Herr Groll und der österreichische Nationalfeiertag

Kurz und seine Hintermänner in Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer verweisen den altgewohnten Klassenkompromiß auf den Misthaufen der Geschichte.

Der Dozent traf seinen Freund Groll am 26. Oktober 2018 vor dem Wiener Burgtheater. Mehrere Panzer des Bundesheers hatten dort Aufstellung genommen, scheu drückten die Menschen sich an den stählernen Kolossen entlang.
»Geschätzter Groll! Jetzt kenne ich Sie schon so lange, aber daß Sie als Floridsdorfer Restlinker den Nationalfeiertag begehen, ist mir bisher verborgen geblieben.«
Ein Panzerfahrer startete den Motor des Kettenfahrzeugs. Eine schwarze Rußwolke hüllte Groll und den Dozenten ein. Die patriotische Menschenmenge brach in Hochrufe aus. Die beiden Beobachter hasteten zur Seite.
»Ich dachte, Sie würden eher den Siegestag über den Faschismus am 8. Mai feiern«, sagte der Dozent, als sie in sicherer Entfernung waren.
»Da haben Sie nicht unrecht«, sagte Groll. »Am Staatsfeiertag des 26. Oktober 1955, so hieß es in der Schule, feiern wir den Abzug des letzten Besatzungssoldaten. Insofern bin ich hier tatsächlich fehl am Platz.«
»Wir haben im Theresianum gelernt, daß an diesem Tag die Proklamation der immerwährenden Neutralität gefeiert wird«, sagte der Dozent
verunsichert.
»Da sehen Sie wieder, daß die bürgerliche Klasse und ihr proletarisches Pendant beziehungsweise deren Devantgarde, als deren herausragendes Produkt ich mich verstehe, durchaus verschiedenen Sichtweisen der Geschichte anhängen«, erwiderte Groll. »Im übrigen weise ich darauf hin, daß Österreich in geheimen Zusatzdokumenten zu Staatsvertrag und Neutralität die Sowjetunion dafür entschädigen mußte, daß sie den Anspruch auf österreichisches Erdöl aufgab. Auch mußten jene Teile der DDSG, der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft, die in den östlichen Donaustaaten verblieben waren, für immer abgeschrieben werden.«
»Keine Herleitung ist Ihnen zu entlegen, um nicht doch wieder bei Ihrer Obsession Binnenschiffahrt zu landen«, klagte der Dozent.
»Ich möchte Sie auf eine Besonderheit des Staatsvertrages hinweisen«, fuhr Groll fort. »In den geheimen Zusatzprotokollen ist unter anderem das Verbot einer eigenen Margarineproduktion enthalten. Dieser Punkt wurde von den Amerikanern in den Vertrag reklamiert. Eine Margarineproduktion ist im Kriegsfall für die Ernährung der Bevölkerung essentiell, es handelt sich da um kein skurriles Detail. Das Verbot wurde erst in den frühen siebziger Jahren aufgehoben. Seither herrscht in Österreich Margarinefreiheit.«
»Erstaunlich, wie weitblickend die Alliierten damals waren«, sagte der Dozent.
»Von mir aus hätten sie ruhig dableiben können«, bekräftigte Groll. »So gefestigt war die österreichische Demokratie nicht, daß man die Ex-Nazis und Ex-Austrofaschisten ohne Aufsicht lassen konnte. Und wie die Ereignisse der letzten Monate zeigen, könnte ich auch heute einer alliierten Präsenz durchaus etwas abgewinnen. Nur welcher Alliierten? Die Europäische Union ist viel zu schwach, taumelnde und abdriftende Mitglieder zur Ordnung zu rufen.«
»Immerhin, Robert Menasse und eine Hundertschaft von Gleichgesinnten sehen sich berufen, den Nationalstaat zu beenden und rufen aus diesem Grund die ‚Europäische Republik‘ aus – von den Balkonen der Staatskanzleien und aus der Beletage herrschaftlicher Palais!« warf der Dozent ein.
