Die Ars Electronica wird von Jahr zu Jahr immer größer, toller, erfolgreicher. Sichtbares, ganzjähriges Zeichen dieses Erfolges ist das AEC, das nachts vor sich hin blinkt wie ein Upgrade des Raumschiffs in Die unheimliche Begegnung der dritten Art. Das Festival hat mit der Tabakfabrik nun auch eine Spielstätte, die dem stetigen Anstieg der Publikumszahlen gewachsen ist. Ars Electronica ist eine Erfolgsgeschichte, das ist unbestreitbar. Zugleich ist das Festival längst eine Art Selbstläufer geworden, und die Programmfülle hinterlässt den Eindruck, dass Quantität vor Qualität geht. Eine Debatte über den Zusammenhang zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft zu entfachen, das hat sich die Ars Electronica selbst zur Aufgabe gemacht. Doch diese Debatte wird meist recht einseitig geführt.
Die Ars Electronica behandelt dieses Jahr das Thema Total Recall - the Evolution of Memory. Dabei stützt sie sich - jedenfalls was die Konferenz betrifft - vor allem auf die Natur-wissenschaften und hier wiederum bevorzugt auf Hirnforscher. Daneben kommen auch Biologen und Genforscher zu Wort. Im einzigen kulturwissenschaftlichen Panel geht es sehr stark um Vor- und Frühgeschichten von Erinnerungstechniken. Themen wie z.B. Erinnerungskulturen oder auch die Rolle und Funktion von Archiven als kritische Ressourcen zur Hinterfragung des Geschichtsverständnisses und der Gegenwart haben bei der Ars Electronica höchstens einen Nischenplatz.
Dabei setzt die Ars Electronica nur eine lange Tradition fort, wenn sie auf der Welle des Hypes über technologische Innovationen reitet, und das mit einem unkritischen positivistischen Wissenschaftsbild verbindet. Der Punkt ist, dass diese Kritik auch nicht mehr neu ist. Im Jahr 1998, als die Ars Electronica den »Infowar« als Thema hatte, schrieb Medienphilosoph Frank Hartmann (1):
»Interessanterweise wurde das Wort ‚Kultur‘ bei dieser doch zu einem Kulturfestival gehörenden Konferenz kaum gehört und auch die sozialen Aspekte der Cyberkriegsführung blieben weithin ausgeklammert. Es schien viel eher, daß man sich mit einem chicen, dem Zeitgeist entsprechenden Thema schmücken wollte, jedem echten Risiko aber dadurch aus dem Weg geht, daß die schützende Glaswand des Monitors zwischen sich selbst und die realen Gefahrenzonen gebracht wurde.«
Diese Worte stammen von demselben Frank Hartmann, der, als einer der wenigen Nicht-Naturwissenschaftler, bei der diesjährigen Ars-Electronica-Konferenz sprechen wird. Die Ars Electronica schafft es, nur wenige Monate, nachdem Edward Snowden die Existenz eines gigantischen Überwachungsprogramms der NSA und befreundeter Dienste enthüllt hat, das alles bisher da gewesene übersteigt, die »Evolution der Erinnerung« auf eine komplett entpolitisierende Art zu thematisieren. Da nimmt sich der Film »Total Recall« mit Arnold Schwarzenegger noch vergleichsweise gesellschaftskritisch aus, denn da gibt es wenigstens eine ordentliche Revolte.
