Im Film Arrival1 stellt sich die Linguistin Amy Adams der Herausforderung, eine nicht menschliche Sprache zu lernen. Aliens sind überraschend auf der Erde gelandet, aber anders als erwartet, sind sie nicht an der Invasion der Erde interessiert, sondern an Wissensaustausch. Je intensiver sich die Linguistin mit der Schrift der Aliens beschäftigt, desto mehr wird ihr bewusst, dass jedes Schriftzeichen ganze Sätze darstellt. Mit jedem Zeichen werden immer schon gesamte Geschichten erzählt. Jeder Aspekt eines Satzes muss gleichzeitig, von Beginn an, mitgeschrieben werden. Beim Erlernen dieser Schrift erfährt die Linguistin eine neue Art der Selbstbeobachtung: Introspektion ist gleichzeitig Vorhersage. Indem sie das, was sie schreiben wird, in ihrer Innenschau entwickelt, schreibt sie gleichzeitig die Zukunft fest. Zu schreiben bedeutet bei Aliens gleichzeitig vorherzusagen. Denn ähnlich der Zeichen der Aliensprache empfindet auch die, in der eigenartigen Sprache, versunkene Linguistin immer mehr eine Gleichzeitigkeit, wo Zukünftiges schon als Erinnerung existiert aber trotzdem erst zu durchleben ist; sie erlebt die Alien-Introspektion. Dennoch gibt es freien Willen in dieser allgemeinen Vorbestimmtheit. Die freie Wahl nichts am vorherbestimmten Lauf der Dinge zu ändern. Aber wie handeln, wenn alles determiniert ist, weil es schon längst errechnet worden ist? Wie entscheiden, wenn alle Entscheidungen schon längst getroffen wurden – ohne eigenes Zutun und ohne Berücksichtigung irgendwelcher momentan wichtig erscheinender Umstände?
Wie die Aliens im Film so scheint A.I., also Artificial Intelligence, wie eine plötzlich aufgetauchte neue Spezies, die durch ihre bloße Existenz alles Hergebrachte an Vorhersage und die Entscheidungen, die auf solchen Annahmen basieren, herausfordert.
Modelle zu Maschinen
Metaphern, die Menschen in ihren Sprachen für die Bezeichnung von komplexen Gebilden verwenden, die noch kaum verstanden sind, werden zumeist der komplexesten Technik entnommen, die zu einem historischen Zeitpunkt verfügbar ist. So wird heute das Universum genauso wie das menschliche Gehirn, mit Struktur und Funktion eines Computers verglichen – was unter anderem, nahe legen soll, diese faszinierenden Gebilde als intelligent zu qualifizieren.
Die Beschreibung der gesamten Zivilisation der frühen Moderne als künstliches Gehirn, ist einer der vielen Vorbereiter des Begriffs Elektronengehirn. In »Vom Schaltwerk der Gedanken« illustriert Carl Ludwig Schleich dieses organische Verständnis in einem prophetisch-populärwissenschaftlichen Exzess. Geschrieben 1916, als der Erste Weltkrieg in die Phase des Gaskriegs überging. Er transponierte den zeitaktuellen Horror in eine Science-Fiction-Passage in ferner Zukunft: »Denken wir uns durch irgendein katastrophales Missgeschick, sagen wir durch die Cyangase eines geplatzten Kometen, erlösche mit einem Schlage alles Lebendige dieses Planeten, die Menschen sänken tot um oder erstickten in ihren Wohnungen, die Betriebe ständen still, die elektrischen Zentralen ließen noch eine Weile ihre Ströme zucken durch die künstlichen Nerven, mit denen der Menschengeist und die Technik die Erde zu einem gehirnartigen Wesen umgebildet hat, – dann stände alles still.«2 Schleich dient die Gehirnmetapher dazu, die Zivilisation seiner Zeit im Akt einer extraterrestrischen Archäologie-Anatomie als planetares, technisches Gehirn sichtbar zu machen. Damit möchte er das organische Leitmotiv, als seiner Meinung nach quasi-bio-logische Entwicklungsrichtung moderner Technologie sichtbar machen. Die Ähnlichkeit zu zeitgenössischen Spekulationen über das Internet, das den Planeten in ein ‚global brain’ verwandelt, ist augenfällig. Spielt man für einen Moment mit dieser Metapher, findet man diese postulierte großmaßstäbliche Entwicklung flankiert von einer kleinmaßstäblichen Entwicklung. Der Zerstreuung von kleinen Gehirn-Derivaten in allerlei Momente menschbedingter Abläufe, wie etwa in Waschmaschinen. Diese Derivate sind Systeme der künstlichen Intelligenz. Nachdem lange mit symbolverarbeitenden Systemen gearbeitet wurde wird große Hoffnungen auf künstliche Neuronale Netzwerke (ANN) gesetzt, weil sie lernfähig sind. Sie funktionieren in grober Ähnlichkeit zu den elektrischen Funktionen der Neuronen des menschlichen Gehirns, alles andere lassen sie unberücksichtigt. Die heute vielversprechendste Art sind Deep-Learning-Systeme. Anders als bei ANNs werden nicht bloß quantifizierbare Wahrscheinlichkeiten als Parameter der Entscheidungen herangezogen. Sondern es werden verschachtelte Prozesse gestartet, die die EntwicklerInnen selbst nicht mehr genau nachvollziehen können.
