Der heilige Schein des Kapitals

Religionskritik im Zeitalter des ungeglaubten Glaubens. Von Lars Quadfasel.

»die menschen haben die götter gemacht. die menschen sind also kleine götter, also sehr kleine. sehr sehr sehr kleine götter.« Ronald M. Schernikau, Legende

»Die Kritik der Religion«, heißt es bei Marx, »ist die Voraussetzung aller Kritik.« Voraussetzung freilich im doppelten Sinne. Die Entzauberung der »Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung«, so Marx, darf materialistische Kritik als geleistet voraussetzen, muss sich also nicht lange dabei aufhalten – weil eben der geschichtliche Zustand selber wesentlich über seine religiöse Verklärung hinaus ist.

Tatsächlich ist von der Macht Gottes und seiner irdischen Stellvertreter wenig geblieben. Das gilt zuvörderst für ihre christlichen Spielarten. Von Herrn über Könige und Kaiser sind sie zum Hilfsinstitut für Seelenhygiene herabgestürzt; ihr Monopol über Lebensführung und Weltdeutung ist ihr Stück für Stück von Staatsbürokratie und Wissenschaftsapparat, Pro Familia und Kulturindustrie entrissen worden; ihre Prediger fungieren als Showmaster (wenn sie nicht gleich als Kinderschänder unter Generalverdacht stehen) und ihr Papst gefällt, seit er als dröger Bücherwurm geoutet wurde, nicht einmal mehr als österlicher Grußaugust. In die Kirche geht man zu Weihnachten, weil es so gemütlich, und zu Firmung oder Konfirmation, weil es so einträglich ist, und gebetet wird am inbrünstigsten im Fußballstadion. Und dennoch scheint sich Gott mit seiner Rolle als sentimental mitgeschlepptes Relikt frommerer Tage gesund und munter zu fühlen.

Ausgerechnet dort, wo der Säkularismus von Anfang an Staatsdoktrin war, in den USA, boomt das Geschäft mit dem Glauben mehr denn je. Stets aufs Neue führen die Christian Values mit ihren ebenso bizarren wie barbarischen Kreuzzügen gegen Abtreibung, Sexualaufklärung, Schwuleneman-zipation und Evolutionstheorie der Aufklärung ihre Ohnmacht vor. Und auch in Europa, wo man sich so gerne über die puritanischen Amis echauffiert, aber dafür einem abgesetzten mittelasiatischen Feudalherrscher als »Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama« huldigt, genießen die viel beschworenen »religiösen Gefühle«, die vor respektloser Polemik und anderen Auswüchsen der Meinungsfreiheit zu beschützen seien, längst wieder eine beinahe sakrale Aura. Es war immerhin der Justizminister der einst für ihre Liberalität berühmten Niederlande, der nach dem islamistischen Fememord an Theo van Gogh die Wiedereinführung des Blasphemieparagraphen im Strafgesetzbuch forderte.1

Nach jedem inszenierten Aufruhr, jeder Straßenschlacht und jeder angedrohten Vergeltung wegen ›antiislamischer‹ Reden, Schriften oder Karikaturen herrscht stets das gleiche Szenario: Wie auf Knopfdruck warnen Katholiken und Protestanten, Mono- und Atheisten, Liberale und Linksradikale Hand in Hand, nur ja nicht den muslimischen Glauben verantwortlich zu halten. Und während in den USA Gotteskrieger, ob islamisch oder evangelikal, mit heftigem Widerstand der Säkularen zu rechnen haben, sind es hierzulande gerade Linke und Alternative, die ihnen den Weg ebnen. Früher zog man mit den christlichen Friedenspfaffen, heute hält man eben Hamas, Pasdaran und anderen islamistischen Terrorbanden die Stange, solange sie nur gegen die USA stehen; und nicht bloß Oskar Lafontaine entdeckt große inhaltliche Schnittmengen zwischen linken und islamischen Werten.

