Vor Grein hatten Groll und der Dozent es sich in einer Bucht an der Donau gemütlich gemacht. Der Dozent hielt ein Notizbuch auf den Knien und schrieb. Groll hielt mit dem Fernglas nach Schiffen Ausschau. Mit einem Seufzer setzte er das Glas ab. Der Dozent schaute auf.
»Noch immer kein Schiff zu sehen?«
Groll nickte.
»Vielleicht ist es wegen des Hochwassers?«
»Unsinn«, antwortete Groll. »Das ist kein Hochwasser, höchstens Mittelwasser. Für die Schiffahrt kein Problem.«
»Vielleicht ist die Wirtschaftskrise schuld?«
»Unsinn. Schuld ist Viktor Orbán und die außer Rand und Band geratene Politik der Magyaren, die mit Volldampf in die dreißiger Jahre unterwegs ist«, erwiderte Groll bitter.
Er sei ebenfalls der Meinung, daß Ungarn den historischen Rückwärtsgang eingeschlagen habe, stimmte der Dozent bei, daß dies schuld am ausbleibenden Schiffsverkehr sei, müsse Groll ihm aber erst erklären.
Der setzte sich im Rollstuhl zurecht. »Ungarn hat am 1. März 2012 zwei Verordnungen erlassen, die zu einer gravierenden Einschränkung der Schiffahrt führen«, begann er seine Erklärung. »Im Gegensatz zur europäischen Praxis werden erstmals Maximalwerte für die Größe und den Tiefgang von Schubverbänden festgelegt. Nunmehr dürfen Frachtschiffe auf der Donau oberhalb von Budapest nur mehr vier Lastkähne oder Bargen mit maximal 2,5 Meter Tiefgang führen, unterhalb der Hauptstadt sind nur mehr sechs statt früher bis zu neun und zehn Schubkähne gestattet. Der Schiffsverkehr auf dem Strom wird durch diese Maßnahme staatlichen Raubrittertums unwirtschaftlich. Allein die Beschränkung der Anzahl der Bargen reduziert die Ladekapazität von Schubverbänden um ein Drittel. Und die Begrenzung des Tiefgangs bedeutet eine weitere Reduktion um bis zu zwanzig Prozent. Für den Transport auf der Donau sind die neuen Regeln existenzbedrohend.«
Verblüfft fragte der Dozent, weshalb Ungarn zu dieser seltsamen Maßnahme greife.
»Der Zweck der Übung ist der Schutz ungarischer Reeder, die kleine und wenig tiefgehende Kähne in Verwendung haben«, antwortete Groll. »Im Gegensatz zu den Ungarn investierten die Reedereien in Deutschland und Holland massiv in die Erneuerung und Vergrößerung ihrer Schiffe, dies alles mit Unterstützung der EU, die die transeuropäischen Schiffahrtsnetze fördert – obwohl die LKW-Spediteure nach wie vor über eine mächtige Lobby in Brüssel verfügen. Durch den ungarischen Flaschenhals können nun die modernen Kähne, die den Schiffsverkehr auf der Donau profitabel machten, nicht auf der ganzen Länge der Donau bis zum Schwarzen Meer fahren, der Kostenvorteil gegenüber Bahn und Straße geht somit verloren. Und das, obwohl die Donau nur zu sieben Prozent ihrer Kapazität genutzt wird, während es beim Rhein zehnmal soviel sind!«
»Mir scheint eher, daß die ungarischen Eliten von dem Wahn befallen sind, sich an Europa rächen zu müssen«, warf der Dozent ein. »Orbán spielt sich als Bollwerk gegen den modernen Kapitalismus auf, als Freiheitskämpfer des stolzen Magyarentums. Dabei ist sein Ungarn eine Melange aus einem erzkonservativen Chauvinismus und einem faschistoiden Anti-Kapitalismus, ähnlich jenem des jungen Mussolini vor der Machtergreifung im Jahr 1922.«
»Sie meinen den berühmten ’Marsch auf Rom und Umgebung’, wie Emilio Lussu sarkastisch die Aktion beschrieb, in der die Schwarzhemden Mussolinis in den verschlammten Feldern vor Rom stecken blieben, während der Duce im Schlafwagen von Mailand nach Rom unterwegs war?«
»So ist es«, bekräftigte der Dozent. »Aber im Gegensatz zu Mussolini marschieren Orbán und die mit ihm hinterrücks verbündeten Schwarzstiefel der Jobbik-Partei nicht in Richtung der Hauptstadt, sie sind längst dort. Erst Anfang Mai zogen Tausende Uniformierte durch die Budapester Innenstadt. Niemand getraute sich, Widerstand zu leisten. Auch die Polizei sah tatenlos zu – obwohl militärische Aufmärsche von Privatgruppen gesetzlich verboten sind. Sie marschierten, völkische Parolen brüllend, durch die Hauptstadt. Eine Schmierenkomödie
der Sonderklasse«.
