Elle est la dernière que l’ on oubliera
La première fille qu’ on a pris dans ses bras.
Georges Brassens
Wie fast alle Erfolge beruht der von Michael Hanekes in diesem Herbst in die Kinos gekommenem Film Amour auf einem Missverständnis. Haneke gelinge es, war unisono in den Elogen zu lesen, zwei alte Menschen zu zeigen, die fast ein ganzes Leben miteinander geteilt haben und einander so sehr zugehören, dass der Mann, Georges, ein alter Musikprofessor, gespielt von Jean-Louis Trintignant, seine Frau Anne (Emmanuelle Riva), die früher Pianistin war, auch beim Weg in den Tod gefühlvoll begleitet, statt sie der herzenskalten Apparatemedizin zu überlassen: ein rührendes Exempel menschlicher Unmittelbarkeit in einer inhumanen Welt. In Wahrheit beruht die tiefe Erschütterung, die Hanekes Film tatsächlich hinterlässt, auf dem Kontrast zwischen der dargestellten großbürgerlichen Lebenswelt und jener Realität, die er verschweigt. Ähnlich wie Hanekes voriges Werk, Das weiße Band, eine Geschichte vom Vorabend des Ersten Weltkriegs erzählt, die implizit in jeder Einzelheit vom aufkommenden Nationalsozialismus handelt, bezieht sich Amour in jeder Nuance auf die kärgliche, nachbürgerliche Gegenwart, in der die Menschen Beziehungen führen, statt sich zu lieben, und in der statt gestorben nur noch krepiert wird. Über diese Gegenwart richtet Haneke, indem er sie auslässt.
Ihre Repräsentantin im Film, der fast ausschließlich in den anachronistisch eingerichteten Innenräumen der riesigen Bürgerswohnung des Ehepaares spielt, ist deren Tochter Eva (Isabelle Huppert), die dem zurückgezogenen Leben der greisen Eltern fremd und hilflos gegenübersteht, obwohl sie, darin noch ganz bürgerlich, beruflich in ihre Fußstapfen getreten ist. Das von professionellem Dauerstress und routiniertem Betrug geprägte Verhältnis zu ihrem Mann verdiente es in der Tat, Beziehung genannt zu werden, und am Ende, nachdem Georges seine sterbenskranke Frau in einer erschreckenden Szene mit einem Kissen erstickt und sich selbst mit Gas umgebracht hat, sitzt die Tochter in der leeren Elternwohnung wie eine vergessene Patientin im Wartezimmer. Von den Eltern, die der Film den Zuschauern bei all seiner Distanziertheit nahebringt wie intime Freunde, ist sie nicht nur durch die soziale und generationelle Kluft getrennt, sondern durch die Gewissheit, nie so lieben und nie so sterben zu werden wie sie. Und das nicht einmal aus persönlicher Unfähigkeit, sondern weil die Liebe und der Tod bis ins Innerste geschichtliche Phänomene sind. Die Hoffnung, in der Liebe wie im Sterben, den beiden wohl stärksten Erfahrungen von Selbstpreisgabe, die Menschen zu machen vermögen, die individuelle Freiheit zu bewahren, erscheint in der Gegenwart, an die Hanekes Film sich richtet, ebenso antiquiert wie die Möbel in der Wohnung von Georges und Anne.