Teil der ungebrochenen Tradition der Ars Electronica ist es, naturwissenschaftliche Begriffe auf kulturelle und gesellschaftliche Felder zu übertragen. Das ist schon 1996 Timothy Druckrey aufgefallen, als die Ars Electronica sich der Pseudowissenschaft der Memetik von Richard Dawkins annahm. Druckrey beklagte, dass »trotz all der Aura von Universalität, die die genetische Forschung umgibt, [...] das Nachdenken über ihre kulturelle Auswirkung oft verloren« geht. Und weiter:
»In der Rede von den Viren, den Ökosystemen und Netzwerken sind die biologischen Metaphern mittlerweile allgegenwärtig. Die zusammenbrechende Grenze zwischen der Physik und der Genwissenschaft läßt vermuten, daß die Systemideologie eine Art vereinheitlichtes Feld begründet, in dem die sogenannte ‚universelle‘ Sprache der molekularen oder Gentechnologie so arbeitet wie die Software in einer mechanischen Welt. Wissenschaftliche Praxis wird folglich eher instrumentell als analytisch, eher interaktiv als beobachtend, und sie ist mehr an der technischen Produktion als an der Erkenntnistheorie interessiert.« (2)
Und was wäre daran so schlimm? Lapidar formulierte es Richard Barbrook, der in seine Kritik an der Meme-Theorie die Anmerkung einflocht, in Linz, der Kulturhauptstadt des Führers, solle man »besonders vorsichtig mit biologischen Metaphern sein« (3). Auch Boris Groendahl, im selben Jahr, auf der Mailingliste Rhizom schreibend, konnte sich eine ähnliche Anmerkung nicht verkneifen. Die Ars Electronica leidet unter einer chronischen Krankheit, der »Metapheritis«, schrieb ich selbst im Jahr 1997, als die Ars Electronica von der »Informationsmaschine Mensch« handelte (4).
Die von der Ars Electronica gerne verwendeten, pseudowissenschaftlichen Metaphern, die meist aus der Genetik und Biologie, neuerdings zunehmend auch aus der Neurowissenschaft stammen, führen dazu, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene zu naturalisieren. Es wird Dingen, die geschichtlich sind, also von Menschen gemacht und daher veränderbar, eine biologistische oder andere naturalisierte Grundlage unterstellt. Damit wird verhindert, sich den wahren gesellschaftlichen Ursachen zuzuwenden. Desweiteren wird damit die Ausübung von instrumenteller Macht legitimiert. Indem gesagt werden kann, etwas sei wissenschaftlich, also »objektiv«, wird auch die - natürlich ebenfalls wissenschaftliche oder technokratische - Lösung bereits impliziert.
Die Pseudoverwissenschaftlichung führt dazu, dass die Thematik der demokratischen Diskussion und dem gesellschaftlichen Meinungsstreit entzogen wird.
In ihren harmloseren Formen führen diese Denkstrukturen zur Verherrlichung von Wissenschaft als Ideologie und Religion, wie der kritische Wissenschafter Joseph Weizenbaum 1996 in Osnabrück erklärte. Ans Ende gedacht führt das jedoch zur völligen »Entmystifizierung des Menschen«, so Weizenbaum, und letztlich zur Ideologie der Obsoletheit und der »Vernichtung« (5) des Menschen. Weizenbaum rieb sich insbesondere an der Metapher von der Künstlichen Intelligenz.
Diese hat auch bei der Ars Electronica eine lange Tradition. Schon 1979, im Gründungsjahr der Ars Electronica, entzückte ein Roboter die Passanten in der Linzer Innenstadt. Und auch heute noch zählen japanische Roboterkunst und Künstliche Intelligenz zu den »zeitlosen« Themen der Ars Electronica. Spielverderber, wer da den kleinen und großen Kindern den Spaß mit dem Asimo nehmen will, oder etwa nicht? Auch dieses Jahr gibt es wieder neueste Erkenntnisse aus der KI, ein auf der Ars Electronica ungebrochener Mythos.
Die inhaltlichen Defizite der Ars Electronica sind nicht schwer auszumachen und vieles davon wurde auch bereits öffentlich kritisiert. Doch die Ars Electronica zeigt sich erstaunlich kritikresistent, oder leidet unter einer besonderen Form der digitalen Demenz. »Digitale Demenz« ist der Titel eines Bestseller-Buches des Hirnforschers Manfred Spitzer. Mit der vermeintlichen Autorität des Naturwissenschafters behauptet Spitzer, dass digitale Medien süchtig machen, Gehirnzellen absterben lassen und dass Kinder die Lernfähigkeit verlieren. Spitzer bauscht empirische Erkenntnisse, in denen vielleicht ein Korn Wahrheitsgehalt steckt, zu unhaltbaren Thesen auf, und ist damit selbst ein gutes Beispiel für die falsche Kompetenzzuschreibung bei Hirnforschern. Dass damit so viel Aufmerksamkeit zu gewinnen ist, zeigt eigentlich nur, wie schlecht es um die Debatte um Kunst, Technologie und Gesellschaft insgesamt steht.
