Vom Szeneblatt zur Autorenzeitschrift

II. Teil der Serie über »konkret« von Erwin Riess.

In den achtziger Jahren entwickelte »konkret« sich zu einer auch im Mainstream der Publizistik vielgelesenen Autorenzeitschrift. Die behandelten Themen umfassten in unterschiedlichen Ausprägungen den Kanon der linken Diskurse in einem Land, das sich erst in den siebziger Jahren ein differenzierteres Selbstverständnis erarbeitet hatte. Zwischen Nazivergangenheit und 68-er Revolte, Wirtschaftswunder und Anerkennung der Oder-Neiße Grenze schüttelte zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine Generation, die sich in verzweifeltem Ingrimm der Welt öffnete1, den deutschen Geschichts- und Kulturmief ab und klinkte sich in die westeuropäische, vorwiegend anglophil geprägte Zivilisation ein. Ungewöhnlich und unerreicht an »konkret« war der Umstand, dass die gesellschaftlichen Debatten von Anfang an durch ausgewiesen mutige und pointierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen geprägt waren; ein erstklassiger Autor und kenntnisreicher Sprachkritiker als Herausgeber, Hermann L. Gremliza, verstand es, die besten Köpfe des deutschen Sprachraums langfristig an seine Zeitschrift zu binden. Insofern ist es nicht übertrieben, »konkret« als zeitgenössische Auflage der in den frühen dreißiger Jahren berühmten und einflussreichen »Weltbühne« von Kurt Tucholsky und Carl v. Ossietzky zu bezeichnen.

Breiten Raum nahm in den Heften der frühen achtziger Jahre die Beschäftigung mit der RAF und den Reaktionen des Staates ein; der »deutsche Herbst« des Jahres 1977 fand seinen publizistischen Niederschlag nirgendwo so ausführlich und nachhaltig wie in »konkret«. Spannender fand ich allerdings die Auseinandersetzung mit der DDR und – ab Ende der siebziger Jahre – mit der Volksrepublik Polen und die damit verbundene Erörterung von grundlegenden Fragen einer sozialistischen Ökonomie unter den Bedingungen der weltweiten Systemkonkurrenz mit einem überlegenen Kapitalismus. Eine Reihe wichtiger DDR-Autoren und Autorinnen publizierte regelmäßig in »konkret«, Hermann L. Gremliza pflegte Kontakt mit dem Präsidenten der DDR-Schriftstellervereinigung, Hermann Kant und anderen Repräsentanten eines beweglicheren und offenen Sozialismus wie dem einflussreichen Publizisten und späteren polnischen Ministerpräsidenten Mieczyslaw Rakowski. Die Frage war damals nicht, ob die staatlichen Antipoden der Bundesrepublik weiter existieren können, sondern wie und mit welchen Methoden und Strategien es möglich wäre, der strukturellen Nachteilsposition im Weltmaßstab unter Beibehaltung wesentlicher sozialer Grundpositionen ein langfristig stabiles Akkumulationsmodell entgegen zu setzen. Der Marburger Politikwissenschaftler Georg Fülberth, der Ökonom Winfried Schneider sowie das Publizistenduo Rainer Trampert (ein linker Gewerkschafter und Ökonom) und Thomas Ebermann (ein Linksradikaler mit Hamburger Szenehintergrund, Mitglied der ersten Fraktion der Grünen im Bundestag2), debattierten in Beiträgen, die auch über zehn Seiten und mehr sich erstrecken durften mit analytischer Klarheit und stringenter Literaturkenntnis. Es gereichte den Autoren zur Ehre, dass der Widerstreit von teils redundanter Klassikerexegese und erstaunlicher Phantasie meist mit einem Sieg der letzteren endete. Dazu gesellten sich – ein Novum im deutschen Sprachraum – ein vor Autoritäten nicht innehaltender Witz sowie beißender Spott über »linke Faserschmeichler« in SP und Betroffenheitsapostel in der aufstrebenden grünen Partei. In den literarischen und kunstkritischen Texten von Michael Scharang und Wolfgang Pohrt, den Justizreportagen von Peggy Parnaß, den unzähligen Artikeln Wolfgang Köhlers über untergetauchte Nazis in deutschen Parteien, Verbänden und Aufsichtsräten und den Texten Oliver Tolmeins über die Aufrüstung der inneren und äußeren Sicherheitsstrukturen der BRD wurden verschleierte gesellschaftliche Verhältnisse kenntlich und damit angreifbar gemacht. Wolfgang Pohrts Essayserien, manche Dutzende Seiten lang – und jede war es wert studiert zu werden – lösten heftige Konflikte im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb der BRD aus. Die Köhler´schen Enthüllungen über camouflierte Nazigrößen führten zu Eruptionen in den Vorstandsetagen der deutschen Geschäftswelt und befreiten so manche Hochschule von reaktionärem Geistesspuk. Der radikale Behindertenaktivist Horst Christoph öffnete der Linken die Augen für den Existenzkampf und die im Wortsinne notwendenden Strategien einer besonders schwer diskriminierten Bevölkerungsgruppe; umgekehrt informierte und beeinflußte er durch seine Arbeit auch die Behindertenbe-wegung, die sich in jenen Jahren – im Gefolge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und des Independent Living Movement – aufmachte, ihren Platz und ihre Rechte in der Gesellschaft einzufordern.

