In den »Briefen aus den deutsch-französischen Jahrbüchern« lieferte Karl Marx 1844 eine Physiognomik des Philisters, die treffender ist als die Rhetorik, mit der sich nicht nur präpotente Linke seither gegen ein vermeintlich allgegenwärtiges Spießertum abzugrenzen pflegen. Bei Marx heißt es: »Es ist wahr, die alte Welt gehört dem Philister. (…) Herr der Welt ist er freilich nur, indem er sie, wie die Würmer einen Leichnam, mit seiner Gesellschaft ausfüllt. Die Gesellschaft dieser Herren braucht darum nichts weiter als eine Anzahl Sklaven, und die Eigentümer der Sklaven brauchen nicht frei zu sein. (…) Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser Menschen erst wieder zu erwecken. (…) Die Menschen dagegen, welche sich nicht als Menschen fühlen, wachsen ihren Herren zu, wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft. Diese Welt gehört ihnen. Sie nehmen sie, wie sie ist und sich fühlt. Sie nehmen sich selbst, wie sie sich vorfinden, und stellen sich hin, wo ihre Füße gewachsen sind (…). Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt (…). Die vollkommenste Philisterwelt, unser Deutschland, mußte also natürlich weit hinter der französischen Revolution, die den Menschen wieder herstellte, zurückbleiben; und der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus unsern Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: ‚Der Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Tier.‘«
Dem einverstandenen Unverstand, der Ideologie für eine Angelegenheit Ewiggestriger und die Affirmation der fortschreitenden Verblödung für Kritik hält, gelten Marx‘ Zeilen als Polemik gegen ein anachronistisches Bürgertum, an dessen Wertekanon nur noch einige hoffnungslose Kulturkritiker glauben, gegen die gleichwohl unerbittlich vorzugehen sei. So wenig das von Marx denunzierte Herrschaftsverhältnis seither abgeschafft worden sei, so wenig ähnele doch die nachbürgerliche Gegenwart jener »alten Welt«, in der sich die »angestammten Herren« noch daran erkennen ließen, dass sie sich, gleichsam als der Autochthonie verhaftete Bürger, hinstellen, »wo ihre Füße gewachsen sind«. Der Unterschied zwischen Philister und Bohemien, bodenständigem Spießer und wurzelloser Intellektualität, schon immer eher ein Phänomen der Theorie als der Wirklichkeit, sei längst kassiert und die Kritik am Philistertum wohlfeil geworden: Mit solchen Wahrheiten lügen sich antideutsche »Welt«-Leser ihr Leben inzwischen ebenso zurecht wie diplomierte Adorniten, die Dialektik für den unwiderleglichen Beweis dessen halten, dass von jedem Satz das Gegenteil stimme. Sie alle (von den ohnehin mit den neuen Technologien verschmolzenen »Aktivisten« jeglicher Couleur zu schweigen) hat sofort gegen sich, wer an den zur undurchdrungenen zweiten Natur gewordenen »sozialen Netzwerken« mehr und anderes kritisiert als irgendwelche nichtemanzipatorischen Inhalte. Dabei müsste sich jedem, dem das Nachdenken über sich und die Welt, in der er lebt, noch nicht gänzlich fremd geworden ist, die Erfahrung aufdrängen, dass social media nur die zeitgemäße Organisationsform jener politischen Fauna ist, deren Angehörige die Welt umso leichter nehmen, wie sie ist und sich fühlt, je gründlicher sie das Selbstgefühl der Freiheit sich und einander ausgetrieben haben. Eineinhalb Milliarden aktive Facebook-Nutzer sind die vollendete Parodie dessen, was der Kommunismus Menschheit nannte. Die politische Tierwelt war nie geselliger.
