Das Leben in der westlichen Hemisphäre am Anfang des dritten Jahrtausends ist gekennzeichnet von der Gleichzeitigkeit von Identitätspolitik und Kulturrelativismus, von Diversität und konformistischer Rebellion, von historischem Gedächtnis und bahnbrechender Digitalisierung. Die Synchronisierung der Zeit und die Verdichtung des Raumes gehen mit einem absurden Nebeneinander von Burkinis und orgasmischer Meditation, von Misogynie und Queer-Theorie, von Zivilisationsmüdigkeit und Selbstmordattentaten einher. Witts Buch unter dem Gesichtspunkt zu lesen, wie das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen im Begriff ist, sich zu verändern, verrät mehr über unsere Zukunft und den Menschen von morgen als es die Zukunftsforschung prognostizieren könnte.
Die Autorin Emily Witt, Jahrgang 1981, ist ausgebildete Journalistin aus Brooklyn (New York). Sie schreibt Essays und Reportagen für namhafte US-amerikanische und englische Zeitungen und Magazine. Geprägt wurde sie von den Schriften Simone de Beauvoirs und Joan Didions. Ihre sexuelle Selbstfindungsrecherche trägt im Deutschen wie im Original den Titel »Future Sex«. Lediglich der Untertitel weicht vom Englischen »A New Kind of Free Love« ab und lautet »Wie wir heute lieben. Ein Selbstversuch«. Nicht nur der Widerspruch von »Future« und »heute« fällt negativ auf. Überdies weckt der deutsche Untertitel die Erwartung, es würde sich bei diesem Buch um Ratgeberliteratur handeln. Stattdessen ist der Erlebnisbericht eindeutig dem New Journalism zuzuordnen. Die von Hannes Meyer ins Deutsche übersetzte Fassung ist ansonsten gut lesbar.
Welche Beweggründe hat die Autorin? Im Alter von 30 Jahren fragt sie sich, warum ihr gesamtes Umfeld, sie inbegriffen, immer davon ausgegangen ist, dass das Ziel eines gelingenden Lebens darin besteht, die Liebe als »absolutes, messianisches Endzeitereignis« zu finden, »als wäre das Universum sie jedem Einzelnen von uns schuldig und als gäbe es vor ihr kein Entrinnen.« Witt verabschiedet sich also vom pseudo-fatalistischen »Projekt Ehefrauendasein, Monogamie und Kinderaufzucht«. Indem sie sämtliche Normen und Konventionen, die Sexualität betreffend, für sich außer Kraft setzt, öffnet sie sich für avantgardistische Praktiken von sexueller Leibesertüchtigung, Cybersex und anderen Konzepten zur Steigerung sexueller Lust. Mit ihrem Buch macht sich Witt zur Chronistin angewandter Science-Fiction-Pornografie.
Witt verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe, bleibt aber leider zu oft bei der bloßen Schilderung stehen. Das kann zweifelsohne sehr informativ sein, wenn sie beispielsweise den Sitzungsablauf einer orgasmischen Meditation schildert: »Dann zieht die Frau sich die Hose und Unterwäsche aus, legt sich auf den Rücken und öffnet die Beine. Ihr Partner bleibt angezogen und setzt sich auf ein Kissen zu ihrer Rechten. Er legt sein linkes Bein über ihren Körper und schiebt sein rechtes unter ihr rechtes Bein. Dann stellt er einen Wecker auf 15 Minuten, zieht sich Latexhandschuhe an und reibt sich einen Finger mit Gleitmittel ein. Er beschreibt der Frau mit poetischen Worten ihre Vulva. Er bittet sie um Erlaubnis, sie zu berühren. Wenn sie ihm die Erlaubnis gewährt, legt er den Daumen der rechten Hand in ihren Introitus. Mit der linken streichelt er sanft über den oberen linken Quadranten ihrer Klitoris. Damit fährt der Partner den Rest der ihm zugeteilten Zeit fort […]. Ist die Zeit abgelaufen […], legt der Mann die Hand mit festem Druck auf die Vulva, um die Frau zu ,erden‘.«
Wozu dient dieses kostenintensive Spektakel? Der Vorteil der orgasmischen Meditation, auch Coregasm genannt, bestehe darin, so seine Befürworter, dass Sexualität von Liebe und Dating entkoppelt ist. Die orgasmische Meditation schaffe so einen neutralen Ort ohne Verhaltenskonditionierung und romantische Geschichten.