Amour wird wohl unter der Rubrik »Filme über das Alter« abgeheftet werden. Dass er gerade das nicht ist, sondern von der Relativität von Alter und Jugend erzählt, darauf weist er selber hin. In einer Szene des Films, als Anne körperlich bereits irreversibel angeschlagen ist, schaut sie sich verblichene Fotos aus ihrer Jugend an, auf denen sie mit lauter Unbekannten, aber auch mit dem jungen Jean-Louis Trintignant zusammen zu sehen ist. Obwohl die Geschichte dieser Fotos im Film nie erzählt wird und man auch sonst kein Wort darüber erfährt, wie Anne und Georges sich kennengelernt und welches Leben sie geführt haben, erscheinen die Leute auf den in den Tagesresten der Jahrzehnte fast vergessenen Fotografien vertrauter als die wirklichen Menschen, mit denen die Beiden es zu tun haben: der ungelenke junge Pianist, der einmal Annes Schüler war, aber keinen Zugang zu ihrem gegenwärtigen Leben und Leiden hat, die brutale Pflegerin, deren sachliche Rohheit Georges so abstößt, dass er ihr kündigt, und Eva, die Georges bei ihren Höflichkeitsbesuchen mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenübersitzt wie bei einem steifen Bewerbungsgespräch. Die Menschen, die Anne und Georges überleben werden und deshalb die Zukunft verkörpern, sind beiden fremder als ihr eigenes Jugend-Ich, von dem der Film nur deshalb nichts erzählt, weil es in ihnen bis aufs Äußerste sublimiert lebendig geblieben ist. Was zunächst Ausdruck der Gewohnheiten und Tics zu sein scheint, die sich in einer lebenslangen Ehe entwickeln – dass Anne und Georges nur wenig miteinander reden, sich oft sogar unfreundlich anfahren, ohne jedoch darüber in Streit zu geraten, und an ihrer Zweisamkeit gar nicht so sehr zu hängen scheinen, weil sie ihnen selbstverständlich ist –, all das hat in Wahrheit gar nicht viel mit der Dauer der gemeinsam verbrachten Zeit, sondern mit jenem aus liebender Achtung der gegenseitigen Fremdheit entstehenden Geflecht zu tun, das früher Seelenverwandtschaft genannt wurde und das als Hoffnung in jeder ersten Liebe lebt.
Es ist kein Zufall, dass Hanekes Film, sein bislang mit Abstand französischster, bis in die Verästelungen seiner Formsprache hinein an die Filme Eric Rohmers erinnert, an die so intime wie unengagierte Tradition des französischen Kinos also, die seit jeher bevorzugt von Jugendlieben erzählt. Denn so wenig wie die Liebe im Alter jene abgeklärte Weisheit hat, die ihre Lobpreiser ihr andichten, so wenig hat die erste Liebe mit den Klischees zu tun, mit denen ein ganzes Arsenal schlechter Highschoolkomödien, Ferienfilme und Pubertätsdramen sie umstellt. Tatsächlich nimmt sie, halluzinatorisch fast, das ganze Leben vorweg, in dessen residualer Vergangenheit bei Haneke noch einmal die Erinnerung an ein Versprechen aufleuchtet, das die Gegenwart nicht mehr macht. Denn die erste Liebe ist gar keine Frage des Alters oder der Chronologie. Sie kann sich statt in der Jugend auch in der Mitte des Lebens oder im Alter ereignen und muss sich nicht an der Person entzünden, mit der man zum ersten Mal, wie das so heißt, zusammengewesen ist. Das Erste an ihr ist keine Frage des Zeitpunkts, sondern der Qualität: Es bezeichnet die Erfahrung, dass von jenem Augenblick an alles anders ist, dass man diesen Menschen, auch wenn er irgendwann einmal vielleicht verschwunden ist, immer in sich tragen wird. Darin liegt ihr unbedingter Ernst und ihre Endgültigkeit, selbst wenn sie flüchtig bleibt. Sie zerteilt das individuelle Leben unwiderruflich in ein Davor und ein Danach, eine Trennung, die von keiner späteren Erfahrung je wieder rückgängig gemacht werden kann. Durch eben diese Unbedingtheit duldet sie aber auch andere Lieben neben sich: Sie ist ausschließlich, weil sie sich mit nichts vergleichen und durch nichts relativieren lässt, aber nicht eifersüchtig, weil sie weiß, dass sich neben ihr und trotz ihrer das Gleiche, Unvergleichliche noch einmal ereignen kann.
