Kunst kann nicht gekauft werden. Das ist ein Irrtum des Kunstmarktes. Niemand würde zum Beispiel auf die Idee kommen zu sagen: Dieses Gedicht gehört mir, am wenigsten die Person, die es geschrieben hat. Aber da Kunstwerke manchmal auch Objekte sind, verwechselt der Markt sie mit Waren oder sogar mit Geldanlagen. Höchstens noch kann die Verantwortung erworben werden, das Objekt, das manchmal auch ein Kunstwerk ist, instand zu halten und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Manchmal ist es sogar möglich, die Künstler:in zu unterstützen, unter anderem auch finanziell, damit sie sich weiterhin etwas widmen kann, einem Prozess, in dessen Verlauf Kunst entstehen kann. Und im Gegenzug dafür wird, rein symbolisch natürlich, ein Objekt z.B. eine Zeichnung, eine Skulptur oder eine Videoarbeit getauscht. Ein Geschenk, und als Antwort darauf, ein größeres Geschenk. Aber Kunst kann nicht gekauft werden.
Kunst ist auch keine Geldanlage. Das bedeutet nicht, dass Kunst keine gute Investition sein kann. Ein Gedichtband zum Beispiel ist eine gute Investition, vielleicht sogar eine Investition fürs Leben, denn Gedichte bleiben immer neu, selbst wenn sie jeden Tag gelesen werden, selbst wenn sie jahrelang nicht gelesen werden, selbst wenn sie nur ein einziges Mal im Leben gelesen werden, und können nicht verbraucht werden. Aber ein Objekt, das in einem Depot darauf wartet, bis sein Verkaufspreis höher als sein Einkaufspreis geworden ist, ist keine Investition. Denn Geld, das nur dafür ausgegeben worden ist, um Geld zu verdienen, ist vor allem Geldverschwendung.
Kunst kann auch nicht konsumiert werden. Das ist ein Irrtum, der mit dem Irrtum der Käuflichkeit von Kunst zusammenhängt und auf der Hand liegt. Wenn ich mir ein Ticket, zum Beispiel für das Theater, für ein Konzert, eine Ausstellung, eine Veranstaltung oder ein Museum kaufe, dann möchte ich natürlich etwas für mein Geld, denn es ist ja eine Investition. Aber ich merke bald, dass ich, was ich da sehe oder erlebe, nicht konsumieren kann. Ganz im Gegenteil. Ein ungreifbarer Moment zwischen zwei Schauspieler:innen, eine Interferenz zwischen einer Gitarre und einer Mikrowelle auf einer Werkbank, eine Rückkopplung zwischen Aufnahmegerät, Mikrophon und Lautsprecher, eine Verzerrung, eine unaushaltbare Dissonanz, die nur durch eine kurze Stille unterbrochen wird, gibt es vielleicht nur einen Augenblick. Dies kann niemandem gehören, noch wiederholt werden. Oder umgekehrt: ein Rot, das nur durch das umgebende Grün zu leuchten beginnt, ob auf einem Gemälde, einem Bildschirm oder einer Leinwand, der Augenblick einer Videoinstallation, in der es fast nicht mehr möglich ist, hinzuschauen, obwohl nichts zu sehen ist, die überraschenden Wendungen in den Bewegungen einer Tänzerin, die bei jeder Wiederholung das Schauen immer wieder aus dem Gleichgewicht geraten lassen; all das ist das nächste Mal, wenn ich das Theater, das Konzert, die Veranstaltung oder das Museum besuche, noch da: diese Phänomene sind, wenn ich aufmerksam bin, nicht weniger geworden, sondern sogar stärker. Und manchmal sehe oder höre ich zum Beispiel auf einer Zeichnung beim dritten, vierten oder fünften Mal sogar unerhörte Dinge, die ich die ersten Male nicht gesehen habe. Das Kunstwerk hat sich also auf sonderbare Weise vermehrt, statt sich zu verbrauchen. Um bei dem Beispiel Gedichte zu bleiben: Es ist leicht möglich, sich das ganze Leben lang mit einem einzigen Gedichtband zu beschäftigen und immer neue Verbindungen, Bewegungen, sprachliche Phänomene oder etymologische Verwandlungen zu finden. Ein Gedicht muss nicht tief sein, aber seine Wörter können die Bedeutungen unterhöhlen. Besonders ist diese Eigenschaft bei schwierigen Gedichten zu beobachten. Schwierige Gedichte scheinen dabei eine besonders gute Investition zu sein, insbesondere, weil gute schwierige Gedichte nicht so einfach zu schlucken sind und es umso schneller klar wird, dass sie sich