Da reguläre Honorare für Therapeuten zwischen 70 und 130 Euro betragen und diese in der Regel wöchentlich besucht werden sollten, bleibt für Niedrigverdiener, Arbeitslose oder Bezieher der Mindestsicherung allein die sogenannte Therapie auf Krankenschein. In Wien wurde man dazu von der WGKK in der Regel an die zwei Trägervereine – Verein für ambulante Psychotherapie (VAP) oder die Wiener Gesellschaft für psychotherapeutische Versorgung (WGPV) – verwiesen. Diese vermitteln über eine Datenbank auf deren Homepage oder telefonisch Kontaktdaten von Therapeuten, welche einen Vertrag mit der WGKK abgeschlossen haben. Mit etwas Glück konnte man auf diese Weise innerhalb einiger Wochen einen bezahlten Therapieplatz ergattern.
Seit Frühjahr 2012 scheint sich die Situation grundlegend zu ändern. Zwar wurde man von der WGKK weiterhin an die Trägervereine verwiesen, doch erst am Ende der Telefonkette erhielt man von den Therapeuten der WGPV vage Aussagen, dass keine neuen Plätze mehr von der WGKK bewilligt werden. Ob dies das Ende der Therapie auf Krankenschein bedeutete, ob in absehbarer Zukunft wieder mit neuen Plätzen zu rechnen sei, wagte niemand zu sagen. Da eine definitive Antwort in dieser Sache notwendig ist – schließlich handelt es sich um die Behandlung einer Erkrankung – landeten viele wieder bei der Auskunft der WGKK. Dort erklärten die Mitarbeiterinnen, dass das Kontingent an verfügbaren Plätzen (im Frühjahr 2012!) ausgeschöpft sei und keine Neuanträge mehr angenommen werden. Ab wann wieder mit Bewilligungen von Neuanträgen zu rechnen sei, war schlicht nicht in Erfahrung zu bringen. Der Patient wurde kurzerhand monatelang in Unwissenheit gehalten, ob eine realistische Perspektive für eine bezahlte Behandlung einer psychischen Erkrankung überhaupt vorhanden war. Wer hartnäckig blieb, erfuhr schließlich nach weiteren Telefonaten, dass die Therapeuten des kleineren VAP (2009 waren beim VAP 170, bei der WGPV 552 Therapeuten eingeschrieben) einfach nur durch den Andrang überfordert waren und deshalb keine weiteren Plätze vergeben konnten. Prinzipiell sind hier Neuanträge möglich, doch darf man sich glücklich schätzen, wenn man vage Zusagen auf ein Erstgespräch in einem halben Jahr bekommt. Bereits bisher war der Zugang zu einem finanzierten Therapieplatz nicht sehr transparent. Die Trägervereine erscheinen als Anlaufstelle für Patienten, doch tatsächlich machen sie wenig mehr, als die Telefonnummern der Therapeuten zu vermitteln. Sie können auch keinerlei Auskunft darüber geben, welcher Therapeut noch freie Kapazitäten hat. Letztlich müssen alle relevanten Schritte zur Beantragung eines Therapieplatzes vom Patienten im persönlichen Gespräch mit dem Therapeuten geklärt werden.
Ende Juni erklärte die WGKK die geplante Einführung eines neuen Fragebogens zur Beurteilung der Notwendigkeit einer Behandlung. Dieser sollte vom Therapeuten in Abstimmung mit dem Patienten ausgefüllt werden und gilt als Voraussetzung zur Genehmigung der Finanzierung einer Therapie. Bereits jetzt musste der Therapeut zur Bewilligung eines Kostenzuschusses einen Fragebogen des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger (HÖSV) ausfüllen. Dabei galt es jedoch allein, die »Störungen« nach einem standardisierten Schema zu klassifizieren, deren Intensität zu kommentieren und weitere allgemeine Angaben zur prognostizierten Dauer der Behandlung zu machen. Auch der Antrag der OEGKK für einen Therapieplatz fragt nur wenige allgemeine Punkte ab. Nach einer Presseaussendung des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP) sollen im neuem Fragebogen der WGKK nun »fachlich nicht gerechtfertigt, äußerst sensible persönliche Daten und Informationen der Versicherten abgefragt« werden. Dies betrifft u.a. »Vorerkrankungen, Vorbelastungen in der Familie durch psychische Erkrankungen, Suizide, Depressionserkrankungen«. Die Salzburger Krankenkasse (SGKK) musste aus datenschutzrechtlichen Gründen derartige Angaben anonymisieren, der WGKK ist, laut ÖBVP, die Anonymisierung jedoch zu aufwendig.
