Ich möchte meinen Text über Liebe, Jugendliche, Popkultur und Normierungen mit einem Lied von Christiane Rösinger beginnen. Dieser Song der Band Lassie Singers aus dem Jahr 1996 ist einer der endlos vielen Popsongs, der sich mit dem Thema Liebe beschäftigt. Aber er ist einer der wenigen, vielleicht sogar der einzige – ich persönlich kenne keinen anderen – der weder die Euphorie der Liebe noch das Leiden an ihr besingt. Auch handelt er nicht von der Abwendung vom Liebesobjekt oder von der Absage an die Liebe als Ganzes aus maßloser (Liebes-)Enttäuschung – es geht um etwas ganz anderes, viel Radikaleres. Der Text von »Liebe wird oft überbewertet« stellt die Relevanz der romantischen Liebe an sich in Frage – und erschüttert damit das Fundament nicht nur der bürgerlichen Liebesehe, auf dem unsere Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert basiert, sondern auch die wirtschaftliche Grundlage einer gesamten Industrie, nämlich der unterhaltenden bzw. der Popkultur, in der sich (fast) alles um zwischenmenschliche Sehnsüchte dreht.
»Liebe wird oft überbewertet
Liebe ist nicht so wichtig wie man denkt
Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens
und die anderen Teile sind auch nicht schlecht
Überflüssige Liebeslieder falsch und schlecht und laut
Tun so als wär‘ das Leben auf der Sehnsuchtsbasis aufgebaut
und das stimmt nicht das ist ganz falsch denn:
Liebe wird oft überbewertet
Liebe ist nicht so wichtig wie man denkt
Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens
und die anderen Teile sind auch nicht schlecht
Überflüssige Liebesfilme
Handlung unwahrscheinlich familiengerecht
Jugendliche werden so darauf konditioniert
dass das Leben nur als Paarbindung funktioniert,
Überflüssige Werbefilme
Körpergebirgsergriffenheitssex
Partnervermittlung wird immer obszöner und fragt:
Wäre Fernsehen zu zweit nicht viel schöner?
Nein, Pfui Teufel
Liebe wird oft überbewertet
Liebe ist nicht so wichtig wie man denkt
Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens
und die anderen Teile sind auch nicht schlecht
Liebe... Ist nicht wichtig
Liebe... Ist Baldrian fürs Volk
Liebe... ist eine Korkwand
aus Flokati
ist tautologisch
nämlich Liebe
Was soll das?«
Obwohl der Text mit der für Rösinger so typischen Leichtigkeit und Ironie daher kommt, ist seine Aussage explosiv. Erst nach mehrmaligem aufmerksamen Lesen (bzw. Anhören) der schnoddrigen Sätze im lustigen Behauptungsstil sinkt ihre volle Bedeutung ein: Wie bitte, Liebe soll gar nicht so wichtig sein? Gar nur ein Teilaspekt des Lebens? Wie kann das sein? Ist Liebe nicht Krönung und Lebenszweck jedes Individuums? Wird den Menschen nicht schon von klein auf die partnerschaftliche Traumbeziehung als Erfüllung all ihrer Wünsche, als höchstes und vor allem selbstloses Lebensglück vermittelt?
Eben genau das ist nach Rösinger der Punkt: »Überflüssige Liebesfilme / Handlung unwahrscheinlich familiengerecht / Jugendliche werden so darauf konditioniert / dass das Leben nur als Paarbindung funktioniert«. Staatlich vermittelte Ideologie (Heirat als privilegierte Lebensform) und Produkte der Kulturindustrie (Liebesfilme, Liebessongs, Love Stories etc.) ergeben zusammen ein paradoxales Bild: Liebe ist das Kostbarste der Welt, da sie unbezahlbar ist, und gleichzeitig lässt sich mit diesen Sehnsüchten eine Menge Geld verdienen und viel gesellschaftliche Stabilität herstellen – wer glücklich verpartnert ist, zieht sich womöglich, vor allem, wenn Kinder da sind, ins häusliche Cocooning zurück und hat dann weniger Zeit für beispielsweise politischen Protest.