Dass Frauen unter den Schleier gezwungen werden können und Mädchen unter die häusliche Knute; dass die Scharia in Eigenregie angewandt und zum Segen Allahs gedroht, gefoltert und gemordet werden darf, ohne dass der Mehrheit viel anderes einfiele, als die Toleranz und die Friedensliebe des ›wahren Islam‹ zu beschwören, lässt auch die Vertreter der eingeborenen Kulte endlich wieder Oberwasser bekommen. Zwar sind die Pfaffen, trotz ständiger Talkshowauftritte, weit von handfester politischer Macht entfernt (wo es um etwas geht, wie etwa im Falle der Stammzellenforschung, verzichten Staat und Kapital dankend auf christliche Ethik); zwar haben die Katholiken ein verheerendes Imageproblem und die Amtskirchen insgesamt, ähnlich wie Parteien und Gewerkschaften, weiterhin mit Mitgliederschwund zu kämpfen – das aber steht keinesfalls im Widerspruch zu einem diffusen (und stetig wachsenden) Bedürfnis nach dem Übernatürlichen. Fürs Spektakel ist, wie Kirchentage, Motorradgottesdienste und ähnliche auf Massenhysterie berechnete Events beweisen, auch der verstaubte alte Christengott noch allemal zu gebrauchen. Und eine besoffene Autofahrt reichte, um die damalige Vorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands Margot Kässmann zum Darling der Nation zu machen, den die Deutschen wegen bewiesener Glaubwürdigkeit am liebsten zur Bundespräsidentin gewählt hätten.

Widerlegt, erledigt und entmachtet, hat sich die Religion, so wirkt es, mit ihrem Sturz nicht bloß arrangiert, sondern daraus neue Kraft geschöpft. Und obgleich im Kapitalismus, wie Wolfgang Pohrt einmal schrieb, die Gespenster der Vergangenheit stets Hochkonjunktur haben, stellt solch zombiehafte Wiederauferstehung den Materialismus vor ein Rätsel.

Was Gott der bürgerlichen Gesellschaft zu bieten hat, verraten vielleicht am präzisesten die Religionen, die sich die Bürger selbst erfunden haben. Die Religionswissenschaftler Cowan und Bromley stellen in ihrer Monographie über »Neureligionen und ihre Kulte« einige der schlagzeilenträchtigsten vor – von der Moon-Sekte bis zu den UFO-Anbetern. Die sachliche Vorstellung der jeweiligen Programmatiken und Organisations-strukturen ist dabei aufklärerischer als das sonst übliche Alarmgeschrei: Die realistische Darstellung ist stets die niederschmetterndste. Ohne die projektive Phantasie von Gehirnwäschen und krakenhafter Allmacht entpuppt sich etwa die berüchtigte Church of Scientology nicht als James Bond-tauglicher Superbösewicht, sondern – mit ihren Evaluations-fimmel und ihren L. Ron Hubbard-Kalendersprüchen (»Geben Sie ein gutes Beispiel«), ihren »Elektropsychometern« und ihren »Orgs« genannten Gemeiden – als etwas viel Schlimmeres: als eine Mischung aus abergläubischem Technikkult und ritualisiertem Managementseminar.

Diese Melange aus Technokratie und Spökenkram kennzeichnet auch das im Sammelband »Fluide Religionen« analysierte Phänomen des Lifestylespiritualismus. Schon Adorno brachte den zu seiner Zeit kursierenden Sternen- und Geisterglauben auf den polemischen Nenner: »Das zetert über Materialismus. Aber den Astralleib will es wiegen«. Heute ist daraus ein ganzes System von mess- und manipulierbaren energetischen Kreisläufen geworden, in dem – und das ist das eigentlich frappante – für einen Gott gar kein rechter Platz mehr ist. Heinz Knoblauch umreißt es im genannten Band trocken: »So unscharf die Dogmatik sein mag, so unübersehbar ist die Hervorhebung des Subjekts.« An die Stelle des höchstens Wesens tritt das Ich; bzw. genauer: dessen geheimnisvoller innerer Kern, den es – ob in Gestalt von Scientologys »operierendem Thetan« oder in der schlichten Aussage des von Shirley MacLaine bekannt gemachten ›Ramtha‹-Kultes, »Du bist Gott« – zu erkennen und verehren gilt. Dementsprechend erfreut sich insbesondere das Reinkarnationsversprechen zunehmender Beliebtheit – dessen ins Unendliche verlängerter Narzissmus sich wiederum hervorragend durch den (von 66% der Deutschen geteilten) Glauben an Schutzengel ergänzen lässt: Jedem sein ganz privater spiritueller Bodyguard.