Vermarktung des Gehirns
Dass diese Modelle weniger das Gehirn beschreiben als die menschliche Begehrlichkeit am erträumten Potential von Gehirntätigkeiten, schränkt die Leistungsfähigkeit der Technologie nicht ein. Nicht nur dient das Gehirn als Metapher für Universum, Computer und vieles mehr, sondern gleichermaßen stellten die »smarten« Techniken ihrer Zeit, Uhrwerk, mechanische Maschine, digitale Maschine, deep-learning auch immer den Versuch dar, das Gehirn besser zu verstehen und es – zumindest in Ansätzen – nachzubauen und zu vermarkten. Mit den technischen Entwicklungen und den wissenschaftlichen Entdeckungen veränderte sich daher auch stets unser Bild von unserem Gehirn: vom mysteriösen Zentrum der Intelligenz und des Ich, hin zu einer Produktionsanlage für Entscheidungen.
A.I.: Alien-Introspektion zu Alien-Intuition
Deep Learning ist eine heute neue und vielversprechende Entwicklung in der A.I.-Forschung. Erste bahnbrechende Erfolge dieser Technologie sind etwa der Sieg einer hochtrabend benannten Maschine, DeepMind, in einem Denkspiel, das ob seiner Komplexität als unprogrammierbar gilt. Nämlich der Sieg gegen einen der besten Go-Spieler aller Zeiten, Lee Sedol, im Frühjahr 2016. Anders als bei Schach, können bei Go zu keinem Zeitpunkt des Spiels alle Möglichkeiten durchgerechnet werden. Es können also keine finalen Sätze formuliert werden. Go wäre in der Aliensprache folglich nicht beschreibbar. Professionelle Spieler müssen Jahrzehnte trainieren um ein Gefühl für das Spiel zu bekommen und können nur durch mit Wissen unterstützter Intuition spielen. Ist hier Intuition am Werk? Sind diese A.I. Systeme der »Künstlichkeit« des Menschen fähig, die Welt also nicht mehr nur noch zu vermessen, sondern selbst zu gestalten?
Wie viele seiner Vorgänger, ist auch Deep Learning von Vorstellungen aus der neuen Gehirnforschung inspiriert. Doch steht beim Erzeugen dieser künstlichen Intelligenzen nicht mehr das Programmieren von expliziten Regeln im Vordergrund, sondern das Ermöglichen von automatischem Weiterentwickeln durch Lernen.
Kommerzieller Grund für Vorhersage ist nicht mehr, wie früher, die Vermeidung von Problemen. Vielmehr gilt es, mit Alien-Introspektion Potentiale in Feldern von Nichtwissen zu lokalisieren, um ökonomisch-politische Entscheidungen zu fällen. Sind solche Potentiale einmal bekannt, kann man im Voraus agieren, um sie mehr als nur möglich – um sie höchstwahrscheinlich – zu machen.
Dies basiert auf der Annahme, dass Fakten, sobald als Daten abgebildet, direkt in Entscheidungen umgesetzt werden können. Denn Fakten sind Phänomene der Umstände ihrer Entstehung, somit können Umstände verändert werden. Alien-Introspektion scheint zu erlauben, dass auf Basis der induktiv-statistischen Auswertung von Fakten Voraussicht erzeugt werden kann und folglich Umstände nicht mehr verstanden werden müssen. Der Prozess der Alien-Introspektion wird ab diesem Punkt zur Alien-Intuition.
