Seit 27. Oktober befindet sich im Linzer Wissensturm die Ausstellung »Bibliothek der geretteten Erinnerungen« des Zentrums zur Erforschung und Dokumentation jüdischen Lebens in Mitteleuropa- und Osteuropa kurz Centropa. Auf 120 Postern werden den Besuchern der Ausstellung mittels privaten Fotos und kurzen Kommentaren Familiengeschichten und Biographien des europäischen (und türkischen) Judentums näher gebracht. Die Ausstellung gliedert sich in drei Teile: Im Erdgeschoss werden Geschichten der Sephardim – Nachkommen der im 15. und 16. Jahrhundert aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden, welche sich vor allem am Balkan ansiedelten – vorgestellt. Familiengeschichten der Juden in Mitteleuropa finden sich im Foyer im I. Stock. Mitten im Freihandbereich der Stadtbücherei ist der dritte Teil der Ausstellung, der auf die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion eingeht.
Das Besondere der Ausstellung ist die Konzentration auf die individuelle Biographie von Juden aus Europa vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Shoa und Antisemitismus werden immer wieder erwähnt, doch im Vordergrund steht die erzählerische, skizzenhafte Rekonstruktion einzelner Lebensgeschichten. Jedes der Poster erzählt die Geschichte einer Person und deren Familie und so vermag allein schon die Anzahl der Poster einen ersten Eindruck der Vielfalt des einstigen jüdischen Lebens zu vermitteln: Assimilierter Kleiderunternehmer in Bratislava, Eisenbahner in Wien, Offizier in der k.u.k. Armee in Budapest, Redakteur in Thessaloniki, Schneider in Leningrad, rauchende jüdische Frauen im Badeanzug am Donaustrand in Serbien, traditionelle sephardische Juden in Pristina. Rein äußerlich scheinen die Porträtierten nur wenig gemeinsam zu haben, doch die kleinen Hinweise in den knapp gehaltenen Kommentaren auf Verfolgung und Shoa weisen auf die Gewalt, welche erst die Notwendigkeit schuf, an solch einer »Bibliothek der geretteten Erinnerung« zu arbeiten.
Auf mehreren Video-Stationen sind zusätzlich Kurzdokumentationen zu verschiedenen Personen zu sehen. Der Fokus auf die Biographie wird in den Videos noch einmal durch einen kreativen und liebevollen Umgang mit dem spärlichen Material unterstrichen. Statt Videoaufnahmen der interviewten Personen oder historischem Filmmaterial wurden aus privaten Fotos animierte Collagen zusammengestellt, welche die gesprochene Erzählung visuell umsetzen. Ein Manko ist jedoch, dass an den Video-Stationen keine Möglichkeit besteht, die Wiedergabe von Beginn an starten zu lassen. Der Besucher muss an den verschiedenen Stationen warten, bis die Filme ihr Ende erreichen und jeweils von vorne beginnen. Die Platzierung von Teilen der Ausstellung »zwischen Getränkeautomaten und den Toiletten« (Scheller, Standard) wurde zu recht kritisiert. Allein im Freihandbereich der Stadtbücherei im I. Stock scheint die Absicht der Projektverantwortlichen, die Ausstellung »mitten im Geschehen« zu platzieren, wirklich gelungen zu sein. Hier stehen die Poster unübersehbar für die alltäglichen Besucher der Bücherei entlang der verglasten Fassade und der Brüstung zur Eingangshalle und wirken dennoch nicht achtlos aufgestellt.
Abgesehen von diesen praktischen Mängeln fehlt es der Ausstellung an vertiefendem Informationsmaterial sowohl für interessierte als auch gänzlich uninformierte Besucher. Die äußerst knappen Kommentare, welche die verschiedenen Teile der Ausstellung einleiten, sind im jeden Fall zu wenig, um sich auch nur einen oberflächlichen Eindruck der Thematik zu verschaffen. Auch der Ausstellungskatalog bietet hierbei keine Hilfe und beschränkt sich auf die bloße Wiedergabe der ausgestellten Objekte. Die grundlegende Konzeption der Ausstellung, Shoa, Verfolgung und Geschichtswissenschaft nicht in den Vordergrund zu stellen, soll dabei jedoch nicht in Frage gestellt werden. Doch ohne entsprechendes Hintergrundwissen drohen die einzelnen biographischen Geschichten für den anvisierten »niederschwelligen« Besucher auseinander zu fallen. Es fehlt an Orientierungspunkten, die fragmentarischen Teile räumlich, zeitlich und letztlich auch qualitativ zueinander in Beziehung zu setzen. Die zu rettenden Erinnerungen betreffen nicht allein Individuen, sondern ganze gesellschaftliche Kulturen, die von Ersteren kaum zu trennen sind.