Die pseudowissenschaftlich verbrämte Willkür gehört zum Kult ums Ich notwendig dazu. Die propagierte Harmonie mit dem Selbst ist nur durch dessen Anpassung an die übernatürliche Ordnung zu erlangen; und dazu dienen jene ekstatischen und meditativen Techniken der Autosuggestion, die die Religionen historisch hervorbrachten und die nunmehr, befreit aus ihrem traditionellen Kontext, dem Bezug auf eine göttliche Objektivität, zum instrumentellen, rein selbstbezüglichen Einsatz bereitstehen. Esoterik steht in den Buchläden nicht umsonst neben den Ratgebern, Motivations- und Selbsthilfebüchern. Das ganze Kontinuum von Tai-Chi bis Bachblüten, von Yoga bis Ayurveda und von Wicca bis Christian Science ist in einem Berumdadreieck von Aberglauben, Wellness und depravierter Volksmedizin angesiedelt. Nicht zufällig ist Scientology zunächst als eine kommerzielle Therapierichtung aufgetreten, bevor es die rechtlichen Vorteile einer anerkannten Religion entdeckte – während Transzendentale Meditation, eine Art Pidgin-Hinduismus, jeden religiösen Kontext inzwischen weit von sich weist, um sich stattdessen als therapeutische Dienstleistung zu vermarkten.

War Religion einmal Vehikel der Vergesellschaftung, so steht sie heute gerade für den Rückzug auf sich selbst. Das gilt nicht bloß für Neureligionen und New Age, sondern ebenso auch für die althergebrachten Kulte. Gerade für den Protestantismus, die Theologie des aufkommenden Bürgertums, war dieser Zug von Anfang an konstitutiv. Ging es im protestantischen Zwiegespräch mit dem Schöpfer jedoch noch um Fragen der Moral und der richtigen Lebensführung (wird es was mit dem weltlichen Erfolg?), so heute vielmehr – und konfessionsübergreifend – darum, die Seele kräftig baumeln zu lassen.2 Nach seinem Glauben verlangt der Bürger vor allem dann, wenn es ihm besonders festlich zumute sein soll oder besonders unwohl zumute ist, kurz: wenn es intim zugehen soll. Indem sich die religiöse Praxis derart der Öffentlichkeit entzieht, entzieht sie sich auch der Kritik. Zum Inbegriff der »Privat-schrulle« (Marx) avanciert, profitiert Glauben von dem Tabu, dass – wie alle Privatangelegenheiten – auch die spirituelle Sinnstiftung niemand anderen etwas angeht. Wer sich in seinem Glauben auf den Schlips getreten fühlt, darf guten Gewissens zum Angriff auf den Frevler blasen. Zu den wirksamsten Versprechen postmoderner Wellnessreligionen gehört das »Menschenrecht auf Beleidigtsein« (Kenan Malik).

Von der Intimisierung der Religion profitieren daher am stärksten deren fundamentalistische Ableger. Das angedreht Fanatische ist zugleich, paradox genug, das unverbindlichste – und damit für die Identitätsbedürftigen wie geschaffen. Um sich mit Glauben versorgt zu fühlen, braucht es keine langwierige Reflexion auf die Vertracktheiten der Trinitätslerne, kein mühevolles Erlernen sufistischer Riten oder buddhistischer Kalligraphie. Es reicht, ins Feldgeschrei gegen das einzustimmen, was jeweils als das Böse gilt: Evolutionstheorie und ledige Mütter, Homosexuelle und Atheisten, »Kreuzfahrer« und Juden. Erst die entkernte Religion, die nichts zu sagen hat, befriedigt das Bedürfnis nach Autorität sans phrase.

