Nicht selten tragen Gedenktage am meisten zum Vergessen bei. So ergeht es in diesem Jahr Gustav Mahler. Die Feier seines Todestages wird – nicht anders als die seines Geburtstags im vergangenen Jahr – begangen, als wäre mit der Renaissance seiner Musik seit den 1960er Jahren auch nichts mehr über die Abwehr zu sagen, die ihr einmal entgegengesetzt wurde. An sie zu erinnern und zugleich zu zeigen, dass die Eigenart dieser Musik als Teil der Moderne nicht zuletzt darin besteht, das Ressentiment und den Hass, auf die sie stoßen sollte, bereits vorauszuahnen, unternehmen Gerhard Scheit und Wilhelm Svoboda in einem neuen Buch: Treffpunkt der Moderne. Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen.
Es war vor allem Theodor W. Adorno, der Eigenart und Abwehr zusammengedacht hat, und darum ziehen sich seine Schriften über Mahler wie ein roter Faden durch das Buch. Adorno war 1925 nach Wien gekommen, um bei Alban Berg und Eduard Steuermann, zwei wichtigen Vertretern der von Schönberg begründeten Wiener Schule, Unterricht zu nehmen. Mahlers Musik aber, die so gerne als spätromantisch eingestuft wird, bildete von Anfang an eine Art Referenzpunkt, der es Adorno ermöglicht hat, die Entwicklungen innerhalb der neuen Musik, ihr Verhältnis zu den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart, begrifflich zu erfassen: »Mahlers Symphonik«, so die Autoren, »ist ihm gleichsam der Gedanke, der alle Beobachtungen zur Moderne muß begleiten können.« Schon damals registrierte Adorno sehr genau den Hass, der dieser Musik entgegenschlägt, obwohl sie doch, anders als die Schönbergs mit der Tonalität nicht gebrochen hatte. Die vermeintliche Nähe zur Romantik nütze da nichts, im Gegenteil, Mahler gelte ebenso als der »jüdische Intellektuelle, der mit wurzellosem Geist die ach so gute Natur« verderbe; der »Destruktor ehrwürdig traditionaler Musikgüter«, die »sei es banalisiert, sei es schlechthin zersetzt« würden. Gerade das faszinierte den jungen Adorno: die Intention, auszubrechen »aus dem bürgerlichen Musikraum«, der das »Untere« ignoriert. Außerhalb des Konzertsaals und »unterhalb der Form« sei »der Ort, an dem allein die wahren Bilder bewahrt werden, die die Form vergebens anredet«, Mahler nehme sie mit, »wie man Scherben am Weg mitnimmt«.
Mit der Rückkehr aus dem Exil, als das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen bekannt geworden war, tritt etwas hinzu: Adorno erkennt, dass »der Jude Mahler den Faschismus um Dezennien vorauswitterte«. So klinge das erste Trio des Trauermarsches der V. Symphonie, »als drängte das Dorf in der Synagoge zusammen und klage im Angesicht des Pogroms«. In seinem 1960 erschienenen »Mahler« Buch, seiner »persönlichsten« Schrift, das seiner Frau, Gretel Karplus gewidmet ist, betont er, dass Mahler zwar durchaus nicht »als national-jüdischer Komponist« beschlagnahmt werden könne, seine Musik ergreife aber in anderer Weise Partei für das Judentum. Das zeige sich daran, wie der Komponist mit den Klischees des Jüdischen umgehe, die dem Antisemitismus so teuer sind. Indem sie auf »das Grelle, zuweilen Näselnde, Gestikulierende, und durcheinander Redende« anspiele, werde »ohne Beschönigung, jenes Jüdische zur eigenen Sache« gemacht, »das den Sadismus reizt«. Geht man, wie die Autoren, davon aus, dass »über Mahlers Musik sowie über die gesamte Moderne sich zureichend und ohne Gemeinplätze« nur schreiben lässt, »wenn sie zugleich mit der Abwehr dargestellt wird, auf die sie stößt«, so wird klar, welcher außergewöhnliche Stellenwert gerade in dieser Frage Adornos Deutung zukommt.
Die Autoren verweisen aber auch auf einen überaus interessanten und weitgehend vernachlässigten Aspekt in Adornos Schaffen, indem sie auf die enge Verwobenheit seiner musikwissenschaftlichen und philosophischen Schriften aufmerksam machen: Bildete doch dessen lebenslange Beschäftigung mit dem Komponisten, auch die Voraussetzung für seine bedeutendste philosophische Schrift, die »Negative Dialektik«. Mahlers Musik begreift er als Modell für das, was ihm als »dialektische Logik« im Unterschied zur »diskursiven« vorschwebe: sie folge, so Adorno, »aus der Geprägtheit und Bestimmtheit der einzelnen Charaktere« und eben nicht »aus einem abstrakt vorgeordneten Entwurf«.
Es ist darüber hinaus das große Verdienst der Autoren, ganz allgemein die Bedeutung der Wiener Schule für die Rezeption Mahlers nachgezeichnet zu haben. Dabei begegnet man dem beinahe vergessenen Schönbergschüler Erwin Ratz, der selbst nicht von den »Nürnberger Rassegesetzen« betroffen, während des Nationalsozialismus zahlreichen Menschen zur Flucht verhalf, der Juden und Jüdinnen versteckte und sie aus der vom Vater geerbten Bäckerei mit Brot und Essen versorgte. Ebenso gelang es ihm, in dieser Bäckerei Partituren und Schriften seines Freundes Hanns Eisler vor den Nazis zu verbergen, dessen Flucht ins Exil er finanziert hatte. Von 1940 bis gegen Ende des Krieges stellte Ratz dann die Wohnung seiner Mutter über der Bäckerei zur Verfügung, damit Anton von Webern Unterricht in Formenlehre und Komposition geben konnte – es war gewissermaßen der letzte Rest der in Wien verbliebenen Wiener Schule. Nach 1945 publizierte Ratz ein Lehrbuch zur Formenlehre, einem Fach, das er nun auch an der Wiener Musikakademie unterrichtete, initiierte die Gründung der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft und gab die Gesamtausgabe des Komponisten heraus. »Nur wer mit Mahler eingehend sich beschäftigt hat, wird ganz ermessen, was man ihm schuldet«, schrieb Adorno über den Freund.
