Arztbriefe für Helden

Über die neuere Psychoanalyse des Films.

Jede Inhaltsanalyse von Medien bedarf psychoanalytischer Kenntnisse, um wirksam zu werden. Als der Film zum Massenmedium avancierte, war es Siegfried Kracauer, der die Psychoanalyse in die Filmanalyse hereinnahm und damit ein differenziertes Konzept der sozialpsychologischen Inhaltsanalyse entwickelte, das bis heute Standards setzt. Mit seiner seriellen Abmischung von ästhetischem Urteil, literaturwissenschaftlicher Expertise, Individualpsychologie, technologischer Analyse und marxistischer Gesellschaftskritik liefert Kracauer das filmwissenschaftliche Grundrauschen des Kulturindustriekapitels der »Dialektik der Aufklärung«. 1943 findet sich hier ein »Zirkel« aus Bedürfnis und Manipulation beschrieben. Ist der Zirkel erst entstanden, kann Aufklärung sich nur gegen dessen vormanipulierte Bedürfnisse wenden (was ihr den Vorwurf der Spielverderberin einträgt) oder allenfalls als klandestines »Gegengift« wirken. Die Medienwissenschaften heute tendieren – in Reaktion auf Horrorfilm- und Killerspieldebatten – zur Leugnung des manipulativen Charakters von Massenmedien und betonen mitunter euphorisch den demokratischen Charakter der neuen Medien.
 
»Despite the cultural pessimism of the Frankfurt School, despite the power of ideology to reproduce itself in its subjects, despite the hegemonic force of the dominant classes, the people still manage to make their own meanings and to construct their own culture within, and often against, that which the industry provides for them. Cultural studies aims to understand and encourage this cultural democracy at work.« (John Fiske: British Cultural Studies and Television. 1987)

Mit der Parole der »User Agency« werden heute »innovative«, »individuelle« und »kreative« Nutzungsweisen von Smartphones und anderen Gadgets gepriesen, denen man mit »ethnographischen Methoden« zu Leibe rückt – was selten mehr heißt, als in S-Bahnen Fremde bei medialen Verrichtungen zu beobachten. Solcher euphorischen Nähe zum Gegenstand fehlt so gut wie nie der von den Cultural Studies zum Distinktionsgewinn angestiftete Irrglaube, der kritischen Theorie habe es an Material und Kontakt mit der Massenkultur gemangelt.
Eine Kritik von Massenmedien, die über das Partikulare und Obligate hinausgeht, würde die Medienwissenschaft heute in Opposition zu ihrem Forschungsgegenstand und potentiellen Arbeitsgeber drängen. Die ewige Wiederholung des Immergleichen zwingt ihr regelrecht auf, ihrem Gegenstand Innovativität anzudichten, um nicht selbst in den Verdacht des Stillstandes zu geraten.

Das gleiche Problem erfasst die Psychoanalyse, die in Deutschland weiterhin ihr trostloses Dasein als Einzelwissenschaft und »Dienstmagd der Psychiatrie« (Freud) fristet. Von den Nachbardisziplinen, insbesondere den Medienwissenschaften ausgegrenzt, kanalisiert sie Kritik aufs Individuum und leistet Beratung, Supervision und Assistenz. Dass der Versuch geleistet wird, diese innere Emigration zu durchbrechen und der Psychoanalyse die Gesellschaft zurück zu geben, die ihrerseits von Psychoanalyse wenig wissen will, das ist der erfreulichere Teil der neueren Filmanalysen, die in den letzten Jahren im Psychosozial-Verlag erschienen sind. Bei einer derartigen Fülle von Beiträgen und Filmen bleiben tiefere Erkenntnisse über psychoanalytische Theorie und Filmdeutungen nicht aus. Es dominiert jedoch durchwegs der Wunsch, wieder gesellschaftliche Relevanz zu erfahren, ohne selbst gesellschaftliche Konfrontation zu wagen. Da an der Beliebtheit des Filmes nichts zu rütteln ist, wird keine dieser Veranstaltungen dem Filmpublikum vorhalten, wie und wozu es manipuliert wird. Auch in der Filmanalyse richtet sich Kritik auf den imaginären Filmpatienten, mit dem Unterschied, dass hier eine lustvolle, objektivierende Beobachterrolle eingenommen werden kann, die in der Therapie verstellt bleibt. Und so werden die womöglich von Psychoanalytikern extra für Psychoanalytiker im Film ausgestreuten Konflikte und Rätsel noch einmal nacherzählt, mitunter wenig stringent oder falsch gedeutet und der Filmheld mit dem Arztbrief in der Hand entlassen. Der Herausgeber von gleich zweien der Bände, der Hamburger Analytiker Theo Piegler, gesteht sich das Dilemma in seiner nur deutenden Analyse von »Gran Torino« ein:

»Im Grunde ist dieser Film selbst schon seine Deutung. […] Es wird eigentlich alles gezeigt und gesagt, was es zu sagen gibt. Ich werde mich deshalb darauf beschränken, Beobacht-bares mit psychoanalytischer Terminologie zu benennen […]« (FF: 159f)

Leider verströmt er selbst dabei den Optimismus einer von Marx-Lektüre und kritischer Theorie gereinigten Psychoanalyse. Das liest sich dann so:

 »Bewegend auch die Szene, in der Kowalski sich die Äußerungen des Hmong-Schamanen anhört, der ihn so zielsicher konfrontiert, dass er tief betroffen mit einem Symptom reagiert: Bluthusten. In einer der Szenen danach erlebt man ihn zum ersten Mal lachend. Es gelingt ihm, Frieden mit sich selbst zu finden und so stirbt er auch. Das Geheimnis seiner Entwicklung beruht auf den positiven intersubjektiven Begegnungen, die er macht. Sie sind es, die seine inneren Objektbilder transformiert haben.« (FF: 166)