Privatisierung heißt nun einmal, am Markt bestehen zu müssen; das gilt auch für den privatisierten Gott. Wer sich, wie die Katholiken mit ihren verknöcherten Regeln und kanonischen Vorschriften, dem Publikumsgeschmack verweigert, hat daher wenig zu lachen. Doch auch mit reformierter Feelgoodreligion allein ist auf Dauer am Markt nicht zu bestehen. Die Abschaffung der ewigen Verdammnis mag für die Evangelen durchaus werbewirksam gewesen sein; nur wird manchen der Umworbenen aufgehen, dass damit nicht nur ihnen selbst die Ewigkeit im Paradiese garantiert ist, sondern auch all den Schurken, die schon im Diesseits einem das Leben zur Hölle machen. So untergräbt die Orientierung am Kunden, worauf es diesem ankommt. Religion, die sich zu offen damit legitimiert, dass sie gut fürs individuelle Gemüt sei, macht Gott zum Willkürakt – und bringt so das Subjekt um genau den Halt im Objektiven, den es sucht.

Nur die Willkür, die sich ganz als solche einbekennt, erlaubt es, die Glaubenszweifel, die sie zwangsläufig hervorbringt, zugleich im Verein mit anderen zu überschreien.3 Unbeschwerten Selbstgenuss erfährt das Subjekt einzig unter der Fuchtel eines Glaubens, der ihm einhämmert, dass es auf ihn als Einzelnen nicht ankomme; der als wider besseres Wissen Beschworener nicht länger den, wie Marx es nannte, »Seufzer der bedrängten Kreatur« verkörpert, sondern den Rülpser der Verachtung über Aufklärung und Vernunft, das mögliche bessere Leben. Wer, ob in den Banlieues, im Gaza-Streifen oder im gutsituierten Mittelstand, statt für allgemeine Krankenversorgung für den Kreationismus streitet, statt für gesellschaftliche Teilhabe für das Recht auf Kopftuch, lässt, ganz und gar blasphemisch, alle Hoffnung fahren, für sich wie für die anderen. Hass, der nichts einbringt, ist der letzte Luxus, den eine Gesellschaft ohne Zukunft zu bieten hat.

Selbstverwirklichung durch Selbstverachtung ist daher Signum des zeitgemäßen religiösen Wahns. Schon der Name seiner evangelikalen Spielart, »Reborn Christians«, erweist der innigen Verbundenheit von Fundamentalismus und Identitätskult kaum verhüllte Reverenz. In vollkommenster Gestalt freilich führen es die islamistischen suicide bombers vor. In ihrer Untersuchung über die djihadistische »Sakrale Geographie« arbeitet Elisabeth Heidenreich nicht nur heraus, wie fasziniert die Gotteskrieger davon sind, Verkehrsnetze und Internet für ihr mörderisches Geschäft zu nutzen – genau die technischen Medien also, in denen sich in der Moderne die Erfahrung von Ortlosigkeit und Transzendenz säkularisiert. Sie weist auch darauf hin, dass ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz der Selbstmordattentäter eine westlich geprägte, natur- oder ingenieurswissenschaftliche Ausbildung genossen hat. Heidenreich interpretiert deren Hinwendung zum Djihadismus als Reaktion auf kulturelle Entfremdungserfahrungen. Aber die genannten Berufsgruppen bringen auch im Westen gerne die entschlossensten Esoteriker hervor. Näher liegt daher die Vermutung, dass fetischistischer Genuss der Technik und Schwelgen in der eigenen historischen Bedeutung zu einer Einheit verschmelzen, der des exotistischen Getöses von Allah und Umma nur insoweit bedarf, als es dem mörderischen narzisstischen Wahn das unübertrefflich gute Gewissen verleiht. Über die Bekennerbotschaft des Londoner U-Bahn-Attentäters, ein Video in Großaufnahme, schrieb Kenan Malik, das Wort ›Ich‹ komme darin fast viermal häufiger vor als der Name Gottes.