»Sie bleiben auf den Balkonen, weil Sie sich mit dem Mumpitz nicht unter die Leute trauen. Ich sagte ja, die Union ist zu schwach.«
Zwei Heeres-LKW passierten die Szene, auch sie stießen schwarze Rußwolken aus. Groll und der Dozent verschwanden in einer Dieselwolke. Sie flüchteten wiederum, kamen dadurch aber den Jagdpanzern wieder näher. Da deren Motoren aber wieder abgestorben waren, konnte sie das Gespräch fortführen. Groll erwähnte den kürzlich verstorbenen marxistischen Historiker Hans Hautmann. »Mit Nachdruck wies er auf eine Tiefenwurzel der gegenwärtigen politischen Entwicklung hin, die euphemistisch Rechtsruck genannt wird. Tatsächlich weist die Lage in Österreich aber viele Elemente eines institutionellen Staatstreichs der rechtsnationalistischen Volkspartei und der rechtsextremen FPÖ auf, die sich als völkische Bewegungspartei der »Kleinen Leute« verkauft. In der ÖVP sind alle innerparteilichen Korrektive zur Allmacht des Kanzlers unter dessen Kontrolle, da und dort aufkeimender Widerstand aus Teilen der Partei, die mit der Verschlechterung der Arbeits- und Sozialgesetze und der permanenten Verschärfung von Fremdenrecht und Asylwesen nicht einverstanden sind, wird von den engsten Vertrauten des Kanzlers, die dieser – mit Ausnahme des Sicherheitsbereichs – an die Stabsstellen der Macht setzte, kompromißlos niedergeschlagen. In diesem Sinne ist die neue, türkise ÖVP-Regierung mehr Kanzlerdiktatur als ein konservatives Regierungsbündnis alten Zuschnitts. Bislang war es ein ungeschriebenes Gesetz der Zweiten Republik, daß die jeweilig führende Klassenpartei zwar ihre Positionen in Gesellschaft und dem erweiterten Staat ausbaute, aber der anderen Seite immer Platz zum Überleben ließ. Nicht die Vernichtung des politischen Gegners war das Ziel, sondern dessen Zurückstufung zu einem Juniorpartner der eigenen Machtausübung. Aufgabe der Sozialdemokratie und der von ihr dominierten Gewerkschaft war es, die Arbeiter ruhig und bei Laune zu halten. Auf diese Weise entstand im Lauf der Jahrzehnte ein wenig flexibles aber stabiles Herrschaftssystem. Zentrale wirtschaftliche und politische Fragen wurden in einem Dickicht informeller Gremien und Beiräte vorgeformt, bevor sie in den offiziellen politischen Raum entlassen wurden. Im Parlament wurde durchgewinkt, was in den sozialpartnerschaftlichen Kreisen längst fixiert war. Die Funktionäre der Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Arbeiterkammer, wähnten sich in einer Art Vorzimmer des Sozialismus. Sie verwechselten ihre Absorption in den Staatsapparat mit der Emanzipation der lohnabhängigen Klassen und Schichten. Ihre Spitzen waren hofierter Bestandteil von Regierung und vorgelagerten Apparaten. Der jahrzehntelange Paarlauf von Arbeiterbewegung und Bourgeoisie geriet aber seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts außer Balance. Die Verteilungsergebnisse für Unternehmer und Besitzbürger wurden – mit tatkräftiger Mithilfe sozialdemokratischer Finanzminister, die ein steuerschonendes Stiftungsrecht einführten und die Erbschaftssteuer abschafften – immer besser, Gewinne und Besitzvermögen stiegen rasant. Auf der anderen Seite stagnieren die Lohnquote und die Realeinkommen von Lohnabhängigen seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Immer wieder mahnte die OECD die Gewerkschaften, bei den Lohnforderungen nicht so zurückhaltend zu sein. Dazu kamen die Finanzkrise und die damit verbundene langjährige Entwertung von kleinen Sparguthaben und das Erbe der amerikanischen Voodoo-Politik in Afghanistan, dem Irak, Syrien, Lybien und anderen, die ihren Teil zu den Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre beitrug. Seit Herbst 2017, dem Beginn der Kanzlerschaft Kurz, werden die letzten Reste sozialpartnerschaftlicher Regelungen und Postenbesetzungen gekappt. Kurz und seine Hintermänner in Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer verweisen den altgewohnten Klassenkompromiß, der auch Gewerkschaften und Sozialdemokratie leben ließ, auf den Misthaufen der Geschichte. Ziel ist die ganze, ungeteilte Macht, die Eliminierung der ‚Roten‘ aus der Staatsspitze ist da nur ein Zusatzbonus.«
Der Dozent hockte sich neben Grolls Rollstuhl auf die Fersen.
»Könnte es sein, daß die Untätigkeit und Unfähigkeit der SPÖ in der Opposition darin ihren Grund hat? Daß sie der Ausschluß von der Macht und der drohende Absturz in die Bedeutungslosigkeit in eine Schockstarre versetzt? Und daß diese politische Lähmung von den rechten Kräften, die nach dem Abgang des Wiener Bürgermeisters Häupl das Sagen haben, dazu benutzt wird, die Sozialdemokratie noch weiter nach rechts zu rücken? So weit, daß künftig Koalitionen mit der rechtsextremen FPÖ möglich werden. Und auf diese Weise die Hoffnung der Funktionäre auf eine Rückkehr zumindest in die Vorzimmer der Macht in fernen Zeiten weiterlebt?«
Groll wollte antworten, wurde aber von einem Hustenanfall geschüttelt.
