»Dass wir paranoid sind, heißt nicht, dass sie nicht hinter uns her sind.« Mit dieser alten Weisheit ist wohl jeder großgeworden, der in den achtziger oder neunziger Jahren politisch aktiv war. Wenn es etwas wirklich Wichtiges zu besprechen gab, fanden Gruppentreffen ganz selbstverständlich fernab der üblichen, also mutmaßlich verwanzten Räumlichkeiten statt, und Aufkleber mit dem Spruch »Sag’s nicht am Telefon« zierten das Festnetzinventar linker WGs und Studierendenvertretungen. (Die Variante »Kein Wort am Telefon« hat sich nie so richtig durchgesetzt – das wäre, buchstäblich befolgt, auch ziemlich unpraktikabel gewesen.)
Zu Hochzeiten der RAF-Hysterie machte der AStA der Uni Göttingen einmal die Probe aufs Exempel, und tatsächlich musste man nach einem Anruf des Inhalts, die »Höllenmaschine« sei abholbereit, nicht lange auf den Besuch der Polizei warten. Niemand, der sich im schicksalsentscheidenden Kampf gegen Atomkraft, Nazis oder das imperialistisch-kapitalistische Schweinesystem sah, wunderte sich über die Fehlfunktionen des Telefons, die unweigerlich auf die Anmeldung eines neuen Anschlusses folgten. In der DDR wiederum konnten sich Oppositionelle nur bedingt darüber freuen, dass sie bei der Zuteilung von Telefonanschlüssen bevorzugt wurden.
Später, mit der Erfindung des Handys, lernte man zusammen mit dem Wort »Bewegungsprofil«, das Gerät tunlichst nicht überall mit hinzuschleppen oder in machen Situationen zumindest die SIM-Karte zu entfernen. Dass man E-Mails verschlüsseln kann und sollte, wurde - zumindest theoretisch - zum Grundwissen jeder Dorf- und Jugendantifa, der Film »Der Staatsfeind Nr. 1«, in dem Will Smith als unbescholtener Anwalt ins Netz der allgegenwärtigen Überwachung gerät, gehörte zum Pflichtprogramm. Unvergessen der Dialog: »’Ich habe den Bau gesprengt.’ – ‚Warum?’ – ‚Weil Sie telefoniert haben!’« Und die Existenz des verschwörungstheorienumwobenen »Echelon«-Überwachungsnetzwerks wurde 2001 in einem Bericht des Europäischen Parlaments bestätigt: »Der […] Ausschuss stellt fest, dass es keinen Zweifel mehr an der Existenz eines globalen Kommunikationsabhörsystems geben kann, das von den USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada betrieben wird.«
Seither wurde diese Struktur auf den neuesten Stand der Technik gebracht und firmiert inzwischen unter dem Namen »Five Eyes«, wie seit den Enthüllungen von Edward Snowden bekannt ist. Die so überraschend also gar nicht waren, weder für die Politik noch für Menschen, die die eingangs beschriebene, zwischen Verfolgungswahn und Abgeklärtheit oszillierende Bewusstseinsbildung durchlaufen haben. Für die »digital natives«, die mit dem und im Internet Aufgewachsenen, ohnehin nicht. Die Debatten über Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner, Onlineüberwachung und –zensur sind schließlich schon ein paar Jährchen älter als die NSA-Affäre, mit den Piraten hat sich rund um die Thematik eine ganze Partei gegründet.
Die Netzbewegten sind denn auch so ziemlich die einzigen, die sich bemerkbar über die Snowden-Enthüllungen empören. In der übrigen Bevölkerung haben diese überwiegend Achselzucken ausgelöst: unter Linken, weil sie’s ja schon immer gewusst haben und die Spitzelei ohnehin nur als logische Konsequenz des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs zu analysieren sei; die braven Bürger trauen den USA sowieso alles zu und sind im übrigen der Meinung, sie hätten nichts zu verbergen; und in der Politik versuchte man zunächst, die Sache möglichst tief zu hängen.
Man will die Aufmerksamkeit schließlich nicht unbedingt darauf lenken, dass sicherlich auch die eigenen Geheimdienste nichts auslassen, was ihnen technisch möglich ist, und zudem selbst einen – nun ja: partnerschaftlichen Informationsaustausch mit anderen Spionagebehörden pflegen. In der internationalen Politik kennt man bekanntlich keine Freunde, sondern bestenfalls Verbündete. Zum guten diplomatischen Ton gehört es, dem jeweils Anderen insgeheim alles Schlechte zuzutrauen – nicht zuletzt, dass dieser einem insgeheim alles Schlechte zutraue. Und mit der Spionage verhält es sich wie mit der Masturbation: Alle tun es, alle wissen, dass alle es tun – peinlich wird es allerdings, wenn man dabei ertappt wird.
Der Kodex des stillschweigenden Sich-nicht-über-den-Weg-Trauens wurde beispielsweise verletzt, als kürzlich auf bislang ungeklärten Wegen ein Telefonat an die Öffentlichkeit gelangte, in dem Victoria Nuland, für Europa zuständige Staatssekretärin im US-Außenministerium, die Haltung ihres Landes zur europäischen Interessenpolitik in der Ukraine kurz und knapp auf den Punkt brachte: »Fuck the EU.« Die Tatsache, dass da irgendwer gepetzt hat – weniger hingegen, dass das Gespräch mitgeschnitten wurde -, machte einen ebenso großen Teil des Eklats aus wie Inhalt und Wortlaut. Und die Snowden-Leaks wurden für die deutsche Politik erst dann wirklich zum Skandal, als die Sache mit dem abgehörten Handy der Bundeskanzlerin herauskam.