Immer wieder war es die Auseinandersetzung mit einer zur bloßen Erfüllungsgehilfin des Großkapitals verkommenen SPD, welche in »konkret« mit Leidenschaft geführt wurde. Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass nicht wenige Betriebsräte und Gewerkschafter, geschult durch eine jahrzehntelange von »konkret« geprägten Lese- und Streitkultur, die Differenzen zur SPD verschärften und schließlich über die WASG und die PDS zur gegenwärtigen Partei »Die Linke« verschmolzen. Daß »konkret« gegenwärtig die Linkspartei ähnlich heftig bekämpft wie seinerzeit die SPD, entspricht dem Rollenverständnis linker Kritik und würde früher wohl als dialektisch bezeichnet worden sein. Entscheidend sind aber der in Deutschland vollzogene organisatorische Bruch mit der Sozialdemokratie und die praktische Beendigung des redundanten Geschwätzes von der SP als kleineres Übel, deren Einheit es zu wahren und deren wählermäßigen Zuspruch man zu erfüllen habe. Ein Geschwätz, das besonders in Österreich seit vierzig Jahren, einer Drehleier gleich, auflebt, wenn Wahlen vor der Tür stehen und linke Sozialdemokraten ausschwärmen, weitere Legislaturperioden ihrer rechten Spitzenfunktionäre zu ermöglichen, jenen Herrschaften, die eine beeindruckende Bilanz von Pleiten, Korruption und Betrug vorzuweisen haben. Erinnert sei hier nur an die großteils selbstverschuldete Pleite der Verstaatlichten Industrie, den Untergang von KONSUM, BAWAG und ÖGB sowie eine widerwärtig feige und teils rassistische Migranten- und Asylpolitik3.

Nächstes Heft: Hermann L. Gremliza singt Marienlieder, »Birne« Kohl holt die DDR zurück


Hinweis: Alle »konkret«-Ausgaben sind auf einer übersichtlichen CD-ROM nachlesbar. Näheres in jedem »konkret«-Heft




 

1) das Klischee von den reisewütigen Deutschen, die hinter jedem Waldviertler Strauch, in der entlegensten Bucht Feuerlands oder dem höchsten Berg Griechenlands anzutreffen sind, hat hier seine realen Wurzeln; umgekehrt schlugen die Reisebeschränkungen in der DDR umso schlagender durch.

2) Thomas Ebermann betreibt heute das Literatur- und Politikprogramm des Hamburger Szene-theaters »Polittbüro«. Im Jahr 2007 war ich mit Horst Becker und Thomas Ebermann zu einer Lesung mit Texten aus meinen konkret-Artikeln eingeladen, und fand inmitten eines interkulturellen Stadtviertels ein anregendes Publikumsspektrum von Gewerkschaftern, Publizisten, linken Behindertenaktivisten, Theaterleuten und Veteranen aus dem Umkreis der ehemaligen RAF vor.

3) die KPÖ kann aus Gründen, die hier nicht erörtert werden können, diese Rolle nicht einnehmen. Das »steirische Modell« einer konsequenten Sozial- und Kommunalpartei bleibt infolge der de facto Parteispaltung Steirer/Bundes-KPÖ ein regionales Phänomen, allerdings eines, das zu einer wirklichen Verankerung der KP in einem nicht unwesentlichen Bundesland geführt hat. Eine ernstzunehmende Linke außerhalb der Sozialdemokratie würde auch in Österreich dazu führen, dass dem Abbau des Sozialstaats wirksamer Widerstand entgegengesetzt werden könnte. Darüber hinaus würde das blockierte politische System Österreichs einen demokratischen und nicht faschistoiden Ausweg finden.