Das Wesentliche ist der Schein

Über Kunst und Konformismus im Theater

»Brecht, der der damaligen Lage gemäß noch mit Politik zu tun hatte, nicht mit ihrem Surrogat, sagte einmal, dem Sinn nach, ihn interessiere, wenn er ganz ehrlich mit sich sei, au fond das Theater mehr als die Veränderung der Welt. Solches Bewußtsein wäre das beste Korrektiv eines Theaters, das heute mit der Realität sich verwechselt, so wie die happenings, welche die Aktionisten zuweilen inszenieren, ästhetischen Schein und Realität verfransen. Wer hinter Brechts freiwilligem und gewagtem Geständnis nicht zurückbleiben möchte, dem ist die meiste Praxis heute verdächtig als Mangel an Talent.«
Theodor W. Adorno

Die Krise des Theaters ist von der Krise der Öffentlichkeit in der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht zu trennen. Wo das menschliche Leben reduziert ist auf stumpfe Selbsterhaltung durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft, was zudem immer seltener oder zu immer schlechteren Bedingungen gelingt, ist Öffentlichkeit ohne Funktion und Bedeutung. Auch das Theater dient dann vor allem einzelnen gesellschaftlichen Schichten als vornehmere Vorabendserie oder Vorspiel zum Netzwerken, wie es im Jargon der neuen Bohème heißt. Auch die freie Szene, einst angetreten, das bürgerliche Theater der Nachkriegszeit aufzurütteln, hat sich inzwischen weitgehend institutionalisiert und entspricht mit ihrer projektbasierten Arbeitsweise den gegenwärtigen Anforderungen des Kulturmarktes weit besser, als man es sich wohl einst träumen ließ. Doch von Subversion ist noch allenthalben die Rede. Doch zu welchem Zweck?

