Over – Exercises in Death

Drei Elemente als Abbildungsversuche einer ungewissen Präsenz. Claudia Reiche stellt Überlegungen zu ihrer Foto- und Videoinstallation »Over – Exercises in Death« an. 

»Es ist sehr schwer zu begreifen, warum wir Angst haben [vor dem eigenen Tod]. Einerseits haben wir Angst, weil wir denken, wir werden nicht mehr da sein […] Andererseits aber ist die Vorstellung noch entsetzlicher – und das ist der Ursprung der Angst – die Vorstellung, dass wir anwesend sein werden und teilnehmen an dieser Nicht-Welt, an unserem eigenen Tod.« Jacques Derrida


Installation in der Stadtwerkstatt

Die Installation, die in der Stadtwerkstatt im Rahmen von STWST48x9 COLD HEAVEN gezeigt wird, konfrontiert drei Elemente: operative Bilder in militärischer Datenvisualisierung, Infrarotfotos einer Wohnung im Zustand der Auflösung nach dem Tod der Eltern und schließlich Familienfotos, genauer: deren Rückseiten, und die damit verdeckten Blicke verstorbener Verwandter, die Kriege erlebten und nicht überlebten. 

Abschüsse

Die militärischen Screenshots von Monitoren zur Bedienung von Flugabwehrsystemen bilden Interfaces ab, die fliegende Zielobjekte und Treffer anhand signalverarbeiteter zeitserieller Datenströme aus Radar, Infrarot und Optroniksystemen visualisieren. Die Bildanzeige – im Dienst der Feuerleitung – operiert auf Basis automatisierter Geolokalisation, Analyse und Zielverfolgung. Was wird in den Visualisierungen erzielter Treffer auf dem Kontrollschirm gezeigt? Kenntlich sind die Treffer, hier Abschüsse von Flugobjekten durch Lenkflugkörper, durch ein plötzliches Erscheinen heller, schnell auseinanderstrebender Flecken im Bild, bei Ablenkung vorausgehender Bewegung in einer Flugbahn, die in vertikal absinkende, disparate Bewegungen der kleinen Helligkeiten übergeht sowie das Verschwinden des zuvor identifizierten Objekts aus dem Bild.

 

Abschüsse (Bild: Claudia Reiche)

 

Es geht um einen vorausberechneten Zeitpunkt und Ort für einen zerstörenden Zusammenfall von Bewegungsanalyse und Bewegungssynthese – nachträgliche und vernichtende Bestätigung der verfolgenden Lokalisierung und der in die Zukunft zielenden Waffensteuerung. Die Bildproduktion solchen Waffensystems scheint das Visualisierte und dessen Referenten qua Auslöschung miteinander zu identifizieren wie Fiktion und Fakt. Eine durchschlagende Bildertäuschung in gewisser Weise … Bloße Näherung an Undarstellbares. Reales. 

Unterhalb des Rot 

Liefe eine Maus auf die Kamera zu, leuchteten im aufgezeichneten Infrarotbild ihre Augen, die die Wärme anders als die behaarte Haut abgeben, hell auf. Auch ihr Urin, vielleicht in einem kurzen Erschrecken abgesetzt, hinterließe eine helle Spur in fleckig ausfließendem Leuchten. Ein neues Licht, unterhalb des Rot. 

Die Fotos sind in einem Verfahren entstanden, das sich einer ‚blinden’ fotografischen Aufzeichnung von Lichtwellen jenseits des sichtbaren Spektrums verschrieben hat. Eine Wohnung ist zum Gegenstand genommen, deren unermesslich vertraute Konturen sich nach dem Tod ihrer letzten Bewohnerin, meiner Mutter, durch Ausräumung des Hausstands und des Mobiliars zunehmend verwischten. Die Orientierung in der seit über fünf Jahrzehnten mit Grundriss und Einrichtung gekannten Wohnung übernahmen der Körper und das Erinnern an Wege, Gesten und Gewohnheiten. Fotografiert wurde nachts und in Dunkelheit, oft zusätzlich mit geschlossenen Augen. Schreckmomente erzeugten sich durch kleine Irrtümer in der vorahnend, tastenden Bewegung als wahrgenommene Nichtübereinstimmungen: Räumlich. Zeitlich. Faktisch. Als ob ein verrutschtes Double an einem Schnittpunkt körperlich-medialer Aufzeichnung fotografierte: sein aufblitzendes und entschwindendes Universum der Kindertage, in einer seltsam flüchtigen, verrückten Form von Gedankenfotografie.