Das Erschließen dieser unterschiedlichen Wirkungszusammenhänge zwischen Wiener Schule und Mahler ist es, was den Band, neben der musikwissenschaftlichen Kompetenz, so spannend macht. Man erfährt darin also nicht nur viel über die Bedeutung von Mahlers kompositorischem Schaffen, sondern auch über jenen Kreis von Menschen, die auf je unterschiedliche Weise, selbst während der Zeit des Nationalsozialismus, als Mahler und Schönberg als »entartete« Komponisten galten, die Tradition der Wiener Schule und ihrer Mahler-Rezeption bewahrten. Erinnert wird in diesem Zusammenhang auch an Herta Blaukopf, die in einem Interview von ihrer Klavierlehrerin Olga Novakovic erzählt, der vermutlich ersten Schülerin Schönbergs. Herta Blaukopf, die damals noch Herta Singer hieß und mit jüdischem Vater und nichtjüdischer Mutter in Wien geblieben war, besuchte auch jene Kurse bei Webern oberhalb der Bäckerei von Ratz. Hier traf sie u. a. mit Josef Pollnauer zusammen, der nach Webern zum wichtigsten Lehrer in der Tradition der Wiener Schule werden sollte. Nach dem Krieg heiratete sie den Musiksoziologen Kurt Blaukopf, der aus dem Exil in Palästina zurückgekommen war. Mit ihm zusammen widmete sie sich dem Auf- und Ausbau der Internationalen Mahler Gesellschaft. Sie schrieb zahlreiche Aufsätze über den Komponisten und gab mehrere Briefbände von ihm heraus. Ihr letztes Projekt, eine kleine Monographie über ihre Lehrerin, die wohl niemand anderer als sie zu schreiben imstande war, konnte sie nicht mehr realisieren, sie starb 2005. Umso wichtiger, dass der Band von Scheit und Svoboda ein Interview mit Herta Blaukopf enthält – neben einem mit dem Dirigenten Michael Gielen, der seinerseits bei Novakovic und Pollnauer gelernt hatte, und einem mit der Komponistin Olga Neuwirth, die Erfahrungen mit Mahlers Musik aus der Sicht einer jüngeren Generation vermittelt.
Erinnert wird auch an Harald Kaufmanns Aktivitäten in Graz. Er stand seit den 1950er Jahren nicht nur mit Pollnauer sondern ebenso mit Adorno in Kontakt, den er ab 1967 an das von ihm gegründete »Institut für Wertungsforschung« zu Vorträgen einlud. Kaufmann war Adornos Deutung von Musik aufs engste verpflichtet und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass »Adornos Königsweg, die musikalische Zelle so zu analysieren, daß sie das Allgemeine des gesellschaftlichen Vorgangs offenbart, als Spurlinie aus keiner späteren theoretischen Beschäftigung mit Musik mehr zu tilgen sein« werde. Adorno seinerseits fühlte sich dem Institut tief verbunden und sah dort mehr Wirkungsmöglichkeiten als im gesamten Wiener Geistes- und Musikleben, bevor sein Tod dieser Zusammenarbeit ein plötzliches Ende setzte.
Großen Anteil an der Rezeption von Mahlers Musik kam stets den Interpreten zu. Dass Mahlers Musik von vielen Dirigenten Gewalt angetan wird, in dem sie seine Musik zu verharmlosen und zu glätten versuchen, zeigen Scheit und Swoboda zuletzt unter anderem an Karajan, der bekanntlich lange Zeit zögerte, Mahler überhaupt zu dirigieren. Seine Aufnahmen dokumentieren besser »als alle zeitgeschichtlichen Quellen über seine geistige Nähe zum Nationalsozialismus, dass er der Periode verhaftet blieb, in der Mahler in Deutschland und Österreich nicht gespielt werden durfte. Es ist ein bestimmter Begriff von Erhabenheit, den Karajan damals verinnerlicht hatte«. Abwehr lässt sich heute auch bei den Dirigenten Thielemann und Harnoncourt feststellen: Mahler zu dirigieren »würde ihr Verständnis von Musik empfindlich in Frage stellen«. Indem sie ihn aus ihrem Repertoire weitgehend oder ganz ausklammern, »klammern sie auch einen Begriff von Moderne aus, der das ‚Untere’, Banale, das mit sexuellen Bedeutungen konnotiert ist, nicht abspaltet und dem Genre der Unterhaltung überlässt, sondern zu Bewusstsein zu bringen vermag und damit auch das Erhabene reflexiv einholt.«
Neben den vielen Dirigenten, die Mahlers Partituren nur dazu verwenden, die Virtuosität der heutigen Orchester auf die Probe zu stellen, gibt es nur ganz wenige, die sie, wie Michael Gielen, in der Tradition der Wiener Schule und Adornos zu realisieren verstehen.
Gerhard Scheit / Wilhelm Svoboda: »Treffpunkt der Moderne Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen«. Sonderzahl, 252 S., Broschur, 19,90 Euro