Europa schaut weg

Simone Schönett über das rasante Ansteigen des Anti-Romaismus in der Krise.

Alles was war, wird wieder sein. Diesen Satz schrieb ich mal in einem fiktionalen Text, legte ihn einer 1919 geborenen jenischen Frau in den Mund, die alle Schrecken des 20. Jahrhunderts erlebt hatte. Die enge Verwebung von Realität und Fiktion ist mir in der Literatur vertraut und ich weiß damit umzugehen. Doch mittlerweile ist es in Europa für Roma, Sinti, Jenische so, dass die Fiktion von der Realität eingeholt wird. Schlimm genug, dass dieser Satz wieder »wahr« ist. Doch wirklich arg ist, dass all dies ziemlich unbemerkt bleibt.
Für die meisten Europäer gilt: Dass man vielleicht noch von der Mordserie an Roma in Ungarn weiß, und dass viele Romakinder in Rumänien auf der Straße oder im Slum leben. Von Brandanschlägen in Tschechien und der Slowakei, in Italien, Frankreich und Ungarn weiß man aber so gut wie nichts. Von Zwangssterilisationen an Roma-Frauen in einigen EU-Staaten – hat man nie etwas gehört, oder dass in Bulgarien Skinheads Roma »jagen«. Zugegeben: Als Frankreich mit den Massenabschiebungen begann, oder als in Italien Fingerabdrücke aller Roma für eine rassistische Zentraldatei genommen wurden, gab es ein wenig Öffentlichkeit für die Lage der Roma. Doch die währte nur kurz. Und sowohl die Abschiebungen als auch die Fingerabdrücke dauern an, in ganz Europa. Aber Thema ist das keins. Nicht in der Politik. Und in den Medien höchstens am Rande. Dabei könnte man Seiten damit füllen mit dem, was sich vor aller Augen in Europa gerade vollzieht.
Wenn man, wie ich, auf literarischem Wege versucht, Menschen aufmerksam zu machen auf die Wiederholung der Geschichte in Bezug auf Roma, dann wird spätestens bei den Diskussionen nach den Lesungen klar, dass die Leute über Roma, Sinti, Jenische einfach nichts wissen. Nichts im Sinne von: nicht mehr als die üblichen Uralt-Klischees, Stereotypen. Oder eben die neuen, dass sie »alle betteln« etwa. Was manchmal gesagt wird: Dass es in der Verantwortung der Roma, Sinti, Jenischen liegt, dass man von ihnen nichts wisse. Stimmt aber nur bedingt. Denn an Aktivitäten und AktivistInnen, Vereinen und so weiter der Roma fehlt es ja nicht. Bloß versuchen die meisten seit Jahrzehnten auch nur mit dem alten Klischee voranzukommen. Leider auch Realität. Eine, auf die Roma-, Sinti-, Jenischen-AktivistInnen aber zu oft vergessen. Dabei überrollt einen die Zeit schneller als gedacht. Und man bemerkt
vielleicht vor lauter Folklore gar nicht mehr, was schon geschieht: Dass Roma zu Sündenböcken gemacht werden. In einer ökonomisch unsicheren Zeit.
Nicht nur Ungarn steht kurz vor dem Bankrott. Aber dort zeigt sich das Phänomen der »Rassifizierung« von ökonomischen Verhältnissen derzeit am stärksten. Denn immer offener werden Roma als »arbeitsscheu« stigmatisiert. Laut einer Umfrage teilen in Ungarn ungefähr Dreiviertel (!) der Bevölkerung diese Meinung. Zementiert wird diese Haltung dann noch durch »wissenschaftliche« Studien. Jüngstes Beispiel: Die Publikation des Budapester Uniprofessors und derzeitigen ungarischen Botschafters in Norwegen, Géza Jeszenszky. Der schrieb, dass »die hohe Anzahl von Geisteskranken unter den Roma darauf zurückzuführen ist, dass es in dieser Kultur erlaubt ist, dass Brüder und Schwestern heiraten und sexuelle Beziehungen miteinander haben dürfen.«
Immerhin: Über 100 Universitätsangehörige der Corvinius Universität in Budapest haben dagegen protestiert. Aber: Das ungarische Außenministerium stellte sich hinter den Botschafter. »Man kann Jeszenszky nicht unterstellen, dass er Vorurteile hat«, erklärte ein Sprecher, »allein seine letzten Publikationen zeigen, dass er sich für die Rechte von Minderheiten einsetzt.« Das Ministerium stehe voll hinter ihm, ein Rücktritt komme nicht in Frage…
So komme ich nicht umhin, an die nationalsozialistische Rassenbiologie zu denken, an die Untersuchungen und Publikationen eines Robert Ritters, an den von ihm diagnostizierten »erblich bedingten Schwachsinn der Jenischen«. Dass es bei ihm (1937) hieß: »Der Drang, unstet herumzuziehen, lag ihnen ebenso im Blut wie der Hang, jeder ernsten Arbeit aus dem Wege zu gehen«.
Wenn ich diese Inzest-Behauptung von Jezensky lese, ist mir klar, was sich hier wiederholt. Und ich ahne schon die weiteren Schritte. So wie Robert Ritter wird sich der Herr Botschafter wahrscheinlich bald auch äußern. Ritter: »Ein Nachwuchs …ist vom Standpunkt der Erb- und Rassenpflege nicht erwünscht.«
In Zeiten der Rezession und befürchteter Staatsbankrotte tut es der Mehrheit anscheinend gut, wenn man ihr die Roma als abschreckende Beispiele vor Augen führt (Bettler, Slums). Das hat die nationalpopulistische Politik in ganz Europa längst erkannt.
Dieses Konstrukt der Roma, quasi als allerunterste Schicht, auf die selbst die Ärmsten noch treten dürfen, führt zu immer offenkundigerem Rassismus. Und zeigt sich nicht nur in Ungarn, aber eben dort zur Zeit am Ungeniertesten.
In Siófok etwa wurde dieses Jahr die Roma-Bevölkerung von der Ausgabe der Lebensmittelpakete ausgeschlossen, die die Caritas mit der örtlichen katholischen Kirche ausgibt. Dem Vorsitzenden der Roma-Organisation wurde gesagt, die Unterstützung richtete sich an »unter dem Existenzminimum, ohne eigenes Verschulden an der Grenze des Existenzminimums lebende Familien, sowie Rentner mit kleinen Renten«. Es stünden »zu viele Roma« auf der Liste. Im Jobbik-Organ Barikád stand daraufhin: »Die Zigeuner toben, weil sie in Siófok keine Hilfsleistungen bekamen.« Im Blatt Hunhír: »Die Zigeunerparasiten haben randaliert, weil sie kein Paket bekommen haben.«
Es ist eigentlich unschwer zu erkennen, dass die Armut unter den Ungarn ein Problem ist, das nicht nur Roma betrifft. Aber: Indem man immer stärker betont, dass die Roma ein »soziales Übel« sind, gelingt es scheinbar gut, von der allgemeinen Armut abzulenken. Das Betonen ihrer »Arbeitsscheu« mag sogar als Motivator funktionieren, um
für immer niedrigere Löhne noch mehr Arbeit zu verrichten ohne aufzubegehren.
In der kollektiven Wahrnehmung existieren Roma in Europa ohnehin nur noch als eine Millionenschaft von Armen und, ja, durchaus auch mitschwingend »Asozialen«. Was wahrgenommen wird, sind endlose Reproduktionen, die man mittlerweile für real hält. Die Realität indessen wird bedrohlich. Zwar nicht für die Mehrheit der Roma in Europa, die - mehr oder weniger unerkannt – leben. Sondern für die, die sichtbar sind, deren Realität der Vorstellung entspricht, die, freilich unfreiwillig, in Slums mitten in Europa ihr Dasein fristen. Und gegen die sich europäische Bürger (uni)formieren, um sie »in Schach zu halten«. Man sorgt vorsorglich für »Sicherheit«. Was heißt, dass vor Roma-Siedlungen »Stärke« demonstriert wird.
Auch wenn die in Schach gehaltenen auch EU-Bürger sind. Aber eben, Pech gehabt, quasi: »falsche Rasse, falsche Klasse«, um es ganz zynisch auf den Punkt zu bringen.
Diskriminierung und Vertreibung der Roma findet in Europa statt. In Europa, das immer härtere Asylverfahren durchsetzt, aber tunlichst vermeidet, darüber zu reden, dass die meisten Asylanträge in Kanada von europäischen Roma gestellt werden. In anderen Worten gesagt: EU-Bürger stellen einen Asylantrag in Kanada, weil sie sich in Europa an Leib und Leben bedroht fühlen – und das bloß, weil sie Roma sind.