Zum Erfolgsgeheimnis der Djihadisten gehört daher, dass ihr Todeskult nicht etwa als Extremform des ungeglaubten Glaubens reüssiert, sondern – bei Freund wie bei Feind – als globale Spitzenleistung in Sachen Gottesfurcht. Zu den gängigen linken Islamapologien bilden ja die ›islamkritischen‹ Tiraden eines Sarrazins nur das spiegelverkehrte Gegenstück. Wenn dieser den drohenden Untergang Deutschlands durch muslimische Geburtenraten an die Wand malt, dann ist in den Warnungen vor dem Vitalismus und der Opferbereitschaft der Fremden, vor der urtümlichen Gewalt, die dem rationalistisch degenierten Westen auf Dauer allemal überlegen sei, der Neid schwer zu überhören. Die Besessenheit, mit der man sich im Westen auf die angeblich so andersartige Kultur des Islams kapriziert, lebt von der Unterstellung, dort herrsche noch, was man hier so schmerzlich vermisst, ein unverstelltes, nicht durch Aufklärung und Moderne gebrochenes Verhältnis zum Heiligen – genau das also, was auch die Djihadisten sich und anderen mit aller Gewalt beweisen müssen.

So führt die spezifisch islamistische Kulturindustrie, von den role models mit Kopftuch bis zu Snuff-Movies auf Al-Jazeera, nur drastisch vor Augen, was es heißt, Glauben konsumierbar zu machen. Wenn Religion heute darin besteht, denen zu glauben, die ihren direkten Draht nach oben glaubhaft zu machen vermögen, d.h. die zu verhimmeln, die – ob Guru oder Fernsehprediger, Heiligendarstellerin oder tibetanischer Gottkönig – für einen zu glauben bereit sind, dann stellt der Märtyrerkult, an dem dank Fernsehen und Internet alle in Echtzeit teilhaben können, dessen fortgeschrittenste Gestalt dar. Er entlastet den Betrachter von dem Zwang, aus seinen eigenen Ressentiments die praktischen Konsequenzen zu ziehen: An die Gotteskrieger vermag er all jene antisemitischen, antiamerikanischen und antizivilisatorischen Affekte zu delegieren, die zur Gänze selber auszuschöpfen dem Wunsch nach reibungslosem Fortkommen im Wege stehen könnten.

Glauben an den Glauben der anderen ist daher Schlüssel für die Stellung der Religion in der bürgerlichen Gesellschaft. Terry Eagleton zitiert in »Reason, Faith, and Revolution«, seiner Streitschrift zur Atheismusdebatte, den früheren US-Präsidenten Eisenhower mit dem schönen Satz: »Our government makes no sense unless it is founded on a deeply felt religious belief – and I don't care what it is.«4 Religiöses Empfinden, fährt Eagleton fort, gälte daher als ebenso unerlässlich wie leer. Und genau diese tiefsitzende Ambivalenz des Kapitals zu seinen himmlischen Heerscharen übersähen positivistische Religionskritiker wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens, indem sie den Eindruck verbreiten, es gälte immer noch, Aufklärung und Wissenschaft vor päpstlicher Inquisition zu bewahren.