Vielleicht lassen sich die momentan vorherrschenden Widersprüche des Theaters am besten anhand eines Beispiels der jüngeren Vergangenheit schildern. Mitte Januar lud die Zeitschrift Merkur in Berlin zu einer Diskussionsveranstaltung mit dem Titel »Was wird Theater?«. In der Ankündigung hieß es: »Es wird mal wieder grundsätzlich über das Theater gestritten.« Wer nun vermutete, dass dieser Ankündigung auch eine Entsprechung auf dem Podium folgen würde, sah sich hingegen getäuscht. In trauter Einigkeit saßen ein Intendant, eine Theaterwissenschaftlerin, ein Dramaturg, eine Jugendtheatermacherin und eine Theaterjournalistin beisammen und hofierten sich gegenseitig. Einig war man sich, dass es auf Experimente, Labore, Öffnung der Künste – in Zeiten der immensen Herausforderungen von Digitalisierung und Globalisierung, wie es dann immer so schön heißt – ankomme. Nur wozu? Das blieb unerörtert. Einig war man sich dann vor allem, dass es konservative, ja reaktionäre und revisionistische Elemente im Theater gebe, mit denen man keinesfalls etwas zu tun haben möchte, namentlich Bernd Stegemann. Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« und hat in den letzten Jahren zwei wichtige Bücher veröffentlicht: Kritik des Theaters und Lob des Realismus. Er vertritt die These, dass zwischen den postdramatischen Theaterformen und dem neoliberalen Akkumulationsregime des Kapitalismus eine strukturelle Analogie besteht. Stegemann machte darauf aufmerksam, dass die Form der Kunst das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt. Ich werde darauf im Verlauf des Textes zurückkommen. Auf dem Podium äußerte unterdessen der Dramaturg die Ansicht, dass diese negativen und destruktiven Debatten ganz schlecht für die Kunst und die Künstler seien, man wolle ja angstfrei produzieren können. Doch was bedeutet es, wenn man für eine öffentliche Tätigkeit Freiheit von negativen Impulsen als Ideal ausgibt? Was bedeutet es, Kritik und Debatten als angsteinflößend zu bezeichnen? Nicht weniger als die Abschaffung der Theaterkritik – aus Gründen des Anstands freilich, man ist ja liberal und fortschrittlich – ist damit beabsichtigt, bei gleichzeitiger Immunität für die Kunstproduktion. Dabei haben große Teile der Theaterkritik den Schritt von der Kritik zur teilnehmenden Berichterstattung längst freiwillig vollzogen – wie Hanno Rauterberg unter dem Titel Die Feigheit der Kritiker ruiniert die Kunst vor ein paar Jahren in der ZEIT schrieb: »Die Kunst darf alles in Frage stellen, doch Fragen an das Kunstsystem gelten als unstatthaft. Schnell wird der Kritiker als Feind des Zeitgenössischen ins dunkle Eck gedrängt. Die Ängste und Immunisierungsmechanismen sind gewaltig, die Denkverbote unerbittlich.« Dementsprechend wurde Stegemann – freilich in Abwesenheit – vorgeworfen, dass er sowohl die letzten Jahrzehnte der Theaterentwicklung nicht mitbekommen hätte und dann auch noch rückgängig machen wolle. Lassen wir den logischen Widerspruch mal beiseite, ist doch eines deutlich: Wer es wagt, die letzten Jahrzehnte des Theaters nicht für eine einzige Erfolgsgeschichte und Entwicklung zum Besseren zu halten, wird sogleich als Feind der Kunst und des Fortschritts ins Abseits des »demokratischen Diskurses« gestellt. Was an dieser Veranstaltung so bezeichnend war, ist eine weit verbreitete Legitimationsfigur bestimmter Theaterformen. Die Phraseologie von Offenheit und Experimenten zieht ihre Berechtigung aus der Kunstkritik der historischen Avantgarden. Doch haben sich die sozialen Bedingungen insoweit geändert, dass die Kritik der Avantgarden heute geradezu konformistisch ist, insoweit sie nicht in Verbindung zu einer sozialen Bewegung stehen und ihre Kritik an Institutionalisierung und Professionalisierung gerade am ehesten mit der krisenhaften Veränderung des Kapitalismus harmoniert, die man gemeinhin Neoliberalismus nennt. Mit dieser Immunisierung gegen Kritik soll das öffentliche Erproben der Urteilsfähigkeit anhand der Kunst verunmöglicht werden. Diese konformistische Rechtfertigung verhindert wiederum die Kritik an Theaterformen, die selbst konformistisch sind, so dass es sich um einen doppelten Konformismus handelt.

