Herr Groll und die Wölfe von Salzburg

Vorabdruck aus dem gleichnamigen Roman von Erwin Riess, der Herbst 2021 erscheint.

(…)
In der Mitte des asphaltierten Stegs mit den tausenden bunten Liebesschlössern an den Geländern starrte eine Menschenmenge auf die Salzach. Hinter einem schnell fahrenden Motorboot vollführte ein Wakeboarder waghalsige Manöver, sprang über die Wellen, drehte Pirouetten und schlug Salti. In einem zweiten Boot filmten drei Kameraleute die Gala. Der Wakeboarder unterquerte den Steg, das Brüllen des Motors hallte von den Häusern der Altstadt wider.
»Sie wissen, daß dieser Steg, der Makartsteg, vor kurzem in Marko-Feingold-Steg umbenannt wurde?«
»Da muß ich passen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Der Dozent fuhr fort. »Marko Feingold starb vor nicht langer Zeit im Alter von 106 Jahren. Er hatte mehrere KZ überlebt, war jahrzehntelang Vorsitzender der jüdischen Gemeinde und war unermüdlich in Schulen …«
»Wer Marko Feingold war, weiß ich sehr wohl«, unterbrach ich. »Es gibt ein Buch über diesen großartigen Mann.«
»Das Sie gelesen haben?«
»Auf Vermittlung durch Wenzel Schebesta vom ‚Ständigen Ausschuß‘«, bestätigte ich. »Und dann habe ich noch drei Exemplare gekauft und im Bekanntenkreis verschenkt.«
»An mich haben Sie dabei nicht gedacht«, schmollte der Dozent.
»Ich habe es nur an jene verteilt, die es meiner Einschätzung nach nötig hatten.«
Der Körper des Dozenten straffte sich. »Das ist natürlich etwas anderes. Dann wissen Sie auch, daß die Witwe von Marko Feingold die Umbenennung des Stegs nicht gut hieß.«
»Das wußte ich nicht.«
»Sie war der Meinung, daß Marko Feingold eine richtige Adresse, eine Post- und Anschriftsadresse verdient hätte.«
»Da hat sie recht.«
»Und sie weist darauf hin, daß die drei prominentesten Juden Salzburgs, Max Reinhardt, Stefan Zweig und eben Marko Feingold, im Gegensatz zu all den politischen und Kulturnazis, nicht mit einer Straßenbennung und einer Postadresse geehrt wurden. Sie meint, dieses Verhalten der Stadt sei kein Zufall. Offensichtlich schäme Salzburg sich heute noch seiner jüdischen Persönlichkeiten.«
»Da wird sie wohl ebenso recht haben. Wenn die Witwe eines KZ-Überlebenden den Wunsch nach einer Straßenbenennung für ihren Mann äußert und dann der Gemeinderat nur einen architektonisch wertlosen Steg für Feingold findet, ist das ein Affront.«
Der Dozent schwieg einige Zeit. Unvermittelt schüttelte er den Kopf und schwieg wieder. Ich hielt es für klüger, ihn nicht mit Fragen zu verunsichern. Ich hätte von einer Inszenierung gesprochen, brach es dann aus ihm hervor. Wem ich die Regie zuordne?
Der Kai war jetzt sehr belebt, Radfahrer, Skateboarder und Spaziergänger machten einander den Platz streitig. In einem kleinen Parkstreifen vor der O-Bushaltestelle war es ruhiger.
»Kennen Sie den Ausdruck ‚Strategie der Spannung‘?« fragte ich ihn und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort. »Er bezeichnet einen Komplex von Maßnahmen zur Destabilisierung des gesellschaftlichen Gefüges. Ursprünglich bezog sich der Begriff auf Vorgänge in Italien in den 1970er und 1980er Jahren. Sie erinnern sich: Die Entführung und Ermordung des Ministerpräsidenten Aldo Moro im Frühling 1978 durch die Roten Brigaden, faschistische Zellen in den Sicherheitsbehörden, enge Verbindung zu Geheimdiensten, das Bombenattentat am Hauptbahnhof von Bologna 1980 mit 85 Todesopfern, Morde im Umkreis der Vatikanbank, das Mastermind Licio Gelli und die Loge P2. Das Ziel: ein allgemeines Chaos, um dann mittels eines Staatsputsches zur Abwehr der Linken – der PCI war damals gleich stark wie die Christdemokraten und kontrollierte alle Großstädte – einen Polizeistaat zu errichten. Oder nehmen Sie Südafrika. Dem Apartheidregime nahestehende Kräfte verübten in den 1980er und 1990er Jahren Terroranschläge und Morde an Zivilisten, die der schwarzen Widerstandsbewegung ANC angelastet wurden, um deren Einfluss zu schwächen. Der ANC dementierte jede Beteiligung. Nach dem Ende der Apartheid wurde er bestätigt. Gleichzeitig schürte das Apartheidregime gewaltsame Konflikte unter schwarzen Bevölkerungsgruppen, die mehrere tausend Opfer forderten. Auch im Chile Salvador Allendes wurden von Militärs und Todesschwadronen Attentate und Entführungen verübt. Bis Pinocet putschte und eine Diktatur errichtete. Auch hier folgte das Drehbuch einer ausgeklügelten ‚Strategie der Spannung‘.«

»Fällt Ihnen auf, daß der Ausflugsdampfer schief im Wasser liegt?« fragte der Dozent, als wir wieder zur Salzach zurückkehrten. Tatsächlich krängte das Schiff. Bevor die »Amadeus Salzburg« wirklich bedrohliche Schlagseite bekam, sollte schleunigst jemand eingreifen. Das hatten sich offensichtlich ein Notarzt und ein Sanitäter auch gedacht, sie eilten die steile Rampe zum Schiff hinunter und verschwanden im Fahrgastraum. Rasch bildete sich rund um den Notfallwagen auf dem Gehweg eine Menschentraube, die vom kreisenden Blaulicht überragt wurde.
Kurze Zeit später waren die beiden wieder zurück. Der Sanitäter trug eine Puppe im bekannten Jackett, der Mediziner einen Strohkopf. Anfänglich war das Publikum entsetzt, dann aber sprach sich bald herum, daß es sich nur um eine Puppe handelte. Die Polizei zerstreute die Menge, sodaß ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr vorfahren konnte. Zwei Uniformierte liefen die Rampe zum Schiff hinunter. Die »Amadeus Salzburg« wies bereits eine bedrohliche Schlagseite auf.