 

Unterhalb des Rot (Bild: Claudia Reiche)


Ausgelöst wurde eine Kamera, deren Infrarot-LEDs nicht sichtbare Blitze aussendeten und die die Reflexionen dieser Strahlen ‚unterhalb des Rot’ wieder aufzeichnete. Denn eventuell vorhandene Infrarotstrahlung, wie sie etwa von lebenden Körpern oder elektronischen Geräten abgegeben wird, erscheint jeweils proportional verstärkt. Das halb bewusste Auslösen und das automatisierte Einfangen – von wem, von was? Von welchem Phantom? – hatte Vorrang vor bildästhetischen Erwägungen. Die bildlichen Ergebnisse gaben Vertrautes in kaum kenntlicher Form aus, so wie es unter dem Eindruck des Verlustes geliebter Personen erscheinen mag, »denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.«1
Eine unbestimmte Angst, herausgefordert, zeigt sich in ihren infraroten, schwarz-weiß gewordenen Farben … Oder: »Der Begriff eines Phantoms ist ebensowenig in Person greifbar wie das Phantom eines Begriffs. Weder Leben noch Tod, beide suchen sich gegenseitig heim.«2

Rückseiten der Blicke

In Pappschachteln gebündelte Stapel von Familienfotos verschiedener Herkünfte, wie sie sich im Nachlass meiner Mutter fanden, werden in der Präsentation den Blicken der Betrachtenden auf besondere Art gezeigt, nämlich indem die Bildseiten der Fotografien herumgedreht und verborgen sind. Dies entspricht weitgehend ihrer vorgefundenen diskreten Art der Lagerung, denn die Fotografien fanden sich vergraben zuunterst in Schränken, dort, wo in der letzten elterlichen Wohnung auch Schuhe, einige Werkzeuge und enzyklopädische Bände erotischer Kunst versteckt lagerten. 

Die einstigen Blicke dieser Fotografierten hin zur Kamera bleiben insofern, wie schon in den verschnürten Bündeln, ungezeigt, und gewissermaßen den Betrachtenden abgewandt. Zu sehen gegeben werden die papiernen Rückseiten dieser Familienfotos, wie sie übrigens kaum zu unterscheiden sind von den Rückseiten anderer Fotos – aus anderen Familien, Funden, Fotoarchiven. Dennoch sind es nicht austauschbare Bilder von Verstorbenen, deren Freunden, von Menschengruppen mit manchmal vermerkten Jahreszahlen und Orten, teils mit den Namen der Abgebildeten, Widmungen, Unterzeichnungen, diversen Notizen von Verwandtschaftsbeziehungen, die, von verschiedenen Händen hinzugefügt, im Nachhinein vornehmlich Verwirrung stiften. (Fast jede und jeder kann jemandes Bruder, Großtante, Cousine, Urgroßvater sein.) Auch medaillengeschmückte Aufdrucke längst vergangener Adressen einstiger Fotoateliers sind auf diesen Rückseiten der Fotos zu finden.