nicht konsumieren lassen. Dafür ermöglichen sie eine besonders lange Beschäftigung, die oft auch nirgendwohin führt und danach ist die Leser:in auch nicht schlauer als zuvor. An dieser Stelle habe ich schon oft das Argument gehört, dass der moderne Mensch den ganzen Tag arbeitet und zu wenig Zeit hat, um sich den Luxus, schwierige Gedichte, oder eben Ausstellungen, Theaterstücke oder Veranstal-tungen jeder Art, die schwer oder gar nicht zu konsumieren sind, leisten zu können. Aber das ist kein Argument gegen schwierige Gedichte oder alles andere, sondern ein Argument für die Abschaffung der Arbeit (oder die Verkürzung der Arbeitszeiten, als einen ersten Schritt).
Immersion ist ein Begriff, dessen Ursprung in der Werbesprache untergegangen ist; ein Begriff, der nicht mehr bezeichnet oder nicht bezeichnet, sondern in erster Linie einen Kauf- oder Konsumgrund darstellt und durch die ständige Verwendung in Kontexten, die neue, »innovative« Möglichkeiten der Arbeit, des Einkaufens oder auch des Erlebens von Kunst versprechen, unverwendbar geworden ist. Als Werbewort hängt es mit dem Begriff des Erlebnisses zusammen, einem Produkt der Freizeit- oder Unterhaltungsindustrie. Beispiele für solch immersive Erlebnisse wären das Eintauchen mithilfe von Virtual Reality Brillen, Bildschirmen oder einer ganzen Halle voller Requisiten, um die Illusion zu erzeugen, ein Kunstwerk zu betreten oder ein Theaterstück nicht von außen, sondern von innen her betrachten zu können. Die Geschichte der immersiven Erlebnisse ist älter als ihr Name und reicht von bemalten Wänden eines Zimmers, über die Panoramen des 19. Jahrhunderts, bis zu den VR-Brillen, die seit Jahrzehnten in Gebrauch sind, und beinhaltet von Anfang an das Durchqueren, das Bewegen in künstlichen Landschaften, nachgestellten Touristenattraktionen oder Kriegsschauplätzen, ist aber selten weitergegangen als das. Wenig hat sich verändert, trotz der Verbesserung der Technologie; außer vielleicht die Bildqualität.
Ich möchte die Verwendung des Begriffs kritisieren, die Vorstellung von Immersion, die damit zusammenhängt, vor allem des sogenannten immersiven Erlebnisses; dass das Eintauchen, oder genauer, die Simulation des Eingetaucht-Werdens, Überschwemmt-Werdens, ohne dabei unterzugehen, in ein Kunstwerk z.B. ein Gemälde, einen Zugang zu diesem ermöglichen soll. Aber wie soll ein solcher Zugang aussehen, wenn nicht auch eine Auseinandersetzung stattfindet? Und in dieser Auseinandersetzung ist es, in der das meiste vor sich geht, vielleicht sogar fast alles. Kunst hat es ja in sich. Da passiert einiges: Bewegungen, Ähnlichkeiten, leise und laute Phänomene, Sinn, Unsinn, Unbegreifliches. Alle diese Bewegungen, die sich in der Auseinandersetzung auftun, existieren im immersiven Erlebnis nicht mehr, da sie dem Kunstwerk selbst und dem Publikum nicht zugetraut werden. Das Publikum wird nicht ernst genommen, und das Kunstwerk deswegen zum Erlebnis aufgeblasen, indem es auf gewisse sinnliche Aspekte, von denen angenommen wird, dass sie durch Effekte nachgeahmt oder verstärkt werden können, reduziert wird. Das Erlebnis ersetzt so die Auseinandersetzung. Es ermöglicht keinen Zugang zu einem Kunstwerk, was vielleicht auch nur als seine Existenzberechtigung vorgeschoben wird, wenn nicht »Profit« gesagt werden soll, sondern schiebt sich davor. Die immersiven Erlebnisse verharmlosen Kunst, entschärfen sie und es kann viel zu leicht passieren, dass zum Beispiel ein Theater, das die Darstellung des Krieges als Spektakel kritisiert, selbst zum Spektakel wird. So ein grundlegendes Missverständnis liegt auch etwa bei Malereien vor, die so tun, als würden sie beispielsweise die Fassade eines Gebäudes immer wieder in verschiedenen Tageszeiten oder Stimmungen darstellen, oder einen Seerosenteich, diese also eben einfach als Gebäude oder Gärten darstellen – die Absicht lag aber in Wirklichkeit in der Suche nach Wegen, Farbe und Licht zu malen.