Warum aber die Ars Electronica herausgreifen? Man kann nicht ein Festival für einen allgemeinen Missstand verantwortlich machen. Allerdings hat die Ars Electronica dieses Thema selbst gewählt, nimmt damit eine sehr zentrale institutionelle Stellung ein und bindet viele Ressourcen. Die Themensetzung ist beeinflusst davon, wie das Festival gesellschaftlich strukturiert, vernetzt und ausgerichtet ist. Die Ars Electronica begann 1979, als die Strukturkrise des Industriezeitalters offenkundig wurde. Wie Ars Electronica Mitbegründer Hannes Leopoldseder in einem Editorial 1982 antizipierte, würde die Strukturkrise des Industriezeitalters langfristig zum neuen techno-ökonomischen Paradigma der Informationsgesellschaft führen. Der Erfolg der Ars Electronica beruht darauf, dazu beigetragen zu haben, Linz bei der Transformation ins Informationszeitalter geholfen zu haben. Dabei wurde es notwendig, die Kunst einzuspannen, um eine beschönigende Version des Informationszeitalters in den Himmel über Linz zu projizieren. 1979, bei der ersten Klangwolke, stand dafür Hilmar Hoffmanns Idee der »Kunst für Alle« Pate. Die Informationsgesellschaft war eine Zukunftsvorstellung und irgendwie ahnte man, dass dabei Partizipation eine Rolle spielen würde. Also bat man die Menschen, die Radios ins Fenster zu stellen.
Heute ist die Klangwolke längst wie eine Illustration der Idee der Gesellschaft des Spektakels, mittels High-Tech werden ästhetische Events produziert, die den Menschen nur ihre eigene Ohnmacht vorführen. Verschleiert wird damit die Rolle der Informationstechnologie für das globalisierte, neoliberale Wirtschaftssystem. Dabei geht es um so profan erscheinende Dinge wie Automatisierung der Produktion und globale Logistikketten. Die Informationstechnologien ermöglichen es, Jobs ins Ausland zu verlagern, menschenleere Fabriken zu bauen und das alles mittels globaler Logistik - nichts anderes als ein Synonym für zivile Überwachungssysteme - zusammenzuhalten.
Die Ars Electronica hat mit der Art und Weise, wie sie seit 1979 die Informationstechnologien thematisiert hat, zur Ausblendung der wahren Folgen der neoliberalen Informationsgesellschaft beigetragen. Dabei hat sie immer wieder blumige Metaphern benutzt, mit denen sie die Grenzen zwischen Natur und Kultur scheinbar kulturstürmerisch zum Einsturz brachte. Die Ars Electronica habe 1996 mit ihren häufigen Verweisen auf eine »natürliche Ordnung« »Vielfalt, Komplexität, Rauschen und Widerstand« reduziert, schrieb Druckrey. Im Zeitalter der Memetik wurde damit die kulturpolitische Seite des Erinnerns ausgeblendet.
In diesem Jahr scheint man sich völlig von den Implikationen der Affäre Snowden fernzuhalten. Längst geht es nicht nur um Überwachung im klassischen Sinn. Die Vormachtstellung der USA als Weltmacht ist darauf begründet, eine globale Informationsinfrastruktur zu errichten und zu erhalten, die ihre militärische und wirtschaftliche Dominanz sichert. Das US-amerikanische Imperium beruht auf einer Hegemonie der Information, auf der Fähigkeit, globale Informationsströme zu filtern, zu bündeln, und diese Fähigkeiten in Militärmacht und Finanzmacht überzuführen.
Die totale Informationskontrolle ist, wie die Affäre Snowden auch gezeigt hat, immer teilweise illusorisch, eine Kontrollfantasie. Im Sinn der Ausübung von Macht genügt es jedoch, diese phantasmagorische Macht zu etablieren, sie als Zielsetzung festzuschreiben, sie zur Mobilisierung von Ressourcen einzusetzen und sie den Unterworfenen schmackhaft zu machen, weil nur damit ihre Sicherheit garantiert sei. Diese Tendenzen waren bereits in den Beginn der Informationsrevolution, die ja in der Zeit des Kalten Krieges begann, eingeschrieben. Aber auch das ist uns auf Grund der allgemeinen digitalen Demenz kaum mehr bewusst. Wie durch einen Grauschleier betrachten wir die Gegenwart. Was war nochmal das Problem mit der Erinnerung?