Aus der Duldsamkeit und freiwilligen Selbstbeschränkung, die solche Liebe erst unwiederbringlich macht, erklärt sich die Leichtigkeit, mit der in den Filmen von Rohmer ein Gegenstand behandelt wird, der im populären und didaktischen Kino fast ausschließlich als Ausgangspunkt von Konflikten und sogenannten Lernprozessen fungiert. Rohmer, in dessen Filmen die jungen Menschen sich fast ständig ineinander verlieben, einander verlassen, zueinander zurückkehren oder sich in immer neuen Konstellationen zusammenfinden, evoziert auf einzigartige Weise eine Atmosphäre beglückender Konfliktlosigkeit, in der die Widersprüche, die Ängste, die Trauer und die Scheu der jungen Liebe zwar stets vorhanden sind und nie geleugnet werden, jedoch zugleich merkwürdig weit weg, bedeutungs- und gefahrenlos erscheinen. In dieser Atmosphäre ist der Eindruck der Langeweile begründet, den Rohmers Filme auf viele Zuschauer ausüben. Tatsächlich geschieht in ihnen nahezu nichts: Junge Leute lernen sich kennen, reden miteinander, gehen voneinander weg und begegnen anderen, meist vor dem Hintergrund einer Welt, in der immer Ferien zu sein scheinen, alle genug Zeit und Geld zum Reisen haben und genug Phantasie und Geist, um lange, ensthafte Gespräche in Schlafzimmern und Caféhäusern zu führen. Wie niemand sonst hat Rohmer begriffen, dass die junge, noch nicht in ihren Gewohnheiten erstarrte Liebe, ja vielleicht liebevolles Verhalten zwischen Menschen überhaupt, sich nur auf dem Grund einer solch seligen Langeweile entfalten kann. Wo man ständige emotionale Wechselbäder gewahren muss, an jeder Ecke Krisen und in jedem Gespräch Intrigen lauern, vermag sich die glückliche Konvergenz von Selbstgewissheit und Selbstvergessenheit nicht einzustellen, die aus Rohmers Figuren so durchweg freundliche und interessante Menschen macht, dass sie aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen.
Heute nämlich gilt, darin sind sich humorlose Komödien, beziehungspädagogische Lehrfilme und die Schundblätter für Jugendliche einig, die erste Liebe vor allem als emotionales und sexualpolitisches Experimentierfeld, auf dem die noch unfertigen Charaktermasken wie in der nachmittäglichen Bastel-AG allerlei ausprobieren, ihre Stärken, Schwächen und Grenzen austesten und auf diese Weise lernen können, schon mit 16 so kalt, dumm und egal zu werden, wie sie es an den älteren Jahrgängen bewundern. Der tägliche Liebes-Check, mit dem die einschlägige Presse jungen Menschen die intime Selbstevaluation ermöglicht und der sich reger Nachfrage erfreut, von »Woran erkenne ich, dass er wirklich mein Typ ist?« über »Passen wir zueinander?« bis zu »Wie mache ich ihn heiß?«, demonstriert in Wahrheit, dass mittlerweile selbst am Anfang, wenn alles noch offen scheint und Erfahrungen allererst gemacht werden wollen, bei den allermeisten Menschen bereits die Resignation steht: Wer außer die Illusionslosen hätte Bedarf nach Rezepten, Gebrauchsanweisungen und Deutungsmustern für eine Situation, deren Dignität doch darin besteht, dass sie sich selbst erklärt? Wenn bei solchen Frühdementen, die den Unterschied zwischen Autonomie und Selbststeuerung schon gar nicht mehr kennen, dann tatsächlich einmal die Liebe einschlägt wie der Blitz, kann man sicher sein, dass die euphorische Verblendung, von vornherein fehlgelenkt, statt die Erkenntnis die Verblödung befördert. Nur weil die Möglichkeit zur in ihnen sedimentierter Erfahrung längst nicht mehr gegeben ist, verschwinden die Jugendlieben des früheren französischen Kinos heute in Langeweile und Vergessenheit. Haneke dagegen weist, indem er ein anachronistisches Schicksal schildert, darauf hin, wie alt die einst frischen Hoffnungen geworden sind, und ruft zum vielleicht letzten Mal ins Gedächtnis, dass ein Leben, das schon mit 18 verschlossen und versiegelt ist und die Erfahrung des Alters niemals kennen lernen wird, kaum mehr verdient, so genannt zu werden.