»Die nur von der Liebedienerei der EU vor Donauadmiral Orbán übertroffen wird«, unterbrach Groll.
»Sie haben leider recht, geschätzter Groll. Admiral Miklós Horthy, der Diktator der zwanziger und dreißiger Jahre, war der letzte Flottenkommandant der k u k –Marine, er ließ sich nach der Niederschla-gung der Räterepublik als Monarch ohne Monarchie einsetzen, als »Reichsverweser« – so sein offizieller Titel. Er vertrat das Konzept des »Volksnationalen«, das einen »authentischen« ungarischen Charakter betonte. Die jüdischen Bürger waren davon ausgeschlossen, sie wurden als Schädlinge am ungarischen Volkskörper hingestellt, der junge Hitler hat viel von Horthy gelernt. Aber während Horthy als konservativer Reaktionär bestrebt war, die autoritäre Gesellschaftsordnung Ungarns unversehrt zu belassen, wozu vor allem die Bewahrung der Adels-Privilegien im Staatswesen gehörte, ersetzte Hitler den Adel durch die Partei.«
Im heutigen Ungarn könne man beide Strömungen antreffen, setzte Groll den Gedanken fort. Orbán knüpfe an das Horthy-Regime an, und die rassistischen Jobbik-Leute an den Hitlerismus, genauer gesagt: an dessen ungarischem Ableger, dem Pfeilkreuzlertum. Die Pfeilkreuzler hätten 1944 mit deutscher Hilfe Horthy aus dem Amt vertrieben, resümierte der Dozent düster.
»Wir werden ja sehen, ob Orbán, der ungarische Caudillo, am Ende auch von den offenen Faschisten weggeräumt wird.«
Im 21. Jahrhundert sei es unvorstellbar, daß eine faschistische Partei in Mitteleuropa Regierungsämter übernehme, noch dazu wo Ungarn sogar Mitglied der NATO sei. Die Zeiten, wo so etwas möglich war, seien endgültig vorbei, erwiderte daraufhin der Dozent.
Bis vor kurzem habe man auch die Entwicklung Orbáns zum »Reichsverweser neuen Stils« für unmöglich gehalten, widersprach Groll und fügte hinzu, daß die Jobbik laut neuesten Umfragen fünfundzwanzig Prozent erreiche. Auch sei es kein Zufall, daß die amtliche Bezeichnung des Staates seit 2012 nicht mehr »Republik Ungarn«, sondern nur mehr »Ungarn« laute. »Von der >Volksrepublik Ungarn< über die >Republik Ungarn< zu >Ungarn<. Ein Marsch in die Tiefe des völkischen Wesens!«
Der Dozent erhob sich. »Geschätzter Groll, ich teile Ihre Besorgnis. Dennoch halte ich dafür, daß für das von Ihnen beschriebene Horrorszenario das internationale Umfeld fehlt.«
»Verehrter Dozent! Wenn ich mir vergegenwärtige, daß rechtsextreme Parteien der europäischen Finanzkrise folgen wie Schleppkähne dem Zugschiff, bin ich mir da nicht so sicher«, entgegnete Groll. »Reden wir nach den österreichischen Wahlen im Herbst 2013 weiter. Die ’Soziale Heimatpartei FPÖ’ liegt in den Umfragen gleichauf mit den Sozialdemokraten, und der ÖVP droht der Sturz in den Orkus.«
»Selber schuld«, murmelte der Dozent.
»So kann man es auch sehen. Aber bedenken Sie auch, wer nach dem Untergang der Democrazia Cristiana ans Ruder kam?«
Der Dozent antwortete nicht, er war eines Kabinenschiffs ansichtig geworden, das sich langsam bergwärts schob.