Tatsächlich ist das Szenario vom ewigen Kampf zwischen Glaube und Ratio, das Hitchens und Dawkins in ihren atheistischen Bestsellern zeichnen, kaum weniger mythologisch als die Vorstellung vom ewigen Ringen Satans mit Gott, der Dunkelheit mit dem Licht. Es bringt die Religionskritiker nicht nur in die Verlegenheit zu erklären, wie das Böse, die »Erbsünde Religion« (Hitchens), überhaupt in die durch Naturgesetze verfasste Welt kommen konnte.5 Es lässt sie auch verkennen, welcher geschichtlichen Konstellation sich die Opposition, von der sie zehren, verdankt. Dorothea Welteckes minutiöse Rekonstruktion von Unglauben und Glaubenszweifel im ausgehenden Mittelalter zeigt, dass auch in vormodernen Zeiten Zweifel an Gottes Existenz durchaus bekannt waren – nur nicht im Sinne einer politischen Kampfansage, sondern eher als beinahe traumatische Erfahrung, die zu rationalisieren jedes Vokabular fehlte. (Heute würde man wohl, im Sinne eines Verlustes an Weltbezug, von Depression sprechen.) Dementsprechend galt Unglaube gerade nicht als Ausdruck überlegener Vernunft, sondern, ganz im Gegenteil, als Resultat geistiger Trägheit und überbordender Affektivität; weswegen als besonders disponiert dazu just jene galten, die, auf Basis exakt der gleichen Zuschreibung, in bürgerlichen Zeiten dann als besonders glaubensaffin gelten sollten: die Frauen und das einfache Volk.

Erst die kapitalistische Moderne bannt die Religion in die amorphe Sphäre privaten Fühlens und Meinens. Derart domestiziert und depraviert, mag der Glauben für die meisten Bürger eine willkommene Abwechslung vom Geschäft des Alltags darstellen; ihren konsequentesten Denkern muss er darum nur umso mehr als Verstoß gegen Fleiß, Nüchternheit und gesunden Menschenverstand erscheinen, als Sakrileg an den heiligsten Werten der eigenen Klasse. Beginnend mit den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, hat bürgerliche Religionskritik die Gläubigen, ganz ähnlich wie Künstler und Spielleute, der Liederlichkeit geziehen: der Verschwendung emotionaler Energien an unproduktive Schwärmereien. Mögen sich die Kirchen auch noch so sehr der Herrschaft als Bollwerk gegen Chaos und sittliche Verwahrung andienen – geht es ums Ganze, die gesellschaftliche Totalität, duldet das Kapital keinen praktischen Zweck jenseits der eigenen Verwertung, weder auf Erden noch im Himmel darüber. Chinas Aufstieg zur High-Tech-Weltmacht etwa wäre ohne die Kulturrevolution, die mit allen metaphysischen Relikten tabula rasa machte, nicht zu haben gewesen. Dass es die radikal säkulare Ideologie der Roten Garden brauchte, der Herrschaft des nacktesten und mörderischsten Utilitarismus den Weg zu bahnen, verleiht den scheinbar reaktionärsten Äußerungen des späten Horkheimer, seiner sentimentalen Trauer über das Verschwinden des Christentums und seinen Invektiven gegen die ›gelbe Gefahr‹, ihre nachträgliche Ehrenrettung.6

Insofern hat Eagleton vollkommen recht mit seiner Kritik an Hitchens und Dawkins: recht damit, dass ihre Religionskritik auch etwas Wohlfeiles hat (weil es sich nun einmal leichter gegen religiöse Zurückgebliebenheit streiten lässt als gegen die Fortschritte rationeller Menschenbewirtschaftung); dass ihr Feldzug gegen Gott einem Triumphzug fürs Kapital gleicht (weil die Propaganda für die beste aller Welten, die kommen müsse, wenn nur Vernunft und Wissenschaft den Pfaffen endgültig den Garaus machten, deren ganz ureigene Schrecken, die Dialektik der Aufklärung, unterschlägt); dass ihr Bild vom linearen Menschheitsfortschritt nicht nur hoffnungslos mythologisch ist, sondern an Avanciertheit einem theologisch geschulten Begriff von Geschichte hoffnungslos unterlegen (weil Erlösung heißt, aus Liebe zur Menschheit mit deren gegenwärtiger Verfasstheit brechen zu wollen). Nur entwertet Eagleton seine eigenen Wahrheiten, indem er Hitchens' und Dawkins' Atheismus vor allem als Begleitmusik zum »war on terror« begreift – als dessen Ziel er wiederum, wie so viele Linke, ›den Islam‹ ausgemacht hat. Er macht sich damit zum Advokaten einer Sache, die alles, was er an Geistvollem und Humanem in Religion angelegt sieht, praktisch dementiert. So kann Eagleton sich noch so emphatisch von der linken Kumpanei mit Djihadisten und Ayatollahs abgrenzen, er kommt doch nicht umhin, deren Deutungen stillschweigend zu übernehmen: Die Türme des World Trade Center, heißt es in seinem Buch, könnten vielleicht noch stehen, wäre Gaza nicht mit Billigung des Westens in ein großes Freiluft-KZ verwandelt worden.