Die Innenschau der A.I. Maschine, die von Menschen nicht mehr nachvollzogen werden kann, wird zur maschinellen Intuition, die für ihre Entscheidungen, die sie auf Basis ihrer Vorhersagen trifft, keine Randbedingungen mehr braucht. Damit wäre sie allen sozialen und kulturellen Vorgängen entkoppelt. Vorhersagen und darauf basierte Entscheidungen können dann mit nichts verglichen werden. Da eine andere als die vorhergesagte Zukunft nicht stattgefunden hat. Denn die Umstände der Fakten wurden so konfiguriert, dass genau die vorhergesagte Zukunft zu Realität wird – und keine andere.
Alien werden
In seiner bekannt pointiert-bissigen Analyse, erklärt Baudrillard unsere Faszination von A.I. und unsere Obsession, alles smart machen zu wollen folgendermaßen: »Denn was diese Maschinen bieten, ist zuvörderst das Schauspiel des Denkens, und im Umgang mit ihnen fröhnen die Menschen lieber dem Schauspiel des Denkens als dem Denken selber.«3
Doch das Schauspiel hat sich verändert. Die besten Go-SpielerInnen der Welt, die das Spiel von Sedol gegen DeepMind kommentierten, konnten selbst manche Züge der A.I. nicht vollkommen einordnen, nicht gleich bewerten, ja waren selbst ratlos gegenüber des neuartigen Stils, der »Intuitionen« von DeepMind, anerkannten jedoch DeepMind und verliehen zum ersten Mal in der Geschichte einen Ehrengrad, nämlich den höchsten Großmeister-Rang an DeepMind, ein Grad, der ironischer Weise an die verliehen wird, deren Fähigkeiten als »göttlich« eingestuft werden – deus ex machina, also – zumindest im Go. Deep learning A.I.s entwickeln sich oftmals so rasant weiter, dass selbst die Programmierer nicht mehr vollkommen folgen können. Damit stellen sie unser eigenes Bild vom Denken in Frage. Dem Schauspiel, nicht so sehr des Denkens als vielmehr des Lernens und Weiterentwickelns ausgesetzt, lenkt das Schauspiel nicht mehr ab, sondern zwingt vielmehr zum selber Denken; es reizt zum anders Denken, zum Alien werden.
Wie die Linguistin gegenüber den Aliens müssen also auch wir uns auf diese neuen Intelligenzen einlassen, nicht unsere Denkprozesse hineinprojizieren, sondern sich auf das Andere einlassen, uns nicht vom Schauspiel des Denkens blenden lassen, sondern selbst denken.
Künstliche Intelligenz-Technologien wurden für viele Lebensbereiche entwickelt, hin zur Automatisierung von Entscheidungen. Parallel dazu trägt sie bei, eine digitalisierte Umgebung zu erzeugen, die sich zunehmend von der menschlichen Lebenswelt abschottet. Als ob es um Netzwerke aus kumulierten Daten ginge, die Vorhersagemodelle darstellen, welche nur reine Potentialitäten adressieren, um letztlich automatisch zu entscheiden. Doch diese Maschinen entscheiden über die Angelegenheit der menschlichen Lebenswelt. Anders als bei der Linguistin des Film Arrival, die mit der neuen Zeitlichkeit konfrontiert, die Erinnerungen ihrer Zukunft als Schicksal annimmt und sich dabei selbst immer mehr in eine reine Beobachterin der sich in der Gegenwart entfaltenden schon bekannten Zukunft versteht, gilt für uns in der Konfrontation mit der A.I. eine aktivere Rolle.
Das selbstverständliche Hintanstellen des eigenen Willens hinter das in der errechneten Beschreibung der Zukunft bereits unverrückbar Festgeschrie-bene, gilt es aufzubrechen. Es geht heute weniger darum, diese Technolo-gie aufzuhalten oder sie exakt zu verstehen. Vielmehr geht es darum, sich einzulassen um sie zu verändern. Das Aufgeben des halbwegs freien menschlichen Willens, kapriziös und egozentrisch, würde den Populismen in Ökonomie und Politik perfekt zuarbeiten. Statt Introspektion in eine A.I.-Regierungsmaschine als geschlossenes System zur Automatisierung von Angebot und Nachfrage, gilt es Intuition für eine offene Kultur der Weltgesellschaft am momentanen Höhepunkt der Globalisierung zu entwickeln.
Im Film Arrival wollen die Aliens die Erde nicht unterjochen. A.I.s, die heute gebaut werden sind anders intendiert. Wie können wir die Aliens verändern, die in unserem Alltag aufgetaucht sind? Wie sie aus ihrer endlosen nichtlinearen Gegenwart holen, wie können wir ihnen implementieren, was Vergangenheit und Zukunft, was Anfang und ein offenes Ende bedeuten?