»Die Welt, die Rätsel bleibt« beginnt mit zwei Kapiteln über Sylvia Plath und Herman Melville. Mit diesen Autoren wird zu Beginn eine Achse aufgeschlagen, die den essenziellen Grenzgang zwischen Kunst, Leben, Dasein und Fremdsein, zwischen Triumph und Tragik ortet: Sowohl Plath als auch Melville schreiben gegen die existenziellen Realitäten des Lebens, der Macht und des Todes an, berichten von Erkenntnissen und Bedrohlich-keiten von diesseits und außerhalb der Grenze, sie entsetzen sich, sehnen sich, maßen sich an. So schreibt Anna Mitgutsch in einem fiktiven Brief an Sylvia Plath über deren Verausgabung, über Plaths »Weltgewinn durch Ich-Verlust« – über die Verführung und über die Einsamkeit, das Leben der Kunst unterworfen zu haben. In einem Melville-Monolog berichtet Mitgutsch über die Erfahrung des frühen Verlustes und des lebenslangen Scheiterns als Schlüssel zum Leben, der nur mehr in den Untiefen eines Ozeans gesucht werden kann – im Kampf mit einem machtvollen Ozean, aus dem man höchstens mit blutunterlaufenen Augen wieder auftaucht, um zu berichten: »Um das Geheimnis zu ergründen, muss man in der Tiefe des Meeres suchen, hinter dem Horizont, jenseits des Sichtbaren, unter der Oberfläche, die nichts verrät.« Beide Essays berichten von Autoren, die jenseits der Grenze, weit hinter einen Horizont geschaut haben.
Das Exil der Weltfremden und fremd gewordenen, der Erfahrungshorizont der existenziell früh verlustig Gegangenen, man könnte meinen, dass das auch die gemeinsame Klammer ist, die Elias Canettis wildes Anschreiben gegen den Tod und Amos Oz‘ Kibbuzromane thematisch zusammenhält. Zeichnet Mitgutsch Canetti in gewisser Weise als Todesanalytiker nach, und das durch den Tod als unerhört empfundene Vertriebensein aus dem Leben, vor dem Hintergrund zweier Weltkriege, ist der Kibbuz bei Amos Oz Sehnsuchtsort, Ort der Ankunft, der »andere Ort«: Er ist nach Vertreibung und Massenmord an den Juden der arkadische Ort des Friedens, er ist real gewordener Ort einer zweitausend Jahre alten Utopie, er wurde dem Land abgerungen und ist Versuch, »eine Gesellschaft gleicher Beteiligung zu errichten«. Aber: Auch wenn es Oz‘ Überzeugung ist, dass der Kibbuz der ideale Ort ist, der »die Flexibilität besitzt, abweichende menschliche Verhaltensmuster zu integrieren«, sobald dieser Ort errichtet ist, wird doch wieder von anderen Orten geträumt, denn der Ort der Sehnsucht ist irgendwann erneut besetzt. Die Grenze muss nach außen verschoben, die Sinnsuche muss anderswo ausgetragen werden. »In Arkadien würden wir nach Utopien schmachten«, zitiert Mitgutsch bereits am Beginn des Kapitels Jean Paul, um am Ende dieses Essays die Frage zu stellen, wie man innerhalb der geschichtlichen und individuellen Wirrnisse zu einem selbstbestimmten Leben kommen kann.
Ein selbstbestimmtes Leben, das nicht nur den ProtagonistInnen aus Amos Oz Romanen nicht leicht fällt, sondern auch weiteren besprochenen AutorInnen, bzw. deren Protagonistinnen im Essayband: So bildet Marlen Haushofer einen Bezugspunkt im Koordinatensystem derer, die der fremden Wirklichkeit eine literarische Haltung abtrotzten. Mitgutsch entwirft, wenn sie das literarische Personal von Marlen Haushofer betrachtet, das Bild der Frau am Fenster. Sie zeichnet eine Frau, die im Warten fast leblos von der Natur, dem Draußen und ihrem eigenen Wesen abgetrennt ist, es nur noch aus der Ferne, wie durch eine Scheibe betrachtet. Denn auch wenn Haushofers »Die Wand« hier beinahe kontrapunktisch dagegen stehen mag: Den Horizont bilden stets die eigenen vier Wände. Die erwachsenen Protagonistinnen haben ihre Rebellion bereits erstickt, haben die Selbstbeherrschung bis zur Erstarrung kultiviert, sind domestizierte Wesen in einer bürgerlichen Wohlanständigkeit. Sie erfrieren und lassen an Doppelmoral und Verdrängung erfrieren. Marlen Haushofer wurde oft unterstellt, Hausfrauenliteratur zu schreiben, und kaum sonst gab es, wie Anna Mitgutsch feststellt, soviel Hausarbeit als literarisches Material. Aber: Hier geht es um einen Rückzug, um ein Innen, in dessen starr abgezirkeltes Hausdamen-Gehäuse höchstens die »Vitalität ungebrochen amoralischer Menschen« einbricht.
Die Nahtstellen des Innen und Außens, andere Figuren zwischen Rückzug und Verweigerung: Melvilles Bartleby, mit seiner irrwitzig eigensinnigen Gegenmacht des »I would prefer not to«, findet im Kapitel »Die rätselhaften Schweiger« ebenso seinen Platz, wie später, an anderer Stelle, der vergessene oberösterreichische Autor Franz Rieger, dessen literarischer »Gestus der Vergeblichkeit« am Ende seines Lebens zu tiefer Bitterkeit geführt zu haben scheint. Er verfasste eine Liste mit den Namen von Menschen, die er von seinem Begräbnis ausschließen wollte.