Im Rekurs auf Religion, heißt das wohl, ist Gesellschaft nicht mehr zu packen; selbst die Klügsten macht sie irre. Will theologisch geschulte Kritik etwas Substantielles treffen, so nur, indem sie in Kapitalkritik übergeht. Das ist ganz unmittelbar zu verstehen. Schon Marx sprach ja von den theologischen Mucken der Ware; seinem Schwiegersohn Paul Lafargue verdanken wir die Idee vom »Kapital als Religion«. Obwohl fast unabsichtlich – nämlich im Zuge einer recht traditionalistischen Polemik gegen die Kapitalisten als ausbeuterische und arbeitsscheue Schufte – entwickelt, ist sie von bestechender Evidenz. »Ich«, lässt Lafargue das Kapital sprechen, »bin das unendliche Rätsel: ewige Substanz, und doch nichts als vergängliches Fleisch, meine Allmacht ist nichts als die Schwäche der Menschen. ... Durch mich beginnt jede Produktion, bei mir endet jeder Austausch. ... Ich wirke in jeder Ware, und keine einzige besteht außerhalb meiner lebendigen Einheit. Meine stets anwachsende Substanz fließt gleich einem unsichtbaren Strom durch alle Materie, unendlich geteilt und wieder geteilt. ... Die ewige Wiedergeburt des Kapitals nimmt kein Ende.« Es passt wirklich alles: Kapital geht in die Dinge ein, um ihnen zur Wirklichkeit zu verhelfen, und hält, »selbst un-bewegt, die Welt in Bewegung«; verkörpert, als das in allen Wandlungen stets mit sich Identische, den unendlichen Prozess der Verwertung, der den Horizont der endlichen Menschen übersteigt. Diesen bleibt, um teilzuhaben, deshalb nichts als Glaube und Gebet: Die Arbeit, schreibt Lafargue in genialer Wendung, ist die Fürbitte ans Kapital.
Wenn, wie es schon die gemeinsame sprachliche Wurzel von Credo und Kredit anzeigt, das Kapital die Attribute Gottes absorbiert, dann setzt es zwangsläufig dessen Verehrung zu einem bloßen Imitat des Warengottesdiensts herab. Traditionelle Religion kann unter diesen Bedingungen kaum mehr als Talmi sein – eine bloße (und reichlich plumpe) Vorübung für die, die die kapitale »Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci« (Walter Benjamin) nicht ohne abgelegte Bilder zustande bringen. – Der Sturz des Herrgotts auf die Ebene des Warentauschs mag für den Materialismus mehr Fragen aufwerfen, als er beantwortet. Er indiziert aber nicht zuletzt auch eine Hoffnung. Materialistische Kritik laboriert, seit es sie gibt, an der Aporie, keinen übernatürlichen Kokolores anerkennen zu können und doch begründen zu müssen, warum Menschen mehr sein sollen als bloße, ausschlachtbare Natur. Ohne den Begriff der Gottesebenbildlichkeit und dessen Derivate – Freiheit, Würde, Seele – scheint das schwer denkbar. Wenn es aber dem Kapital gelungen ist, die theologischen Kategorien ins Profane einwandern zu lassen, dann sollte das dem Materialismus doch auch gelingen können.