Der Begriff des Philisters, gegen den fast alle sprechen, die ihn verwenden, gewinnt angesichts solchen Ausverkaufs des Kosmopolitismus neue Geltungskraft – mit dem Unterschied, dass sich kein Gegenbegriff mehr zu ihm anbietet. Was die »sozialen Netzwerke« aus der Kommunikation gemacht haben und wogegen selbst sie noch zu verteidigen wäre, ist vom lebendigen Ausdruck, dem sie einmal dienen sollte und entsprungen ist, weiter entfernt als das Morsealphabet, dessen Verwendung immerhin lebensrettend sein konnte und überdies zeitsparend war. Gegen eine Anmeldung bei Facebook aber spricht schon allein, dass man sich mit ihr der Möglichkeit aussetzt, Menschen, die man liebt und achtet, bei Verhaltensweisen zu beobachten, die sie für immer zu diskreditieren drohen. Um sich dessen zu vergewissern, muss niemand der armen Chantal oder dem bemitleidenswerten Kevin dabei folgen, wie sie Mode- und Mobbingtips austauschen: In den »sozialen Netzwerken« reden alle wie sie. Gesellschaftliche und geistige Hierarchien sind buchstäblich liquidiert; einkassiert, aber nicht abgeschafft. Das Prinzip der Herablassung zum Schlechten, das Adorno in den »Minima Moralia« unter dem Titel »Hinunter und immer weiter« prägnant beschrieben hat, ist in den »sozialen Netzwerken« zur alleinigen Vergesellschaftungsform geworden. Jedes Posting, selbst das mit korrekter Grammatik, liest sich wie gesprochen von den grellen Plapperstimmbändern, die einem im Supermarkt in hysterisch redundanter Begeisterung lästige Sonderangebote einhämmern. Verführung, Überredung und Gefallenwollen, deren zivilisierendes Moment im Begriff der Werbung enthalten ist, sind zur plumpen Reklame der Menschen für sich selbst und die Welt, schließlich zur Propaganda geworden, die keinen Vorwand benötigt, um durchzudringen.
Wer sich für besser als diejenigen hält, mit denen eins zu werden doch sein innerstes Bedürfnis ist, echauffiert sich über vermeintliche Unsitten in einer Sphäre, die überhaupt nur existieren kann, weil sie den Begriff der Sittlichkeit suspendiert hat: über das Posten von Katzenbildern beispielsweise, das aus irgendwelchen Gründen überhaupt nicht geht, während es antideutschen Schwadroneuren nicht übel genommen wird, wenn sie zum Beweis von Geschmack und Zahlungskraft 365 Mal im Jahr ihre Antipasti mit Rotweinglas fotografieren; über unsachliche Kommentare in Foren, die sofort schließen müssten, wenn sie aus dem Sprechen zur Sache eine Norm machen würden; über übergriffiges Kommunikationsverhalten in einem Medium, das einen einzigen kommunikativen Übergriff darstellt. Weil jeder an die »sozialen Netzwerke« Angeschlossene weiß, dass fortan niemand, am wenigsten er selbst, ihn mehr ernstnehmen kann, aber dennoch alle ihr permanentes Angeschlossensein bierernst affirmieren, haben die social media-Akteure eine ebenso subalterne wie überhebliche Selbstironie ausgebildet, deren Codes jeder beherrschen muss, der nicht bald als humorloser Biedermann oder unberechenbarer Stalker in Verruf geraten will. Der Witz an dieser Ironie ist, dass in ihr selber Biederkeit und Spießertum mit einer Offenheit auferstehen, die fast dazu verleiten könnte, jede Verbindung zwischen technologischem und gesellschaftlichem Fortschritt zu leugnen.
Wie Emoticons den Menschen dazu dienen, einander zeit- und geistsparend Gefühle unter die Nase zu reiben, die niemand mehr auch nur Hörensagen kennt, wird jeder schlechte Witz mit Witzmarkierungen kenntlich gemacht, damit der witzlose Kommunikationspartner auch wirklich merkt, dass sein witzloses Gegenüber erfolglos versucht hat, einen Witz zu machen. Und der Aphorismus, schon in der bürgerlichen Epoche eine fragwürdige Kunstform irgendwo zwischen Klo- und Bibelspruch, mutiert im Zeitalter von Twitter zum Erprobungsfeld eines professionellen Dilettantismus, der dem Prinzip folgt, alles, was in einem herumdenkt, ganz unverkrampft herauszulassen. Was bei Comedy-Chargen, deren Sendungen man sich nie bis zum Ende ansehen würde, zum kärglichen Geschäft gehört, Tag für Tag via Kurznachrichtendienst eine Handvoll geistreicher Bemerkungen auszustoßen, um die eigenen Verfolger bei der Stange zu halten, erheben ehrenamtliche Pausenclowns der integralen Gesellschaft unbezahlt und freiwillig zum Prinzip ihrer Tagesplanung. Irgendwie Antideutsche posten dann, sofern sie sich nicht aufs somnambule Nachsprechen von Adorno-, Kraus- und Hegel-Zitaten beschränken, Maximen wie: »Das eine wie das andere daneben finden. Die einen wie die anderen nicht mögen. Ist das schon negative Dialektik, Herr Adorno?« Vielleicht ist es nur quengelnde Unlust an sich und der Welt.
