Angesprochen auf einige Passagen in seinem sehr lesenswerten Aufsatz »Wider den Vorrang des Subjekts. Über materialistische Kritik und Kunst.« [1] hat sich Clemens Nachtmann dazu bereit erklärt, einige Fragen zum Problem der »Vermittlung« in der »Neuen Musik« zu beantworten. »Vermittlung« umfasst dabei sowohl die Art und Weise, in der neue Musik Menschen näher gebracht wird, als auch die Frage, inwiefern Außermusikalisches (Gesellschaftliches) in Musik aufgehoben ist; sowie ob und wie Musik dieses preisgibt. Aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit konzentrierte Nachtmann sich auf den erstgenannten Aspekt: die »sekundären« Vermittlungsformen des herrschenden Kulturbetriebs.
Im strengen Sinne läßt sich keine Kunst »vermitteln« und damit auch keine Art von Musik, wenn »vermitteln« so viel heißt wie: Menschen in behutsamen Schritten an Kunst heranführen, sie ihnen schmackhaft machen, sie ihnen erklären etc. Nun sind diese Vermittlungsversuche fast immer unendlich gut gemeint – und genau das ist das Problem, denn gut gemeint ist in aller Regel das gerade Gegenteil von gut. Das Problem an der »Vermittlung« ist also weder die mangelnde Aufrichtigkeit der Vermittler noch sind es oft die vermittelnden Maßnahmen im Einzelnen, sondern dass ihnen etwas zugemutet wird, was sie nicht leisten können, weil nämlich eine einfache Tatsache nicht beachtet wird: Ebensowenig wie man für die Freiheit werben oder gar Propaganda machen kann, kann man durch Vermittlungstätigkeiten jemanden für Kunst begeistern. Alle »Vermittlungen« werden nur Leute erreichen, die sich bereits von Kunst haben ergreifen lassen, die, auf welche Weise auch immer, von Kunst bereits affiziert sind, mit dieser Art der Weltaneignung überhaupt etwas Substantielles verbinden und von ihr Aufschluss erwarten.
Dass die »Vermittlung« von Kunst aber so hoch im Kurs steht, dass man von ihr oft wahre Wunder erwartet, passt allerdings zu gesellschaftlichen Verhältnissen, deren Kennzeichen es ist, dass in ihnen durchgängig die Mittel auf Kosten des zu Vermittelnden fetischisiert werden. Und zum anderen ist die allgemeine Wertschätzung der Kunst-Vermittlung die adäquate Legitimation all derer, die als Kuratoren, Veranstalter, Rezensenten in der Kulturindustrie ihr Auskommen finden und das auch weiterhin tun wollen und sich zu diesem Zweck, aus dem banalen Interesse an Arbeitsplatzsicherung, die angeblich herausragende und für das Wohlergehen einer Gesellschaft unabdingbare Wichtigkeit ihrer Tätigkeit gerne bestätigen lassen. Oder anders und noch etwas unfeiner gesagt: in der Kunst finden die Exekutoren des Kulturbetrieb ein besonders unverdächtiges und über jeden Zweifel erhabenes Legitimationsvehikel, um sich selbst bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufdringlich in den Vordergrund zu manövrieren. Und der Effekt ist, dass mittlerweile selbst Veranstaltungen, die sich erklärtermaßen abseits kulturindustrieller Massenspektakel halten, zu Events werden, die der Drohung »Da kannst Du was erleben« ungeahnten Nachdruck verleihen. Geht man heutzutage zu einem Festival, um gezielt neue Musik zu hören, wird man sofort betatscht und bedrängt von allerlei Erlebnisangeboten, die angeblich der Vermittlung der Kunst dienen sollen, in Wahrheit aber der Möglichkeit, von Musik berührt zu werden, im Wege stehen: alberne und sachfremde Motti, gegenstandslose und geschwätzige Programmtexte, ausführliche und sinnverlassene Interviews, das Konzert flankierende nichtige Klanginstallationen, Buffets mit angeblich auf die Musik abgestimmten Häppchen und Wein etc.