Neuerscheinungen zum Thema

• Michael Strausberg, Religion im modernen Tourismus. Berlin: Verlag
der Weltreligionen 2010, 231 S., 24,80 Euro
• Douglas Cowan u. David Bromley, Neureligionen und ihre Kulte. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010, 322 S., 26,90 Euro
• Dorothea Lüddeckens u. Rafael Walthert (Hrsg.), Fluide Religionen. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Bielefeld: Transcript Verl. 2010,
274 S., 27,80 Euro
• Elisabeth Heidenreich, Sakrale Geographie. Essay über den modernen Dschihad und seine Räume. Bielefeld: Transcript Verl. 2010,
328 S., 27,80 Euro
• Dorothea Weltecke, »Der Narr spricht: Es ist kein Gott.« Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus 2010, 578 S., 49,90 Euro
• Pascal Eitler, »Gott ist tot – Gott ist rot«. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968. Frankfurt am Main: Campus 2009,
400 S., 39,90 Euro
• Paul Lafargue, Die Religion des Kapitals. Berlin: Matthes & Seitz 2009,
180 S., 14,80 Euro
• Terry Eagleton, Reason, Faith, and Revolution. Reflections on the God Debate. New Haven / London: Yale University Press 2009, 185 S., $ 25,-

[1] In Deutschland ist dieser, soviel zum Thema Zivilisationsniveau, ohnehin nie abgeschafft worden, genausowenig wie in Österreich. Auch hier aber ist zu verzeichnen, dass ein schon fast vergessener Paragraph in den vergangenen Jahren wieder zum Einsatz gebracht wurde, und fast immer, um Verunglimpfungen des Korans und seines Propheten zu ahnden (vgl. http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web50-1.html). [2] Weswegen pittoreske Kulte und erhabene Kathedralen immer weniger dem Gebet dienen und, wie Michael Strausberg in seiner originellen Untersuchung über die »Religion im modernen Tourismus« zeigt, immer mehr als touristische Sehenswürdigkeit. [3] Die Ähnlichkeit evangelikaler Eventgottesdienste zu anderen kulturindustriellen Massenveranstaltungen, dem hierzulande so beliebten Public Viewing etwa, besteht nicht zuletzt in den verkrampften Gesichtern aller Beteiligten – auf denen sich die Anstrengung abzeichnet, die es kostet, auf Kommando Ekstase zu zeigen. [4] »Unsere Regierung macht keinen Sinn, wenn sie nicht auf tief empfundenem religiösem Glauben beruht – und es ist mir völlig egal, auf welchem.« [5] Zu welchem Zwecke sie auf eine Art biologischer Priestertrugsthese zurückgreifen: Statt klerikaler Dunkelmänner sollen es nunmehr die unterentwickelten Großhirnrinden sein, welche den Menschen die Existenz übernatürlicher Wesen vorgaukelten. Diesen und weiteren Aporien der positivistischer Religionskritik widmet sich ausführlich der zweite Teil meines Aufsatzes »Gottes Spektakel«, in: Extrablatt Nr. 5 (2009), http://www.extrablatt-online.net/archiv/ausgabe-5/lars-quadfasel-gottes-spektakel-teil2.html [6] Zur vieldiskutierten ›Konversion‹ Horkheimers, die selbst von den meisten (sich damals ja reichlich progressiv dünkenden) Christen als Alterstorheit belächelt wurde, vgl. Pascal Eitler, »Gott ist tot – Gott ist rot«. Eitler beschränkt sich freilich auf eine akribische Dokumentation der öffentlichen Rezeption, ohne dabei die Sache selbst, die Horkheimer'schen Texte, zu analysieren – etwa im Hinblick auf die interessante Frage, warum dieser weniger das Juden- als das Christentum retten zu wollen schien. Das mindert leider den theoretischen Gebrauchswert.