Das Kapitel über Online-Dating ist, wie das Thema selbst, gekennzeichnet von einer gewissen Banalität. Witts Dates verlaufen weitgehend ergebnislos. Ihr Raster weitet sich derart, dass jeder Bewohner ihrer Stadt infrage kommt, der »einigermaßen die Rechtschreibung beherrschte und nicht unbedingt ein Rechtsradikaler war.« Witt stellt die Geschichte des Online-Datings anschaulich an einzelnen Unternehmen wie zum Beispiel OkCupid, Manhunt, Grindr oder Tinder dar. Auch der Unterschied zwischen homo- und heterosexuellen Nutzern von Dating-Apps ist Thema. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freunde, die sich online verliebt hatten und »in der Technologie einen klaren Sinngebungskorridor gefunden hatten, der sie ohne Umwege vom Single- ins Pärchendasein geführt hatte«, fühlt Witt sich denjenigen zugehörig, die »Teil eines ahistorischen, aber heutzutage bedeutenden Bevölkerungsanteils waren, dem […] jegliches Gruppenbewusstsein fehlte, ganz zu schweigen von irgendeiner gemeinsamen sexuellen Ambitionserklärung.«
Im Zuge der Neo-Liberalisierung von Märkten und Ressourcen leistet das Kapital eine grenzenlose Verflüssigung aller Verhältnisse. Die Auflösung monogamer oder von auf Dauer angelegten Sexualitätskonzepten lässt sich kaum als ahistorisch begreifen, sondern vielmehr als biopolitischer Vollzug sozio-ökonomischer Prozesse im Rücken der Menschen. Ein Symptom maximaler Flexibilisierung und Anpassungsfähigkeit von menschlichen Arbeitskraftbehältern lässt sich in der Nutzung von Dating-Apps erkennen. Sie dienen dem Finden von Gesprächs- oder Sexualpartnern an jedem Ort der Erde. Darin kommt der Drang zum Ausdruck, Isolation zu überwinden, um Kommunikation und Emotion verfügbar zu machen.
Eine besonders harte Form der Internetpornographie ist das Public Disgrace. Dabei geht es um die Inszenierung von brutalem, entwürdigendem Sex durch Entblößung, Züchtigung und Erniedrigung in der Öffentlichkeit. Bespucken und Beschimpfen gehören genauso wie das bloße Benutzen oder extreme Anal-Fisting des Sexualpartners dazu. Die Protagonisten sind durchtrainiert, beweglich und absolut professionell. Das Publikum wird vorher genauestens instruiert. Auffällig ist, dass Witt trotz der Drastik des Public Disgrace eine emotional distanzierte Haltung zu diesem Erlebnis einnimmt. Immerhin bringt sie ihre Bewunderung für die Darsteller und deren Lässigkeit, Selbstsicherheit und Vermittlung eines positiven Körpergefühls zum Ausdruck. Ob diese Distanz ihrem Berufsethos als Journalistin entspricht oder aus einem ihren Gefühlen übergestülpten Bewusstseinsmanagement zur Disziplinierung von Trieb, Bindung und Emotion entspringt, beantwortet das Buch nicht.
Das Kapitel über Polyamorie diskutiert die Vorzüge gegenüber der Monogamie, das, so Janet Hardy und Dossie Easton, als Ideal überholten Agrarkulturen entstamme. Die Institution der Monogamie ist die Ehe. Ihrer Tendenz nach sei die Ehe »Heuchelei, Verlogenheit, Libidominderung und stumme Frustration«. In der Polyamorie gehe es um sexuelle Abenteuer und den Selbstzwang, sich ein Gefühl wie Eifersucht auszutreiben. Wie dies gelingt? »Sie wollten […] über ihre wahren Gefühle sprechen, ihre tatsächlichen Begierden benennen und ausgedehnte schwierige Gespräche führen. Statt in Furcht vor einer festen Bindung verunsichert wegzulaufen, versuchten sie eine andere Art der Bindung zu finden, die ihrem Wunsch nach einem aufregenderen Leben gerecht wurde. […] In der Monogamie gab es eine Grenze. In ihrer Beziehung würde es viele geben. […] Sie entwarfen Moralkodizes, um ihre Beziehungen zu schützen. Sie schonten Gefühle und physische Gesundheit durch Regeln und Satzungen. Sie verhielten sich ernst […] und behandelten Gefühle als individuelle Wesen, die sie in Baumwolle packten und sorgfältig beschrifteten. Statt die Verlockung als etwas Ehrloses darzustellen, war für sie die Eifersucht die reaktionäre Antwort, der sie möglichst nicht nachgeben wollten.« Es ist kein Zufall, dass die Wirkungsmacht beruflicher Tugenden wie »Ehrgeiz, Neugier und Risikofreudigkeit« auch durch polyamouröse Konzepte Einzug in die Privatsphäre erlangt.