Und der Film lässt uns an diesem Geheimnis selbstlos teilhaben, das offenbar darin besteht, doch einmal einen Hmong-Schamanen oder Analytiker aufzusuchen, der uns »zielsicher konfrontiert« und mit echten, sichtbaren »Symptomen« reagieren lässt – Selbstwirksamkeitswünsche für Analytiker. Weil es dem Film offenbar ernsthaft an Realitätsprinzip mangelt, hat Piegler noch eine Anekdote parat:

»Auch in der Psychoanalyse können wir die Realität nicht ausklammern. [sic!] Erlauben Sie mir deshalb noch einen kleinen, völlig unanalytischen Nachtrag: Sicher interessiert Sie, was aus dem realen Detroit geworden ist. Erstaunlicherweise hat der Film etwas dick aufgetragen, die Stadt war gar keine Hmong-Hochburg, und heute hat man »Arbeitsplätze« mit urban farming geschaffen – die Ordnung ist also nicht in Gefahr, das »Marode« wird wieder aufgerichtet, reift und versöhnt.« (FF: 166)

Der gleiche Harmonismus prägt Markus Fähs Analyse von Apocalypse now, die er im Arztbriefmodus abschließt:

»Willard ist es geglückt, seine Krise zu überwinden, sich für das Humane zu entscheiden. Er hat die destruktiven Klippen gemeistert. Er hat die Metamorphose geschafft. Seine Zukunft ist offen, wie auch die Zukunft jedes einzelnen Menschen offen ist, wenn er mit seinen inneren Widersprüchen zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen, dem Destruktiven und dem Liebevollen ringt; offen wie die Zukunft der Menschheit überhaupt.« (CP: 86)

Diese filmoptimistische Lesart schlägt noch einmal bei Mirna Würglers »King Kong«-Analyse durch:

»Betrachten wir die Erfindung des Films als einen Einschnitt in der kulturellen Entwicklung des Menschen, so können wir die folgende abenteuerliche Interpretation wagen: Ganz früher sind wir der Bedrohung durch gewalttätige Überwältigungen – sprich durch unintegrierte Aggressionen, welche die soziale Gemeinschaft durch kathartische und zerstörerische Ausbrüche bedrohte – mit Opferritualen begegnet. Der so errichtete Schutzwall genügte, um die kulturelle Ordnung zu schützen. Die Monster auf Film zu bannen hieß jedoch nicht, sie zu zähmen, sie brachen vielmehr überlebensgroß in unsere Realität ein. […] Doch kommt zu guter Letzt in dieser dritten Interpretation das Trickster-Motiv des Kulturbringers zum Tragen: Mit dem Film schaffen wir uns die Möglichkeit, unsere namenlosen Monster in eine Geschichte einzubinden, in der das Unheimliche Konturen bekommt und das Böse besiegt werden kann.« (CP: 175)

Eine Analyse, die King Kong als Böses interpretiert und mit Carl Denham, Verfolger und letztendlich Zerstörer King Kongs, als »Kulturbringer« sympathisiert, läuft jedoch auch den noch als positiv zu bewertenden Intentionen der Filmkonstruktion zuwider: die stößt zumindest in Peter Jacksons opulenter Verfilmung gerade die kritische Reflexion auf die homosexuelle Verfolgung und Verdrängung des Begehrten und die homophob-ödipale Zerstörung des Begehrten (womöglich durch die Frau) an.

Fast alle der in den Bänden vorgelegten Filmanalysen stehen im Bann des Missverständnisses, der Film könne mehrheitlich als Medium der Aufklärung über Psychoanalyse und Verdrängtes fungieren, seine gesellschaftliche verdrängende Wirkung und Funktion wird allenfalls marginal angedeutet.
Hermeneutische filmanalytische Verfahren suggerieren ein positives Sinnganzes des Films, dem sich dann durch Introspektion auf die Schliche kommen ließe. Filme werden zu harmlosen, jeweils vereinzelten »Erzählungen« verniedlicht. Die im schlechten Sinne pazifizierende Wirkung der Kulturindustrie kann aber nicht durch gelegentliche Information, allfälligen symbolischen Reichtum oder ästhetische Reste neutralisiert werden.

Was Filmanalyse leisten könnte, wäre das mitunter nicht unerhebliche Gegengift in besseren Kulturwaren wie »Naked Lunch« (David Cronenberg), »Der Leichenverbrenner« (Juraj Herz) oder »Onibaba« (Kaneto Shindô) aufzuspüren und gleichzeitig den Konsumenten aufzuzeigen, mit welchen psychoanalytischen Raffinessen sie in der Masse der Kulturwaren durch Wiederholung korrumpiert werden. Das aber bedürfte des Mutes zum Widerstand gegen die vorherrschenden regressiven Wünsche – »madig machen«, wie Adorno es nannte. Davon sind Filmanalysen weit entfernt, wenn sie ihre Lieblingsfilme einem umschmeichelten Publikum als Aufklärung über Psychoanalyse anempfehlen und so in Werbung noch mehr Werbung einschleusen.

FL: Filmräume – Leinwandträume. Psychoanalytische Filminterpretationen. Alf Gerlach, Christine Pop (Hg.) 2012. Gießen: Psychosozial Verlag.
FF: Das Fremde im Film. Psychoanalytische Filminterpretationen. Theo Piegler (Hg.) 2012. Gießen: Psychosozial Verlag.
CP: Cinépassion. Eine psychoanalytische Filmrevue. Yvonne Frenzel Ganz, Markus Fäh (Hg.) 2010. Gießen: Psychosozial Verlag.