Der Dozent fuhr fort: »Ist es nicht seltsam, daß die Panzer um das Burgtheater Aufstellung nehmen? Die Kultur und der Krieg, das passt doch nicht zusammen.«
Mit krächzender Stimme erwiderte Groll. »Irrtum, werter Freund! Die beiden sind eine Seite derselben Medaille, die ‚Österreich zuerst‘ heißt. Die Kultur bereitet den Boden, die Panzer rollen auf ihm zu neuen Zielen.«
»Sie gehen doch nicht allen Ernstes davon aus, daß Österreichs Panzer eine Bedrohung für die Nachbarstaaten darstellen!?«
Groll schüttelte den Kopf. »Es reicht, wenn sie ihre Motoren starten und die Schaulustigen vergiften. Schlimmer wird es, wenn sie zu den Grenzübergängen rasseln und sich wegen drei Flüchtlingen im Quartal in Weingärten auf die Lauer legen und immer wieder ihre Motoren starten.«
»Und dabei die Landarbeiter, die in den Weingärten schuften, vergiften«, ergänzte der Dozent.
»Erstens sind die Landarbeiter aus dem Osten und können damit in Umsetzung der fremdenfeindlichen Generallinie der Regierung bedenkenlos eingenebelt werden, zweitens erhält der Grenzwein durch die Abgase eine rauchige Note, was von den Weinkennern geschätzt wird.«
»Dennoch glaube ich, daß Sie übertreiben, Freund Groll! Österreichs glorreiche Panzerwaffe muß doch froh sein, wenn sie zehn Stück auf die Ringstraße bringt, ohne daß fünf auf der Anfahrt liegenbleiben.«
»Mit dem freiheitlichen Verteidigungsminister wird alles besser«, entgegnete Groll.
»So wie im freiheitlich geführten Innenministerium, meinen Sie? Mit rechtsextremen Beamten, die den Geheimdienst stürmen, um an die Daten verdeckter Ermittler zu gelangen, die in burschenschaftlichen Extremistenkreisen ermitteln?«
»Alles wird besser«, bekräftigte Groll.
»Und im freiheitlichen Außenministerium?«
»Auch dort. Österreich wird immer mehr geliebt. Das Staatsfernsehen und die Zeitungen quellen förmlich über vor Heimatliebe. Seitdem der heimische Multimillionär Benko, der deutsche Kaufhauskonzerne und die halbe Möbelindustrie Österreichs aufkaufte, sich anschickt, Kronenzeitung und Kurier zu übernehmen, wird auch in den Medien alles besser.«
»Und im freiheitlichen Beamtenministerium?«
»Eine nachhaltige Besserung auch dort! Die Bleistifte sind gespitzt wie nie zuvor, die Beamten buckeln wie nie und die Festplatten rotieren so schnell wie nie.«
»Seit kurzem werden Festplatten durch Chips ersetzt«, warf der Dozent ein.
»Ein freiheitlicher Technologieschub. Wie das aufgehobene Rauchverbot.«
Der Dozent erhob sich und schüttelte die Beine aus. »Wie darf ich das verstehen?«
»Die Menschen sollen sich an dicke Luft, also an Panzereinsätze, gewöhnen.«
»Und die Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen durch den freiheitlichen Verkehrsminister?«
»Dient demselben Zweck. Oder glauben Sie, die Heimatliebe läßt sich auf die Kriechspur verbannen?«
Wieder startete ein Panzermotor, eine schwarzbraune Wolke hüllte Groll und den Dozenten ein. Sie flüchteten auf die Ringstraße, wurden aber von einer Phalanx einer polizeilichen Sondereinheit zurückgewiesen.
»Was für eine konsequente Umsetzung des Staatsvertrags«, sagte Groll. In der Zusatzbestimmung VI des Vertrages wird Österreich die Erzeugung von erstickenden, giftigen oder lähmenden Stoffe für Kriegszwecke verboten. Vom Einsatz dieser Stoffe wird im Vertrag nichts gesagt. Das Bundesheer feiert den Staatsvertrag zu Recht.«
Der Dozent setzte zu einer Antwort an. Da senkte sich eine neuerliche Dieselwolke eines startenden Panzers auf die beiden Freunde.
 

Bild: Kerstin Kollmann, (CC)