Wie gestaltet sich also der schöpferische und grenzgängerische Akt der Literatur? Drei Essayblocks zu den Überschriften »Literatur«, »Transzendenz« und »Fremdsein« führen in die Thematik zwischen Kunst und Leben, zwischen Leben und Literatur. Man könnte meinen, dass Anna Mitgutsch genaue Kartographien, Koordinaten nachzeichnet, die von weitreichenden Streifzügen zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren berichten, durchaus vor allem in den Härtesituationen der jeweiligen Zeiten und an Orten, wo sich das Sagbare und Unsagbare tektonischen Platten gleich ineinanderschieben. Wovon kann ein Autor, eine Autorin überhaupt berichten – vor dem biographischen Hintergrund der eigenen Existenz, den Möglichkeiten der Fiktionalisierung der eigenen Erfahrung? Wovon kann er oder sie berichten vor dem Hintergrund von totalitären Systemen, die AutorInnen und Sprache gleichermaßen zurichten? Im Essay über die Diktaturen heißt es beispielsweise, dass es Imre Kertész stets um die subjektive Erfahrung des Menschen in der Knechtschaft gehe, um sein tägliches Ringen um Autonomie, die im System nicht vorgesehen ist und nicht geduldet wird. Ein Zitat aus Kertész Galeerentagebuch lautet etwa: »Einmal war der Horizont des Menschen der Kosmos, heute sind es die Gefängnismauern«. Und besonders an der Übermacht der Diktaturen wird deutlich, was das Ringen um Sprache und Haltung bedeutet, wenn es heißt: Der Schriftsteller bürge mit seiner ganzen Existenz für das Werk.
In gewisser Weise muss ein Autor, eine Autorin, wohl immer in Distanz stehen, muss immer auch fremd sein, um sich selbst, der eigenen Arbeit eine Gegenwart mit offenem Horizont zu ermöglichen. Neben der angesprochenen Themenkomplexe der Fremdheit, des Grenzgangs und der Übermächtigkeiten würde diese Fragestellung nämlich durchaus auch einen guten Subtext des Buches abgeben: Was ist eigentlich literarische Haltung? Antworten werden hier mehr als erahnbar. Denn nicht nur Diktaturen richten zu, auch der tiefe Widerspruch zwischen Freiheit und einer undefinierten Weite vermögen in tiefe Unsicherheit zu stürzen, bis hin zu den Abgründen, die sich in der Gegenwart auftun. Ein schönes Zitat, das Anna Mitgutsch heranzieht, ist etwa das vom Kulturkritiker Joe Bailey: Er bezeichnet die Utopie des Fortschrittes, die unentwegt freudige Erwartung fordere, ohne ihr Versprechen einzulösen, als Kolonialisierung des Optimismus, deren Projektionen so irreführend seien, wie die Vertröstungen auf das Jenseits. Mitgutsch schreibt: »Wir müssen uns die Wirklichkeit als Gegenüber zurückerobern. Wir müssen den Menschen und die Kunst dem Nützlichkeitsgedanken entreißen. Es ist keine Schande, am Zeitgeist zu scheitern. Die Besten der Geistesgeschichte und der Geschichte der Künste scheitern am Zeitgeist ihrer Epoche, um später von einem anderen Zeitgeist ausgebeutet und fehlinterpretiert, aber auch gefeiert zu werden. Es gibt kein Rezept für das Bild des Menschen, der Mensch entzieht sich der Abstraktion. Das Bild des Menschen wächst aus seinem Handeln und aus der Fähigkeit, mit seiner Intention in unbetretbare geistige Räume vorzustoßen.«
Wir wechseln zu einem anderen geistigen Raum. Eine geistige Dimension, heute tabuisiert wie vielleicht »im 19. Jahrhundert das Sprechen über Sexualität« ist das Sprechen über Gott. Unter anderem mit dem Beckettschen Zitat »He doesn’t exist, the bastard« schreibt Mitgutsch jedoch über eine dem Menschen schwer auszutreibende Sehnsucht nach dem »Anderen«, nach etwas Größeren, von der Sinnsuche im Hinterland des Mysteriums. An dieser Stelle finden sich in den Beiträgen zur »Transzendenz« drei Abhandlungen über den Horizont, den Weltinnenraum und den Abgrund. Besonders beeindruckt der titelgebende Essay »Die Welt, die Rätsel bleibt«, durchaus lesbar als Kulturgeschichte des ozeanisch offenen Horizonts.
Anna Mitgutschs Essayband führt dorthin, wo Leben und Fremdheit wohnen, sie berichtet von Orten, wo jemand etwas erfahren hat, das übermächtig ist, sei es Totalitarismus und/oder ein ungnädiges Schicksal. Sie berichtet von einer Autorenschaft der Beteiligung über die Suche an sich. Das Sichtbare und das Unsichtbare, das Vertraute und die Weite, die äußere und innere Wahrnehmung können, so oder so, nicht deckungsgleich sein. Es gibt das Unsagbare. Es gibt das Ungeheuerliche. Man erkennt eine literarische Haltung, die erfahrbar zu machen sucht, was an den Grenzen des Sagbaren unausgesprochen ist oder vielleicht sogar bleiben muss – eine Paradoxie an sich. Um die differenzierten Überlagerungen des Sagbaren und Nicht-Deckungsgleichen, auch sozusagen systemintern literarisch, mit einem Zitat zu beschließen: »(…) Sie wissen beide, daß hinter jedem Buch ein zweites liegt, von dem der Autor nur eine schattenhafte Ahnung hat, aber von dem er weiß, es ist das eigentliche Buch (…)«. Dieses Zitat stammt aus Mitgutschs 2007 erschienenen Roman »Zwei Leben und ein Tag«.