Kunst bedarf aber keiner ausgeklügelten Vermittlungsstrategien, sondern vielmehr einer selbstverständlichen Präsenz, keiner raffinierten Präsentationen, die immer ein bisschen nach Verlegenheit aussehen, als ob die Vermittler der Überzeugungskraft des Kunstwerks nicht trauten, sondern vielmehr der Möglichkeit, dass Menschen sich mit ihr ganz selbstverständlich umgeben können. Das gilt besonders für moderne Kunst und ganz besonders für Neue Musik. Neue Musik muss einfach da sein, in den Konzerten, in den Radio- und Fernsehprogrammen, und zwar erstklassig gespielt, mit Angabe von Komponist, Titel, Entstehungsdatum, vielleicht noch mit einer knappen, aber kundigen Anmoderation – das reicht. Mittlerweile ist das fast eine utopische Forderung, aber das war sie nicht immer und müßte es auch künftig nicht sein. Ein Kollege, der Komponist Enno Poppe, Jahrgang 1969, erzählte neulich in einem Interview, wie er zur Neuen Musik kam und welche Rolle dabei das Radio spielte: »So gab es in den frühen achtziger Jahren im WDR Köln zu allen Zeiten Neue-Musik-Sendungen, nachmittags um vier und mittags um zwölf. Jederzeit konnte man Neue Musik hören dort, es war sensationell.« (MusikTexte 142, S.47)
Gerade im Hinblick auf die Neue Musik bewirken die üblichen Vermittlungen oft das Gegenteil des Intendierten. Denn der ganze Aufwand und die ganze Wichtigtuerei ums Vermitteln unterstellt ja dem Gegenstand eine besondere »Schwierigkeit« und den Hörern eine besondere Hilflosigkeit, die jeweils zu beheben die Vermittler berufen seien. Unterstellt wird also, dass zur Erfahrung von Musik generell und von Neuer Musik im Besonderen ein längeres Studium und ganz besondere Kenntnisse philosophischer oder fachterminologischer Art notwendig seien. Und ganz nebenbei wird bei allem vermittlerischen up-to-date-Getue der alte kulturreligiöse Weihrauch verbreitet, weil so getan wird, als müsse sich ein jeder, der seine Erfahrungen mit Neuer Musik ausdrücken möchte, besonders gewählt, erlesen, hochgestochen und wissenschaftlich gut begründet artikulieren.
Dabei ist es doch ganz anders und viel einfacher: Musik – das wäre eine erste Annäherung an eine Definition – ist eine Kunst, die so unmittelbar zu wirken vermag wie keine andere: Aufgrund der Schutzlosigkeit des Sinnesorgans Ohrs geht einem Musik immer »zu nahe«, nämlich direkt auf die Nerven. Die Hörsituation ist immer eine der Unmittelbarkeit: ein Hörer ist stets der Musik ausgesetzt, Schutzlosigkeit ist sein Grundzustand. Und die Musik, auch die komplizierteste und komplexeste, ist zunächst einmal eine in sich strukturierte Folge von Klangereignissen, die beim Hörer einen bestimmten Eindruck hinterlassen – während des Hörens und danach, wenn sich in der Vorstellung die Musik als ein Ganzes, eine Gestalt, als etwas Geformtes darstellt.