Nach einer Meldung der WGKK von Ende Juni wurden nun zusätzliche Stunden freigegeben, um den Engpass in der Versorgung zu stoppen. Bei den Trägervereinen und deren Therapeuten scheint sich dies jedoch nur langsam herumzusprechen. Von den Therapeuten hört man, definitive Zusagen seien erst ab Oktober zu bekommen. Die Versorgungslage scheint sich nach über einem halben Jahr wieder relativ zu stabilisieren. Eva Mückstein vom ÖBVP besteht dennoch darauf, dass die Versorgungslage in Österreich besonders für einkommensschwache Schichten prekär bleibt. Eine steigende Nachfrage ist jedenfalls eindeutig dokumentiert. Ein vom HÖSV und der SGKK erstellter Bericht mit dem Titel »Analyse der Versorgung psychisch Erkrankter« vom Juni 2011 stellt fest, dass 2009 »900.000 Menschen in Österreich von psychischen Erkrankungen in einem Ausmaß betroffen« waren, das »zur Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führte«. Der Bericht schätzt, dass »zwischen 200.000 und 250.000 ÖsterreicherInnen [...] in einem schweren Ausmaß betroffen waren.« Bedenklich ist, dass »840.000 ÖsterreicherInnen 2009 [...] Psychopharmaka aus den Gruppen der Antidepressiva, der Antipsychotika oder der Tranquilizer verschrieben« bekamen. Während »68% der Psychopharmaka [...] von AllgemeinmedizinerInnen erstverschrieben« wurden. Nach Mückstein werden sogar 78% der Psychopharmaka von Hausärzten verschrieben. Ein Besuch beim Hausarzt dauert durchschnittlich sechs Minuten. »Eine Diagnose kann in dieser Zeit nicht gestellt werden«, kritisiert Mückstein. 65.000 Versicherte nehmen nach dem Bericht der Krankenkassen »über die Sachleistungsversorgung [Therapie auf Krankenschein] oder über den Kostenzuschuss eine Psychotherapie« in Anspruch.
Die Einschränkung des Angebots an therapeutischer Versorgung betrifft auch andere Bereiche. So wurden im Anton Proksch Institut (API), eines der größten auf Suchtkrankheiten spezialisierten Therapiezentren in Europa, die ambulante Behandlung für Suchtkranke in der Wiedner Hauptstrasse und in der Abendklinik in der Radetzkystrasse in den letzten Monaten eingestellt. Dort konnten Suchtkranke, die etwa noch im Berufsleben stehen, ein festes soziales Netz haben oder erst an der Schwelle zu einer schweren Erkrankung sind, zusammen mit einem Team aus Ärzten, Sozialarbeitern und Therapeuten einen ambulanten Entzug planen, bzw. eine kontinuierliche und professionelle ambulante Hilfe für ihre Suchterkrankung in Anspruch nehmen. In der Abendklinik war es Patienten daher auch möglich, solche Hilfestellung nach der regulären Arbeitszeit zu bekommen. Nun bleibt für Sucht- und Alkoholkranke bzw. Alkoholismusgefährdete als einzige Option, die monatelange stationäre Behandlung in einem der verschiedenen Zentren des API. Eine Perspektive, die viele Hilfesuchende, welche nicht dem Klischee des besinnungslosen Vollzeittrinkers oder -junkies entsprechen, abschreckt. Auf die Frage, wohin man sich in Wien für eine ambulante Behandlung wenden sollte, erhält man von der Telefonauskunft des API freilich keine Antwort. Lapidar heißt es dort, man sollte »sich das privat organisieren«. Tatsächlich gibt es noch eine kleine ambulante Station für Alkoholkranke am AKH Wien. Davon abgesehen gibt es jedoch zumindest für Alkoholkranke in der Hauptstadt tatsächlich keine zentrale Anlaufstelle mehr für eine ambulante Therapie. 2011 wurden 10.050 Patienten vom API ambulant versorgt. Nach Schätzungen leiden 68.000 Menschen in Wien an einer Alkoholerkrankung. 300.000 bis 400.000 Wiener betreiben regelmäßig Alkoholmissbrauch. Wie immer in Österreich ist niemand für das Problem verantwortlich. Die WGKK pocht auf die bestehenden Verträge, welche auch eine ambulante Versorgung umfassen und ihrerseits auch eingehalten wurden. Das API sagt, dass diese Finanzierung nicht ausreichend sei und schließt die Ambulatorien. Die Patienten bleiben auf der Strecke.
In OÖ wird Psychotherapie auf Krankenschein von der Oberösterreichischen Gesellschaft für Psychotherapie und dem Verein für Prophylaktische
Gesundheitsarbeit erbracht. Zusätzlich wurde nun als neue Instanz die Clearingstelle für Psychotherapie vorgeschaltet, vorgeblich um die Versorgung zielsicherer und ohne Wartezeiten zu ermöglichen. Eine Aufgabe, wofür eigentlich die Versorgungsvereine geschaffen wurden. Nach Auskunft der Clearingstelle ist jedenfalls in OÖ mit einer Wartezeit von einem Jahr (!) für einen finanzierten Therapieplatz zu rechnen. Die eiserne Regel des Sozialstaates, Leistungen an die Konsumenten auf keinen Fall effizient direkt an diese zu vermitteln, ist freilich auch im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung durchschlagend. Dies geht nicht allein auf das Konto des Staates. Die Klientel des Angestellten- und Vereinsstaates produziert reflexhaft Entwürfe zum Beweis der eigenen Unabkömmlichkeit und Förderungswürdigkeit. Dass eine Stunde beim Therapeuten mit durchschnittlich 70 - 130 Euro veranschlagt wird, ist eine weitere Konstante in dieser Bilanz, die es zu hinterfragen gilt. Es ist evident, dass die Finanzierung einer umfassenden Therapie für hunderttausende Erkrankte ein reale wirtschaftliche Belastung darstellt. Ob die österreichische Bürokratie ökonomisch und sachlich den sozialen Anforderungen der nahen Zukunft gewachsen sein wird, muss bezweifelt werden.
Analyse der Versorgung psychisch Erkrankter:
http://www.psychotherapie.at/sites/default/files/files/studien/Analyse-Pth-Versorgung-SGKK-HVB-2011.pdf
http://www.boep.or.at/fileadmin/editor_upload/fachsektionen/klinges/Anhang_SGKK_040511.pdf
http://www.boep.or.at/fileadmin/editor_upload/fachsektionen/klinges/Anhang_HVB_2011-06_Versand.pdf