einer offen und frech die Nachfolge an.«
Groll zog das Papier näher an sich heran und las weiter: »Meine Person, meine Familie, meine Freunde und mein gesamtes Umfeld wurden zu Freiwild erklärt«, flennt Herr Scheuch, vergißt aber nicht, die Reihenfolge klar einzuhalten – er kommt immer zuerst. Und für jene Kärntner, die Scheuch für ausgemachte Trotteln und Analphabeten hält, es ist scheint’s die übergroße Mehrheit, läßt er die weinerlichsten und hasstriefendsten Passagen fett drucken, auf daß auch der letzte Hinterwäldler versteht, was sein von der linken Jagdgesellschaft verfolgter Führer und Märtyrer im Dienste des Volkes erleiden muß. Natürlich fehlen die ebenfalls fettgedruckten Beteuerungen nicht, er sei unschuldig und habe nichts getan. Im selben Atemzug reitet der Arme eine wilde Attacke: ‚Während Betrüger, Kinderschänder, kriminelle Asylwerber und viele mehr frei und unbehelligt von einer unfähigen Justiz herumlaufen dürfen, versucht man mit mir einen Schauprozeß zu inszenieren’, fährt er in gräßlichem Deutsch fort.
»Das ist die Sprache des ‚Stürmers’ und des ‚Völkischen Beobachters’«, sagte der Dozent. »Eine Melange aus Rassismus, Aggressivität, Weinerlichkeit und Drohungen. Hier stellt sich einer bewußt außerhalb der zivilisierten Gesellschaft, weil er vorhat, ihr die zivilisatorischen und rechtsstaatlichen Sperenzchen später mit allen Mitteln auszutreiben. Karl Kraus hat immer wieder darauf verwiesen, daß jene, die die Sprache zur Keule erniedrigen, nach der Sprache deren Anwender in den Staub treten werden, und das war nicht als Metapher gemeint, sondern als reale Drohung, und wie wir wissen, wurde sie in einem erschreckenden Ausmaß wahr. Und da kommt, sechsundsechzig Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, ein Sproß aus einer NSDAP-Elitenfamilie und führt sich auf, als wäre er der blaue Mittelpunkt der Welt.«
»So weit zum Fortschritt«, meinte Groll und fügte hinzu. »Das Perfide an diesem faschistischen Lehrstück ist auch darin gegeben, daß das Pamphlet von den Steuerzahlern bezahlt wird.«
»Ich dachte, die Partei hat den Massenbrief bezahlt?« warf der Dozent ein.
»Und wenn schon«, erwiderte Groll. »Was glauben Sie, woher die FPÖ sich mit ihren ständigen Wahlerfolgen finanziert – aus überreichlich fließenden Steuermitteln, den höchsten, die ein westeuropäischer Staat für seine Parteien bereit stellt.«
»Also finanzieren wir, ob wir wollen oder nicht, den Untergang der Demokratie auch noch mit!«
»Die Kärntner sind darin, wie in so vielen anderen Dingen, Vorreiter«, bekräftigte Groll. »Auch die unsägliche Volksbefragung des Landeshauptmann Dörfler nach den oktroyierten Ortstafel-Verhandlungen wurde aus Steuermitteln finanziert. Für eine slowenische Übersetzung reichte es allerdings nicht, denn Kärnten ist und bleibt einsprachig, wie der verunfallte Landeshauptmann stolz erklärte. Der Gebrauch der slowenischen Sprache auf Bürgermeisterämtern wurde mit den Ortstafel-Gesetzen ja gestrichen. Nun müssen die slowenischen Kärntner in die nächste Bezirkshauptmannschaft fahren und darauf hoffen, daß ein des Slowenischen kundiger Sachbearbeiter sich ihres Falles annimmt. Was glauben Sie, wie viele Menschen sich diese Verhöhnung antun werden? Und schon ist die unbedingte Zweisprachigkeit vor Behörden, wie sie im Staatsvertrag und vielen völkerrechtlichen Verträgen immer wieder als zentraler Bestandteil der Minderheitenpolitik gefordert wurde, für alle Zeiten entsorgt. Denn die »Ortstafellösung« wurde sofort in den Verfassungsrang gehoben – ohne viele Details mit den Slowenenvertretern noch weiter auszuhandeln (nicht nur deshalb protestierte der Rat der Kärntner Slowenen mit Valentin Inzko vollkommen zu Recht) – der Verfassungsrang bedeutet nämlich, daß die Minderheitenpolitik für alle Zeiten einzementiert ist. Minderheitenpolitik ist aber ein dynamischer Prozeß, der am besten einfachgesetzlich abgesichert wird, und zwar so sensibel, daß auch künftig Verbesserungen für die Minderheit möglich sein müssen. Das ist bei der aufgezwungenen Kärntner Lösung aber nicht der Fall. Sollte es künftig eine Gemeinde mit einem slowenischsprachigen Anteil von mehr als 17,5 % geben (auch dieser Willkürwert ist bereits eine Frechheit), hat sie keine Möglichkeit, zweisprachige Ortstafeln und Aufschriften zu bekommen.«
Der Dozent packte den Zeitungsausriß in seine Tasche. »Es sieht so aus, als hätten Herr Ostermaier und Herr Dörfler die Öffentlichkeit hinters Licht geführt.«
»So ist es«, erwiderte Groll. »Im Gegensatz zu den Jubelmeldungen von Land und Bund wurde mit dem vorliegenden Beschluß die Diskriminierung der slowenischen Volksgruppe keineswegs beendet, sondern, im Gegenteil, für Jahrzehnte festgeschrieben.«
Die beiden Freunde zahlten, verließen die Kärntner Straße und nahmen den nächsten Kaffee in einem türkischen Restaurant in der Wollzeile.