»Eindruck« ist dabei ein Begriff, den man ganz naiv, ganz unmittelbar nehmen sollte: Man wird nicht nur intellektuell, geistig, mental, emotional von Musik tangiert, sondern sie hinterlässt einen auch körperlichen »Eindruck« – und dieser Eindruck ist in der Regel zutiefst ambivalent: Es müssen nicht nur Glücksgefühle oder angenehme Empfindungen sein, die sich mit einer bestimmten Musik verbinden. Das kann man ganz einfach überprüfen, wenn man sich die Worte genau besieht, in denen man besonders eindrückliche musikalische Erfahrungen mitzuteilen pflegt: wenn Musik uns »fesselt«, dann befinden wir uns in einem Zustand der Unfreiheit und empfinden das offenbar als angenehm oder zumindest nicht unangenehm. Und wie es bei ambivalenten Eindrücken oft so ist: Aus einer anfänglichen heftigen Abneigung kann eine große Liebe werden. Aber es ist auch gut möglich, dass einem eine Musik »nichts sagt«, einen nicht berührt, kalt lässt, gleichgültig bleibt. Musik zu erfahren gleicht einer Passion oder einer Affaire, von der man ebenfalls nicht weiß, wohin es einen verschlagen wird. Musik zu erfahren heißt, dass jeder Einzelne »mit ihr« (nicht, wie im betulich-pädagogischen Jargon: »auf sie«) sich einlassen, mithin ein Wagnis eingehen, d.h. sich ins Unabsehbare entführen lassen muss. Und dabei kommt es entscheidend auf die primären, unmittelbaren subjektiven Regungen an, und zwar egal welcher Art: erste vage Eindrücke, Bilder, Gefühle, auch und gerade wenn diese konventionelle Muster oder auch schlechten Geschmack beinhalten: Man fängt eben mit dem an und geht von dem aus, was man ab- und mitbekommen hat. Man soll also seine eigenen Regungen, wie deformiert sie immer sein mögen, gerade nicht wegschieben – aber umso mehr kommt es dann auf die Bereitschaft an, sie als vorläufig zu betrachten, d.h. nicht wie einen Besitz zu beschlagnahmen, zu verteidigen, auf ihnen zu insistieren, sondern sie als Schlüssel zu benutzen, der in die Sache selbst geleitet, sie also zur Reflexion hin zu öffnen, d.h. die Bereitschaft, sich von der Musik über die eigenen Regungen, die sie hervorruft, aufklären zu lassen.
Das gilt für alle Musik, auch die Neue – mit dem entscheidenden kleinen Unterschied, dass die neue Musik die grundsätzliche Unmittelbarkeit und Schutzlosigkeit der Hörsituation mit jedem Werk und oft genug schon innerhalb des einzelnen Werks immer wieder aufs Neue herstellt: in der Neuen Musik gibt es keine selbstverständlich, d.h. mit Allgemeinheit und Notwendigkeit geltenden Grundkategorien mehr und deshalb für den Hörer keine Möglichkeit der Berechenbarkeit oder Vorhersehbarkeit des musikalischen Verlaufs. Andererseits sind viele der für die Neue Musik typischen Klänge gerade in ihrer Abstraktheit viel anschaulicher, »greifbarer« und damit »verständlicher« als das durch Systemzwänge gefilterte und damit höchst selektive Klangmaterial der tonalen Musik. Wenn also die Neue Musik dem Publikum »fremd« ist, dann ist sie ihm gerade in ihrer Vertrautheit fremd. Viele der heute gängigen »Vermittlungsformen« sind aber darauf gerichtet, die Provokation, die von neuer Musik ausgeht, vorab zu mildern, durch alle möglichen Methoden der »Aufbereitung« die Gegenstände von Erfahrung so zurechtzumachen, daß Fremdheit und damit Konflikte, Reibungen möglichst erst gar nicht aufkommen, dass dem Subjekt alles sogleich zugänglich ist, dass es sich selbst, seine eingeschliffenen Kategorien und Bedürfnisse gar nicht erst infragestellen muss.
Aber das kann nicht funktionieren, da es an der Grundbestimmung von Neuer Musik vorbeizielt: Und diese besteht darin, dass ein jedes neue Werk die Grundfrage, was denn Musik überhaupt sei, auf höchst eigene Weise zu beantworten unternimmt. Die Neue Musik existiert nur in Form unterschiedlicher Lösungsversuche des identischen Grundproblems und die interessantesten sind immer die extrem entgegengesetzten. Gerade deshalb kann man nicht »die« Neue Musik en bloc, als Ganzes jemandem nahebringen, denn die Erfahrung dessen, was Neue Musik »im Allgemei-nen« ist, verläuft unabdingbar über die Erfahrung je individueller Werke. Den Anspruch, man müsse, wenn man sich mit Neuer Musik beschäftigt, irgendwie alles verstehen, schätzen, gut finden, was in diesem Zusammenhang produziert wird, muss man drangeben, denn der Zwang zur gleichmäßigen »Würdigung«, der im herrschenden Kulturbetrieb die Norm ist, widerspricht dem kritischen Nerv aller Kunst und erst recht dem explizit kritischen der Neuen Musik.