Der Dozent wollte sich mit seiner Jugendliebe vom Schweizer Bankhaus im Friedhof St. Peter treffen. Er hatte einen dahingehenden Wunsch geäußert, es gebe dort einige denkwürdige Grabsteine mit aufschlussreichen Inschriften. Er war eben ein wahrer Spezialist des Minnediensts. Aber wer weiß, vielleicht war seine Jugendliebe eine Parteigängerin der morbiden Fraktion.
Ich schlug den Weg zum Festspielbüro ein, wo ich meine Jugendliebe Elfi, Tonis ältere Schwester, vorzufinden hoffte. Ich hoffte sehr, daß sich ihr Naturell nicht der dunklen Seite des Mondes zugewandt hatte.
Bei der gestrengen Dame im Festspielbüro fragte ich nach Elfi. Sie habe früher Poschacher geheißen, aber es könne ja sein, daß sie geheiratet und den Namen gewechselt habe.
»Es geht um eine sehr wichtige private Angelegenheit.«
»Ich kenne hier alle. Aber ich kenne keine Poschacher.«
»Vielleicht hat sie inzwischen geheiratet.«
»Dann sagen Sie mir doch diesen Namen!«
»Ich kenne ihn doch nicht.«
Die Dame hinter der Kasse setzte eine abweisende und desinteressierte Miene auf.
»Ihr Bruder ist Gemeindesekretär in Werfen, Poschacher Anton.«
»Wo ist Werfen?«
»Im Innergebirg, eine dreiviertel Autostunde entfernt. Eisriesenwelt, Hochkönig, Festung Hohenwerfen.«
»Ist das bei Innichen?«
»Nein!« rief ich. Die Sturheit der Frau wurde mir langsam unheimlich.
»Ich weiß!« hielt sie dagegen. »Das ist in Südtirol. Ich hab da ein Bild in Erinnerung. Weinstraße Kalterersee. Wie schaut sie denn aus?«
»Wie soll ich das wissen – nach vierzig Jahren. Damals war sie blond. Schlank und kräftig, und sie hatte ein gewinnendes Wesen.«
»Ein was?«
»Ein gewinnendes Wesen.«
»So jemanden gibt es hier nicht. Wir sind in Salzburg, lieber Herr. Da gibt es Hochkultur, kein Gewinnwesen. Da müssen Sie in die Schweiz fahren, zu den großen Banken. Oder gehen S‘ in die Getreidegasse, da gibt’s auch eine Schweizer Bank. Vielleicht arbeitet sie ja dort.«
Sie wandte sich von mir ab um zu demonstrieren, daß die Auskunft für sie jetzt beendet sei.
»Nein, nein!« bettelte ich. »Sie arbeitet seit vielen Jahren bei den Festspielen. Im Stab der Festspielleitung.«
»Ich bin erst seit zwei Jahren hier. Diese Auskunft können Sie von mir nicht verlangen, das ist eine Zumutung.« Gnädigerweise wandte sie sich mir doch noch einmal zu. »Wenn die Dame so weit oben …dann darf ich schon gar nichts sagen. Sicherheitsbestimmung. In der Stadt geht´s ja rund. Soll ich ihr Grüße ausrichten?«
»Aber Sie kennen sie ja nicht!«
»Das stimmt. Aber wenn ich mich erkundige, werde ich sie schon finden. Wie ist denn der werte Name?«
»Ich weiß es doch nicht!« schrie ich zurück. »In diesem Fall hätte ich ja anders gefragt. Sehen Sie, ich wollte doch nur … Mein Auftritt sollte eine Überraschung sein. Wie ein Deus ex Machina«, fügte ich hinzu und zwang mich zu einem gewinnenden Lächeln. Die Mühe hätte ich mir sparen können, die Dame am Eingang sah mich an, als würde sie dem Mondkalb gegenüberstehen.
»Die Besetzungsliste vom ‚Jedermann‘ können Sie im Netz nachschauen«, sagte sie. Ich hatte den Eindruck mit einem Anrufbeantworter zu sprechen. »Heuer is‘ es zum letzten Mal der Morelli. ‚Jedermann‘, sie verstehen. Der is‘ sehr gut, an den hab ich mich schon gewöhnt.«
Da öffnete sich eine Nebentüre, heraus kam eine füllige Frau. Sie
ging schwer an zwei Krücken und hatte Mühe, das Tor hinter sich zu schließen.
Eine Ahnung machte sich in mir breit. »Elfi?« rief ich. »Elfi Poschacher?«
Die Frau kam näher und schaute mir in die Augen.
»Groll, du Saubartl!« sagte sie entsetzt. »Was sitzt denn du im Rollstuhl?«
»Frau Magister!« rief die Dame in der Portiersloge.

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Erwin Riess: Herr Groll und die Wölfe von Salzburg
Roman, ca. 300 Seiten, gebunden
ca. 23,– Euro (E-Book: 19,– Euro)
Otto Müller Verlag
Erscheinungstermin: September 2021
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