Ich erinnere mich an meine Jugendzeit in einer süddeutschen Kleinstadt, in der ich heimlich Jugendmagazine wie Bravo, Bravo Girl oder Mädchen verschlang (heimlich, da mir, ohne mit meinen Eltern je explizit darüber gesprochen zu haben, implizit immer klar war, dass in meinem BildungsbürgerInnenhaushalt diese Heftchen als »Schund« abgetan werden würden, was ihre Attraktivität für mich umso mehr steigerte). Ich lernte einiges aus diesen Magazinen – z.B., dass es so etwas wie ein Jungfernhäutchen gibt, das beim ersten penetrativen Sex gewaltsam durchstoßen werden muss, was mich aufgrund der von mir so wahrgenommenen Geschlechterungerechtigkeit bereits als 11-Jährige in Rage brachte. Doch während US-amerikanische Stimmen, wie z.B. das popfeministische Magazin »Bust«, bspw. die Bravo als Errungenschaft einer offenen und aufklärerischen Sexualmoral für Jugendliche feiern, was natürlich hauptsächlich vor dem Hintergrund der puritanischen amerikanischen (Doppel-)Moral zu sehen ist, in der jede Form von Nacktheit sofort zensiert wird, blieb bei mir etwas ganz anderes hängen.
Dass Sex nicht nur zu dem Zwecke stattfinden sollte, Babys zu produzieren, wie uns unsere Biologielehrerin Ende der 1980ern allen Ernstes noch weis zu machen versuchte, hatte ich schon lange kapiert – Sex war etwas Tolles, Aufregendes, wenn auch Gefährliches, das wusste ich aus unzähligen Filmen, Fernsehserien und Popsongs. Doch die Botschaft, die ich aus Mädchen & Co in erster Linie mitnahm, war die, dass eine romantische »Beziehung« – und damit war natürlich so gut wie immer eine heterosexuelle Beziehung gemeint – essentiell war. Fragen wie »Wie weit soll ich mit ihm gehen?« und »Er möchte mehr – aber bin ich schon bereit?« vermittelten mir vor allem eines: dass ich, die ich immer nur auf Parties rumknutschte und den ersten festen Freund erst mit 18 hatte (als ich schon lange keine Teeniezeitschriften mehr las), irgendwie defizitär war. Mir fehlte etwas, und zwar etwas sehr, sehr Wichtiges: die Liebe. Stunden verbrachte ich damit, in mein Tagebuch zu kritzeln und darüber zu sinnieren, wie ich Typ X oder Y dazu bringen könnte, mein Freund werden zu wollen, und mich zu fragen, wie ich denn nun »den einen finden könnte, der mich richtig liebt und mich so akzeptiert, wie ich bin«. Dabei war ich die meiste Zeit glücklich und ausgefüllt in meinem vorstädtischen Teenagerinnenleben: ich hatte keine gröberen Probleme in der Schule oder zu Hause. Dafür hatte ich aber eine coole beste Freundin an meiner Seite, mit der ich auf Konzerte trampte, die erste Zigarette oder den ersten Schluck Schnaps probierte und auch sonst allerlei Schabernack trieb. Das junge Pärchen in meiner Klasse, das mit 15 schon gemeinsam in Urlaub fuhr und mit einem Tandem (!) durch unseren Ort radelte, fand ich zwar irgendwie lächerlich, aber dennoch beneidete ich sie, dass sie schon so früh »erwachsen« spielen konnten. Erst als ich dann wirklich an meinem neuen Wohnort in einem steirischen Dorf den ersten richtigen Freund hatte, mit dem ich all die Dinge machte, die junge Erwachsene so miteinander tun – die ganze Zeit miteinander verbringen, Sex haben, streiten etc. –, merkte ich rückblickend, wie viel Glück ich eigentlich gehabt hatte. Während in meiner Teeniezeit die jungen Pärchen sich in ältliche Beziehungsdynamiken verstrickten, die ich nun auch kannte, inklusive Zeit- und Kräfte raubende Eifersuchtsdramen, fuhr ich mit meinen beiden besten Freundinnen nach Italien zum Zelten, wo wir den anderen UrlauberInnen kichernd Streiche spielten und uns gemeinsam die Nächte um die Ohren schlugen.