 

Rückseiten der Blicke (Bild: Claudia Reiche)

 

»Preis I. Classe Amsterdam, Prämiirt Philadelphia, Wien, Königsberg i/Pr.«, »Strandhôtel Zoppot«, »Marie Fliege, geb. Daniels«, »Zur Erinnerung an den Weltkrieg 1914/16. dein Bruder«, »Danzig, Tante«, »Zur frdl. Erinnerung an deinen Bruder«, »Frl. Discher (jüngste Schwester)«, »im Juni 1942«, »Februar 1944« und so weiter. Die Ausstellung nur der Rückseiten der Porträt- und Gruppenfotografien spiegelt also den bisherigen Umgang mit diesem Erbe wider, der den Blicken der Fotografierten eine weiterwirkende Macht zuzutrauen schien und Blickwechsel mit diesen zu vermeiden suchte: mit diesen ausdrucksvollen, meist todernsten Blicken. Oder so: »Gerade weil in jedem Photo, und sei es scheinbar noch so fest der aufgeregten Welt der Lebenden verhaftet, stets dieses unabweisbare Zeichen meines künftigen Todes enthalten ist, […]«.3
Das Video fügt der Serie der so verdeckten und zugleich entblößten Fotografien einen Soundtrack hinzu: Dort treffen fernes Geschützfeuer im simulierten Sound des letzten Weltkriegs und flüsternder, heller Regen in angeblich »relaxing« ASMR-Qualität (Autonomous Sensory Meridian Response), wie sie heute als Soundkulisse zum Einschlafen angeboten werden, auf synthetische Geräusche und dokumentierte Klänge einer Panzershow. Auch dies eine ‚Übung zum Tod‘: affektiv, quer zur reflektierenden Negation des Visuellen.

Kalte Präsenz 

Alle drei Elemente verbindet eine ungewisse Präsenz: es sind ebenso präzise wie phantastische Abbildungsversuche eines Nicht Sichtbaren. Nicht sichtbar wie es der eigene Tod ist. Kalt wie eine Bilderzeugung. Von sich getrennt, um verbunden zu sein in Annäherung an eine unerreichbare Präsenz. »Aber es handelt sich immer um die Singularität des Anderen, insofern sie mich erreicht, ohne an mich gerichtet zu sein, ohne für mich präsent zu sein, und der Andere kann ‚ich‘ sein, ich, der ich gewesen bin oder hätte gewesen sein müssen, ich, der ich bereits in der vollendeten Zukunft und in der vollendeten Vergangenheit meiner Photographie gestorben bin.«4

Kälte, Widerstand und Lebendigkeit der Toten sich zur Maßgabe zu nehmen, braucht Übung. Etwa entlang eines Wortes nachzudenken: ‚over‘ wie ‚vorbei‘ … Das meint vergangen wie eine Gelegenheit, vorüber wie ein Traum. In schweren Zeiten: Jemand oder etwas sei hinüber. Vorbei ist vorbei ist vorbei. Wie ein Gespenst. Also nicht. Denn es geht vorbei – am Sein – und trifft nicht vollständig. Zu. Im Unbewussten? Dort, meint Sigmund Freud, seien wir ohnehin von der eigenen Unsterblichkeit überzeugt und so wird der eigene Tod verdeckt, wenn nicht durch Gewalt, aufgerufen. »[D]aß wir uns so befremdet fühlen in dieser einst so […] trauten Welt, ist die Störung des bisher von uns festgehaltenen Verhältnisses zum Tode. Dies Verhältnis war kein aufrichtiges.«, schreibt Sigmund Freud in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« während des ersten Weltkriegs.5

 

[1] Sigmund Freud, Das Unheimliche [1919], in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, Hg.: Studienausgabe. Band IV. S. Fischer, Frankfurt am Main 1982, S. 241-274, hier: 258
[2] Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, Hg. Hubertus von Amelunxen, übers. v. Gabriele Ricke, Roland Voullié, Berlin, Nishen, 1987, S. 17.
[3] Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1985, S. 108
[4] Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, Hg. Hubertus von Amelunxen, übers. v. Gabriele Ricke, Roland Voullié, Berlin, Nishen, 1987, S. 13
[5] Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1915], in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, Hg.: Studienausgabe. Band IX. S. Fischer, Frankfurt am Main 1982, S. 49