Doch wie verhält es sich mit der Form? Die Grundsituation des Theaters besteht in der Form, dass jemand vor einem anderen etwas spielt. Damit entsteht, für den Augenblick, der Anschein von etwas Anderem, zu dem man sich in Bezug setzen kann. Der Schein ist das Moment der Freiheit in der Fiktion, das über die Wirklichkeit (die der Gegensatz des Spiels ist, nicht der Ernst) hinausweist. In dieser Situation wird ein ästhetischer Schein produziert. Dieser Schein erlaubt die Eigenbewegung von Material, die Möglichkeit von Dialektik in der Kunst. Die innere Spannung des Kunstwerkes ermöglicht, dass sich das Werk zur Gesellschaft in Spannung setzt. Dass dies gelingt, ist von der Konstruktion des ästhetischen Scheins abhängig; wo das Kunstwerk lax in seiner Durchformung ist, setzt sich der empirische Schein an die Stelle des ästhetischen. Die Selbsttranszendierung des Stofflichen in der Kunst garantiert ihren utopischen Charakter. Das Nicht-Identische der Kunst besteht in der Herstellung von Transzendenz durch ästhetischen Schein. Dieser ist aber keine okkulte Qualität des Kunstwerkes, sondern eine durch handwerkliche und technische Mittel bedingte Realisierung menschlicher Phantasie. In dieser Weise verschränkt sich künstlerisch-produktive Subjektivität mit objektiven Voraussetzungen in der entspringenden Werkindividualität – ein Abbild gelingender menschlicher Arbeit, utopischer Vorschein eines anderen Verhältnisses von Geist und Stofflichkeit, also: Sinnlichkeit als Wahrheit. Grundlage der Produktion von ästhetischen Schein im Theater sind der dramatische Text, das Schauspiel, die Bühnenkunst – und in jedem Bereich wären wieder einzelne technische Aspekte zu berücksichtigen, eine Technik des Dramas, eine Technik des Schauspiels undsoweiter. Nun gibt es im gegenwärtigen Theater die Tendenz – und darauf wies Bernd Stegemann in seiner Kritik des Theaters hin – statt mittels der Produktion von ästhetischem Schein ein kritisches Theater zu machen, die Abschaffung desselben für kritisches Theater zu halten. So wird beispielsweise die Ablösung vom Dramentext als Emanzipation bezeichnet, als ob der Text eine Zwangsmaßnahme wäre. (Man stelle sich nur einmal vor, dass die Abschaffung der Recherche im Pressewesen von Journalisten in der gleichen Weise als Fortschritt bejubelt werden würde.) Ebenso wird das Schauspiel zugunsten der Performance und des Auftretens »realer« Personen verworfen, auch als Bühnenraum werden bevorzugt »reale« Räume verwendet. Das Problem ist, dass diese vermeintlich subversiven Formen vor allem zur Abschaffung der spezifischen Möglichkeiten dieser Kunstform führt. Wo der ästhetische Schein zugunsten von Realobjekten aufgegeben wird, steht Kunst ihrer Gestalt und Form nach nicht mehr in einem kritischen Verhältnis zur Gesellschaft, alle Kritik bleibt dann äußerlich (und was man auf der Bühne nicht sehen konnte, ist dann im Programmheft nachzulesen, meist ein Potpourri postmoderner Phrasen) – als ob nicht schon Kulturindustrie und Gesellschaft des Spektakels eine Theatralisierung des gesellschaftlichen Lebens bedingen würden. Kunst muss die Kritik des Scheins in ihre Gestalt mit aufnehmen, anstatt den Schein in pseudoradikaler dekonstruktivistischer Geste zu opfern. Und was bliebe nach der Dekonstruktion des Scheins der Kunst? Nur der empirische Schein der kapitalistischen Produktionsweise, der Warenfetischismus. In dieser Weise verhält sich gerade die vermeintlich kritische und subversive Theaterkunst konformistisch. Indem sie an ihrer Selbstabschaffung arbeitet, unterwirft sie sich umso mehr den Druck der Gesellschaft.

Wenn die Beobachtung stimmt, dass es im Theater zweierlei Konformismus gibt, in der Form des Theaters und im Sprechen über Theater, so wäre dieser Konformismus nur auf eben diese doppelte Weise zu überwinden. Eine Neujustierung der Dialektik dramatischer Formen kann nur gelingen, wenn die Kritik und Selbstkritik des Theaters möglich ist. Eine solche Kritik des Theaters wäre von einer Kritik der Gesellschaft untrennbar. Was Adorno an Brecht schätzte, dass ihm das Politische selbst zur produktiven Kraft der Erneuerung der dramatischen Situation geworden ist, könnte für die Gegenwart entscheidend sein. Politisches Bewusstsein und Formbewusstsein in der Kunst sind die Parameter, an denen eine mögliche Überwindung des Konformismus im Theater zu messen wären. Das Theater muss die eigene gesellschaftliche Funktion reflektieren. Interessant ist, wie gerade die Vertreter der sogenannten Postdramatik und performativen Theaterformen diese Reflexion aggressiv abwehren. Solange sich das Theater aber dieser Reflexion verweigert, wird es in dem eigenen Konformismus gefangen bleiben. Die erste Voraussetzung für das Herausarbeiten aus dem Konformismus wäre aber die Einsicht in die Beschränkung der Kultur selbst: »Aller kulturelle Reichtum bleibt falsch, solange der materielle monopolisiert ist.« (Theodor W. Adorno)