Ich hole an dieser Stelle deswegen so weit und so persönlich aus, weil damals vermutlich der Grundstein für all das gelegt wurde, was mich später in meinem beruflichen wie auch privaten Interesse umtreiben würde: die Idee von einer freundschaftlichen (weiblichen) Solidarität abseits von Pärchenideologien. Für die plädiert ja letzten Endes auch Christiane Rösinger, wenn sie in ihrem auf dem bereits zitierten Songtext basierenden Buch »Liebe wird oft überbewertet« schreibt: »Wer sich aus alldem raushält und allein lebt, braucht aber nicht auf ein reges Gefühlsleben verzichten. Denn das lässt sich auch außerhalb einer Beziehung finden: durch vielfältige Kontakte, durch intensive Freundschaften, aufreibende Seelenverwandtschaften, herzliche Kameradschaften, solidarische Nähe, Freundinnenverbände, in der Gruppe, Clique, in der WG, im Freundesschwarm«.
Und wäre ich nur ein paar Jahre später Teenager gewesen und hätte ich damals schon Zugang zu internationaler Subkultur gehabt, hätte ich im Song »Rebel Girl« von Bikini Kill (1993) eine Wertschätzung weiblicher Freundinnenschaft und einer anderen Konzeption von Liebe gefunden, die vielleicht mein Denken auch ganz explizit verändert hätte. Gegen Ende des rotzigen, fast brachialen Stücks singt Kathleen Hanna: »Rebel girl, you are the queen of my world / Rebel girl, Rebel girl / I know I wanna take you home / I wanna try on your clothes / Love you like a sister always / Soul sister, Rebel girl / Come and be my best friend«.
Natürlich haben Jugendliche heute per Mausklick Zugang zu einem riesigen Archiv von Popkultur. Dennoch werden sie doch durch die dominanten Kanäle von dominanten Messages überspült – denn wer sucht, müsste zuerst auch wissen, wonach sie oder er eigentlich suchen möchte. Auch wenn heute Lady Gaga als alien‘eske Schwulenikone das Recht darauf besingt, »born this way« zu sein und das auch gut zu finden, auch wenn Beth Ditto, ihres Zeichens eine Ikone des Fat Acceptance Movement, in »Standing in the way of control« das Recht auf die Homoehe einfordert, so sind es doch eher die regelkonformen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und der »natürlichen« Liebe zwischen beiden Seiten, die à la »Twilight« auf die Jugendlichen regelrecht einstürmen. Denn auch wenn Superstars wie Beyoncé oder Katy Perry mitunter ein paar kritische Tönchen zum Geschlechterverhältnis anstimmen (wobei Perrys »I kissed a girl« mit seiner Bedienung des Klischees des Lesbianismus zur Erfüllung männlicher Schaulust richtiggehend ärgerlich war), sind die Vorstellungen davon, wie Männer und Frauen zu ticken und zu fühlen haben, gerade im Pop mitunter nicht besonders weit von denen der 1950er Jahre weg. Doch auch im Hinblick auf die queeren, nonkonformistischen Stimmen, die auch im Mainstream immer lauter werden, muss die Forderung von Christiane Rösinger nach Selbstentwürfen jenseits der Romantik, die hier ebenfalls nicht bedient werden, immer noch betont werden. Warum nicht mal euphorische Balladen für die beste Freundin, die Clique oder die polyamouröse WG? Dann wäre Pop wirklich wieder revolutionär – und die Kids hätten die Möglichkeit wahrzunehmen, dass man ohne Beziehung nicht nichts ist.