Angesichts der zunehmenden Diskriminierung, des steigenden Anti-Romaismus und der zunehmenden Toleranz gegenüber dieser Haltungen frage ich mich seit einiger Zeit, wann es soweit sein wird, dass Roma beginnen, sich sichtbar dagegen zu wehren.
In meiner Phantasie kursieren da schon längst allerhand mögliche Strategien, aber, rein fiktional, gibt gewaltfreier Widerstand lange nicht soviel her wie der Selbstschutz. Und real gesehen würde ich meine Familie ja auch mit Zähnen und Klauen verteidigen…
Nun, in Ungarn, in der Stadt Pécs, wurde im Sommer eine Roma-Selbstschutz-Garde als Verein gegründet. Man kann davon ausgehen, dass dies eine Notwendigkeit war. Ferenc Bagó, der Gründer, beschrieb das Vereinsziel so: Man werde »Roma, Juden und alle sich bedroht fühlenden Minderheiten auf Anforderung beschützen, bis die Polizei eintrifft«.
Die Gründung der Roma-Selbstschutz-Garde wurde in allen europäischen Medien erwähnt, allerdings fiel der Selbstschutz immer weg – und übrig blieb Roma-Garde. Was bedrohlich klingt. Bedrohlicher scheinbar als die anderen, ungarischen Garden und Bürgerwehren. Denn lange währte der Roma-Selbstschutz nicht. Ferenc Bagó wurde nach einem Interview im Pécser Stadtfernsehen von der Polizei, mit Unterstützung der Antiterroreinheit TEK, verhaftet. Aber: Die Verhaftung von Bagó sei nicht wegen Terrorismus, sondern wegen einer Vorstrafe erfolgt. Das wurde bekannt gegeben. Als Vorbestrafter dürfe man in Ungarn keinen Verein gründen. Die Antiterroreinheit war wohl nur versehentlich vor Ort. Und unversehens verschwand Ferenc Bagó. Und seither ist über seinen weiteren Verbleib nichts mehr in Erfahrung zu bringen…

Quellen:

Eingangszitat: aus »re:mondo«, Roman, Edition Meerauge.
Alle weiteren Zitate aus dem Blog von Marika Schmiedt: marikaschmiedt.wordpress.com