Beispiele für die Tendenz aufzuzählen, nützt wenig, weil einzelne Beispiele läppisch sind, während, was sie zum Ausdruck bringen, sich durch Aufzählung wiederum nicht illustrieren lässt. Unabweisbar ist jedenfalls, dass die »angestammten Herren«, denen die Welt gehört und die sich selbst nehmen, wie sie sich vorfinden, keiner einzelnen Klasse mehr zuzurechnen und gerade deshalb überall sind. Wie das Privileg, je stärker die Gesellschaft in seinem Bann steht, aus der realen Erfahrung umso unerbittlicher getilgt wird, hat sich der philiströse Gestus verallgemeinert und aufgelöst zugleich: Großspurigkeit ohne eine Spur von Größe. So sanktionieren die »sozialen Netzwerke« die wechselseitige Anerkennung der Subjekte als nichtige Größenwahnsinnige, die sich, weil sie von heute auf morgen aus der Welt verschwinden könnten, ohne irgendjemandem zu fehlen, und weil ihre in die Welt hinausgelassenen Worte nicht nur wirkungs-, sondern auch folgenlos sind, alles glauben herausnehmen zu können. Weil aber die Vorstellung davon, was sich herausnehmen ließe, wiederum so beschränkt ist wie das Repertoire der Gefühlszeichen, die das Medium ihnen zur Verfügung stellt, bringen sie es nicht einmal zu einer Anmaßung, die vielleicht auch eine Herausforderung wäre. Das automatisierte schulterklopfende Witzeln über sich und die anderen reagiert auf das uneingestandene Wissen, dass alle, die einander kommentieren, sich ebenso egal sind, wie sie einander brauchen.
Weil man auf jeden irgendwann angewiesen sein könnte, verachten alle einander ebenso stark, wie sie sich aneinander ranschmeißen. Dadurch wird in der Kommunikation jede Schärfe lau, jeder Witz fad, jede Kritik konformistisch und jede Freundlichkeit grundlegend verdorben. Der philiströse Gestus, der die Kommunikation in den »sozialen Netzwerken« grundiert, ist daraus die zwingende Folge – als Konvergenz von Lockerheit und Verstocktheit, die jedes freie Wort der Zuneigung, der Zurechtweisung, der Freude oder der Scheu verhindert. Das aber ist so deutsch wie das von Marx denunzierte Spießertum: Mag Facebook in den Augen der Deutschen eine Krake sein, der sie sich durch Anmeldung bei einem popeligen Volkstumsnetzwerk zu entziehen trachten, lancieren die »sozialen Netzwerke« der Form nach, in der sie mit Tendenzen der Alltagssprache zusammengehen und sie befördern, eher die Zudeutschung als die Amerikanisierung der Menschheit. Wenn in den USA via Internet organisierte feministische Künstlerinnen kritisches Großstadtstricken betreiben, ist das nur eine besonders groteske Erscheinungsform dieser Zudeutschung, in der Avantgarde und Spießertum verschmelzen. Im Grunde genügt der alltägliche Blick in die immer tumberen Gesichter der ihre Sinne mittels Ohr- und Augenpfropfen zustopfenden Passanten, um sich eine Vorstellung davon zu machen, dass die Fähigkeit zur Auslöschung der Welt in der eigenen Wahrnehmung zum beliebtesten Exportgut der Kulturnation geworden ist.
Wer sich an all dem nicht beteiligt, flieht nicht aus der Gesellschaft, sondern sucht sie zu ermöglichen. Denn Gesellschaft ist kein Netzwerk, sondern lebendiger Austausch zwischen Ebenbürtigen, genaues Gegenteil der lustigen Gleichgültigkeit, mit der die Zeitgenossen sich durch ihre Freunde klicken.