Nur wenige Menschen haben heute eine Vorstellung von der Größe und überwältigenden Vielfalt des jüdischen Lebens in Europa. Wer weiß schon, dass in Osteuropa Millionen von Juden in Hunderten Gemeinden (Schtetl) und Städten (Schtot) mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung bzw. großen jüdischen Anteil lebten, in denen ein jüdisches Proletariat bestehend aus Handwerkern, Arbeitern, Kleinhändlern, Lastenträgern oder einfach Luftmenschen (ohne Perspektive, gesichertes Einkommen oder feste Beschäftigung lebte ein Teil der jüdischen Bevölkerung sozusagen von Luft und wurde entsprechend genannt) in bitterster Armut um sein Überleben kämpfte? Eine diskriminierende Gesetzgebung, die Anfänge der industriellen Massenproduktion und die anachronistischen sozialen und ökonomischen Strukturen vervielfachten die Verelendung in den jüdischen Gemeinden und Regionen Ende des 19. Jahrhunderts. In Polen und Russland lebten Schätzungen zufolge 70% der jüdischen Bevölkerung in Armut und waren oft auf Almosen und fremde Hilfe angewiesen. Die Schtetl bildeten abgeschlossene jüdische Lebenswelten in den rückständigen agrarischen Strukturen Osteuropas. Es gab kein Gas, keine Elektrizität, kein fließendes Wasser, die Straßen waren verschlammt, die Häuser baufällig. Kleine Stuben wurden oft von mehreren Familien bewohnt, Kinder litten an Unterernährung. Allein die starken religiösen und sozialen Banden innerhalb der Gemeinden verhinderten den Ausbruch tödlicher Hungersnot und sozialer Krisen. Im krassen Gegensatz zu diesen elenden ökonomischen Bedingungen stand jedoch das kulturelle Leben dieser Gemeinden. Auch den ärmsten Kindern wurde ein Unterricht zuteil, Gelehrsamkeit wurde gemeinhin höher geschätzt als Reichtum und zu jüdischen Feiertagen und festlichen Anlässen versuchten selbst Luftmenschen sich und ihr karges Heim herauszuputzen. Völlig anders gestaltete sich freilich das Leben der assimilierten Gemeinden in Mitteleuropa. Doch auch hier gab es bemerkenswerte Erscheinungen eines gesellschaftlichen jüdischen Lebens, wie es zum Beispiel an einem Foto der Ausstellung aus der Slowakei ersichtlich wird, das jüdische Sportler bei einem Umzug anlässlich einer Makkabiade zeigt. Die Existenz dieses Kosmos jüdischer Gesellschaften mit seinen Licht- und Schattenseiten, die Mannigfaltigkeit des jüdischen Lebens in den Schulen, den Synagogen und der Arbeit wird in der Ausstellung zwar durch einzelne Fotos dokumentiert, doch die Dimensionen dieses Lebens sind nur schwer aus den privaten Fotos herauszulesen. Die Geschichte der jüdischen Gemeinden in West- und Osteuropa zu erzählen, ist freilich nicht Aufgabe der Ausstellung, doch wären deutliche Hinweise in diese Richtung hilfreich gewesen. Ansonsten könnten für unkundige Betrachter der Fotos, diese Zusammenhänge allzu leicht aus den Augen verloren werden. Einige wenige zusätzliche Poster mit ausführlicheren historischen Anmerkungen beispielsweise zur Größe der jeweiligen Gemeinden, Karten, chronologischen Informationen und Literaturhinweisen hätten hier schon gereicht, um diese Einordnung zu erleichtern.
Die »Bibliothek der geretteten Erinnerungen« ist nur ein Teil der umfassenden Arbeit von Centropa. Zentrale Aufgabe von Centropa ist die Dokumentation und Bewahrung der jüdischen Geschichte im Europa des 20. Jahrhunderts. Dazu wurden u.a. über Tausend Interviews mit Zeitzeugen aus ganz Europa geführt, private Familienfotografien digitalisiert, und Videodokumentationen gestaltet. Auf der Centropa-Homepage finden sich u.a. ein Archiv mit über 25.000 Fotos von Juden aus Europa (und Türkei), dutzende Filme, die auch auf einem eigenen You-Tube Kanal gesendet werden, Augenzeugenberichte zur Reichspogromnacht 1938 in Wien und ein Sephardic Center mit umfassenden Hintergrundberichten. In jedem Fall lohnt sich ein Besuch der Ausstellung, die einen interessanten Kontrastpunkt zur herkömmlichen Reduktion der Geschichte der Juden auf Shoa und Verfolgung setzt. Zu sehen noch bis zum 11. Dezember im Linzer Wissensturm.