Zum Glück hat die Politik schon eine tolle Idee, wie man den bösen Amis die Schnüffelei zukünftig erschweren könnte: Ein nationales Internet – mit rein deutschen Leitungen, deutschen Netzknotenpunkten, deutschen Frauen, deutschem Wein ... – oder so ähnlich jedenfalls. Und damit ist die Regierung der Opposition wie auch den Netzaktivisten gar nicht so fern, denn die nationalen Interessen liegen ihnen allen gleichermaßen am Herzen.
Gregor Gysi etwa, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, forderte die Bundesregierung auf, gegenüber den USA selbstbewusster aufzutreten: »Deutschland ist erst dann souverän, wenn es Herrn Snowden anhört, ihm Asyl gewährt und seinen sicheren Aufenthalt organisiert.« Der Chaos Computer Club wiederum hat Anzeige gegen die Bundesregierung erstattet, weil diese verbotenerweise mit der NSA zusammengearbeitet und Daten weitergegeben habe. Und Daniel Domscheit-Berg, der vor seinem Zerwürfnis mit Julian Assange mit diesem gemeinsam die Enthüllungsplattform Wikileaks gründete und mittlerweile Politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Brandenburg ist, zeigte sich im Interview mit der Zeitschrift »Konkret« schwer enttäuscht: »Anstatt die Amerikaner zu verteidigen, müssten wir eigentlich vom Verfassungsschutz gegen die Amerikaner verteidigt werden.« Schließlich sei es doch Aufgabe des Inlandsgeheimdienstes, die Grundrechte zu schützen. Im Heimatland des Untertanengeistes kommt man nun einmal nur schwerlich auf die Idee, dass die Interessen eines Staates denen seiner Insassen zuwiderlaufen könnten und dieser daher Gründe haben könnte, jenen zu misstrauen.
Auch, wenn die Überwachungskritiker gerade nicht damit beschäftigt sind, die Souveränität Deutschlands zu verteidigen, finden sie immer noch genügend Gelegenheiten für geistige Tiefflüge. Reichlich naiv kommt etwa das allenthalben hochgelobte Youtube-Video »Überwachungsstaat – was ist das?« daher, das bereits über eine Million Mal angeklickt wurde. Gleich zum Einstieg erklärt der Macher »manniac«, Aufgabe des Staates sei es, »für Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Gleichzeitig muss er ihnen auch Freiheiten zugestehen«. Sicherheit wird dabei übersetzt als »Straftaten verhindern oder schneller aufklären« – demzufolge sei die Videoüberwachung öffentlicher Räume okay, und eine Sicherheit wie etwa ein Lohnniveau, von dem man leben kann, ist schon mal gar nicht gemeint. Wolkig bleibt dagegen die Definition von Freiheit; so erspart man sich die unbequeme Erkenntnis, dass im real existierenden Kapitalismus die Freiheit zur ungehinderten Mehrwertverwertung allemal Vorrang hat. Bei soviel systemkompatibler »Kritik« überrascht es denn auch nicht, dass »manniac« nicht auf die Totalitarismustheorie verzichten mag und die Überwachung in der DDR und im Nationalsozialismus gleichsetzt.
Auch der Künstler und Netzaktivist padeluun entblödete sich nicht, die Nazikarte zu ziehen, als er anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar in die Welt hinaustwitterte: »Den Opfern (sic!) gedenken ist wichtig. Wir sollten auch der Methoden gedenken, die sie zu Opfern werden ließen. #zukunft #gegenwart #vds #privacy«; das Kürzel »vds« steht für Vorratsdatenspeicherung. Mit der also offenbar ein staatlich organisierter Massenmord vorbereitet werden soll.
Und dann wären da noch die Verschwörungstheoretiker, die ja nie weit sind, wo das Denken in nationalen Kollektiven und Antiamerikanismus zusammentreffen, zumal, wenn es um das naturgemäß geheimnisumwitterte Treiben von Geheimdiensten geht. Wer schon immer geahnt hat, dass es sich bei den weißen Streifen, die Flugzeuge am Himmel hinterlassen, nicht um gewöhnliches Kondenswasser, sondern um sogenannte »Chemtrails« handelt, erfährt in einschlägigen Blogs und Foren, dass aus Snowdens Dokumenten hervorgehe, dass hier ein weltumspannendes Programm zur Klimakontrolle im Gange sei. Natürlich dürfen auch diejenigen nicht fehlen, die ganz genau wissen, dass der Whistleblower über Informationen verfüge, dass die Anschläge vom 11. September ein Inside-Job der US-Geheimdienste waren. Und die halbamtliche iranische Nachrichtenagentur »Fars« will gar von Beweisen Snowdens erfahren haben, nach denen die USA in Wahrheit von Außerirdischen regiert werden – von den gleichen Aliens übrigens, die in den dreißiger Jahren die Nazis unterstützten. Nur, ob die grünen Männchen auch Elvis Presley entführt haben, weiß offenbar nicht einmal ein Edward Snowden.
Die NSA-Mitarbeiter, die all diesen Unsinn auswerten müssen, können einem schon fast leid tun. Man kann sie aber auch entlasten, indem man eben nicht alles, was man so tut und denkt, in dieses Internet hineinschreibt. Wer es aber dennoch tut, zum Beispiel, weil sich Aktivitäten wie etwa »Freiheit statt Angst«-Demonstrationen oder Weltrevolutionen nun einmal nicht ohne eine Mindestmaß an Kommunikation organisieren lassen, möge sich mit dem Gedanken trösten, dass der Realsozialismus auch nicht an mangelnder Überwachung zugrunde gegangen ist.