Wie aber wäre zum Beispiel eine Ausstellung möglich, in der das Publikum nicht für dumm verkauft, sondern ernst genommen wird? In der Praxis könnte das so ausschauen: Eine Ausstellung, zum Beispiel eine Fotoausstellung, Soundinstallationen, oder auch eine Ausstellung, die die verschiedensten Medien verbindet, lässt die Kunstwerke miteinander in eine Korrespondenz treten und ermöglicht es dem Publikum, diese Korrespondenzen zu entdecken, legt vielleicht keine Spuren, aber, durch Nähe oder Entfernung der einzelnen Objekte zueinander, wird es dem Publikum ermöglicht, selbst immer neue Verbindungen, Bewegungen, Phänomene oder Verwandlungen zu suchen oder lesen zu lernen, als läse es ein Gedicht. Oder auch umgekehrt, ein Gedicht lesen zu lernen, als würde es betreten, wie eine Ausstellung. Und bei dieser Auseinandersetzung versenkt sich das Publikum, verschwindet manchmal sogar völlig, um später, um Luft ringend, wieder aufzutauchen.
Dieses um Luft ringen, diese Atemnot ist es, die einem immersiven Erlebnis fehlt. Denn das immersive Erlebnis kann sich diese Atemnot nicht leisten. Es muss konsumierbar sein, damit es als Erlebnis auch verkaufbar bleibt. Es ist ja auch mit einem großen Geldaufwand verbunden, ein immersives Erlebnis zu erstellen, ob es digital ist oder eine ganze Halle füllt, und diese Ausgaben müssen mehr als gedeckt sein, denn das Geld für ein immersives Erlebnis wurde nur ausgegeben, damit die Einnahmen, früher oder später, die Ausgaben wieder übersteigen. Das Publikum darf also auf keinen Fall überfordert werden, sonst bleibt es vielleicht aus. Aber natürlich muss das Publikum überfordert werden. Es muss endlich mehr Mut zur Zumutung gefunden werden, damit Kunst auch ihre subversive Kraft, ihre Gefahren, von denen die Atemnot nur eine ist, behalten kann.
Am Ende stimmt das alles nicht. Kunst wird natürlich gekauft und als Wertanlage verwendet. Der Markt zerstört alles, womit er in Berührung kommt, nicht sofort, nicht alles auf einmal, aber mit der Zeit und macht alles konsumierbar. Aber es ist, denke ich, sehr leicht, sich eine Welt vorzustellen, in der das nicht so ist, vor allem in der Auseinandersetzung mit Kunst und auch mit Literatur, zum Beispiel mit Gedichten. Kunst, das sind vielleicht die unerhörten Dinge, die niemandem gehören. Sie ist kein Produkt der Freizeit- oder Unterhaltungsindustrie, und sollte auf keinen Fall mit einer Touristenattraktion verwechselt werden. Aber das immersive Erlebnis verwischt diesen Unterschied. Es lässt die Atemnot gar nicht erst zu und kommt allem anderen zuvor, das sie vielleicht begleitet hätte.