Witts »Future Sex« ist eine sensitive Psychotechnik eingeschrieben. Sie sehnt eine Zeit herauf, in der »wir Übung im Gefühlsmanagement mehrerer gleichzeitiger Beziehungen bekommen.« Dieser Satz bildet die Quintessenz zukünftiger Sexualität. Denn in Witts sexueller Experimentierfreude verdichtet sich weniger Sexualität als vielmehr der verwaltungstechnische Umgang mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen im Jargon der Psychotherapie. Witt definiert Future Sex so: »Futuristischer Sex war keine neue Art von historisch noch nie dagewesenem Sex, sondern einfach eine neue Art, darüber zu reden.«
Der Erfahrungsbericht vom Burning-Man-Festival liest sich wie ein stumpfes Fest der Selbstauflösung. Das Festival trägt seinen Namen, weil am sechsten Tag der achttägigen Veranstaltung eine riesige menschliche Statue in der Black Rock Desert angezündet wird. Es geht um Kunst, Rausch, Sex und Selbsterfahrung. Im sogenannten Orgy Dome, so berichtet Witt, gab man »uns eine Tüte mit Kondomen, Gleitgel, Feuchttüchern, Minzbonbons und Anweisungen, wie wir unseren Müll hinterher zu entsorgen hatten. Wir gingen hinein. Ich war ein bisschen enttäuscht, dass keine richtige Orgie im Gange war. Eigentlich hatten dort gerade nur einige Hetero-Paare getrennt voneinander Sex. Lunar Fox und ich setzten uns auf ein Sofa und sahen zu. Wir kamen uns komisch vor. Irgendwie war klar, dass wir entweder selbst etwas tun oder gehen sollten. ,Sollen wir auch Sex haben?‘, fragte ich. ,Ja …‘, erwiderte er. ,Willst du denn?‘ ,Ja‘, sagte ich. ,Sicher?‘, fragte er. ,Ja‘, sagte ich. Die Frau an der Tür hatte uns zu lauter, nachdrücklicher Zustimmung ermutigt.« Es scheint so, als sei dieser Bevölkerungsteil die Vorhut einer erlebnisgeilen Exzess(sub)kultur, die – den Wirkmechanismen des Kapitals folgend – das omnipräsente Gefühl eines existentiellen Vakuums zu füllen versucht: ohne verbindliche Regeln, kontinuierliche Bindungen und die Fähigkeit zur Erfahrung.
Abschließend setzt Witt sich mit Fragen der Verhütung, der Fortpflanzung und des Einfrierens von Eizellen auseinander. Um Familie, sexuelle Freiheit und Fortpflanzung zu vereinbaren, »müsste [man] Alleinerziehende nicht nur materiell, sondern auch ideologisch stärker unterstützen. Diese Zukunftsforschung dürfte feststellen, dass Ehe und Babys einander nicht bedingen.« Das Thema kreist weniger um Sexualität als vielmehr um Selbstermächtigung. Witt geht es um die Bereitstellung einer Infrastruktur, die der bewusstlosen oder bewusstseinserweiternden Konstitution von potentiell unbegrenzten sexuellen Verbindungen Rechnung trägt.
Wenn sie hofft, dass »die Vorherrschaft eines einzigen Sexualmodells immer mehr ausgehöhlt werden würde«, dann macht sie sich zum Sprach-rohr eines ohnehin nicht mehr aufzuhaltenden Trends in bestimmten Milieus der New Economy, der Neurochemie sowie der digitalen Medien und Technologien. »Niemand kann sich zu einem anderen Subjekt machen als zu dem des geschichtlichen Augenblicks«, so Max Horkheimer. Auch Witt ist weniger selbstbestimmt als sie annimmt. Ihr Buch legt Zeugnis davon ab, dass der Verlust übergeordneter Sinnordnungen im Zuge der digitalen Revolution auch Konzepte von Liebe, Fruchtbarkeit, Verhütung, Fortpflan-zung und Familie verändern wird. Die Flexibilisierung der Arbeitskräfte im digitalen Zeitalter geht einher mit permanentem Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement. Ohne es zu wissen, vollzieht sich in ihrem Denken, Handeln und Fühlen bereits diese Anpassung an kybernetische Zukunftskonzepte. Datafizierung und Digitalisierung sind dabei an die Unfähigkeit gekoppelt, überhaupt Erfahrungen zu machen.
Das enfant terrible Maxim Biller hat die Liebe einst als Lieblingsfetisch der Freizeitterroristen bezeichnet. Liebe ist demnach in so aufregenden Selbst-verwirklichungszeiten wie diesen kein Wort mehr, das das Gefühl eines Menschen zum anderen bezeichnet, sondern nur zu sich selbst. Vielleicht besteht die Schattenseite unseres spätmodernen Lebens darin, dass die hypochondrische Selbstliebe, die Angst davor, etwas zu verpassen, und das Sammeln von unvergesslichen Augenblicken es erschweren, einen anderen Menschen ausdauernd zu lieben. Vielleicht ist aber auch die Fähigkeit zu lieben, in einer Zeit der Selbstoptimierung, Selbstvermarktung und des allumfassenden marktwirtschaftlichen Äquivalents längst antiquiert.