Europa erfindet die Zigeuner

Zwischen Faszination und Verachtung oszillieren die Geschichten über die sogenannten Zigeuner. Roma und Sinti haben erst in den letzten Jahrzehnten begonnen, ihre eigenen Geschichten auch schriftlich zu erzählen. Davor prägten Erzählungen über sie als Fremde, Fremdzuschreibungen ihr Bild. In seinem Buch »Europa erfindet die Zigeuner« spannt Klaus-Michael Bogdal einen Bogen vom 15. Jahrhundert, der Ankunft von Rom-Völkern in Europa, bis heute. Für Radio FRO sprach Pamela Neuwirth mit dem Literaturwissenschafter über seine Geschichte der Darstellung der ›Zigeuner‹ in der europäischen Literatur und Kunst.

Wie kam der Begriff »Zigeuner« in die Welt?

Bogdal: Das ist der Begriff der in Ost-Europa angewendet wird und dessen etymologischer Ursprung unklar ist. In anderen Ländern, das versuche ich im Buch zu erklären, haben wir andere Begriffe, an denen man ablesen kann, wie die Wahrnehmung gesteuert wurde. In England haben wir die Gypsys, also die Ägypter; in Holland werden sie Heiden genannt, also in einer religiösen Wahrnehmung. In Skandinavien die Tartaren, das ist wieder eine andere Herkunftsbezeichnung. Wir haben den Begriff der Zigeuner, der aber weitgehend diskriminierend gebraucht wird. Im Begriff Zigeuner befinden sich genau die Fremdzuschrei-bungen, die sich im kollektiven Gedächtnis der Europäer eingeschrieben haben. Es gibt ja keine Selbstzuschreibungen, die Eingang fanden in das, was wir als Zigeuner bezeichnet haben. In Deutschland von Sinti und Roma zu reden ist vielleicht dreissig Jahre alt, wie auch die Tatsache, dass sie diese Begriffe als Selbstzuschreibung erstmals akzeptieren. Der Begriff Zigeuner steht nicht alleine. In einer Linie ist es immer der »diebische« Zigeuner, der »dreckige« Zigeuner; er wird stets mit äußerst negativen, ich nenne das Verachtung, mit verachtendenen Zuschreibungen, verbunden. Auf der anderen Seite haben wir im 19. Jahrhundert durch die Romantik die Faszination mit diesen Gruppen vorgefunden. Dann tritt mit dem Begriff Zigeuner eine Ambivalenz zutage, aber es herrscht doch das Diskriminierende vor. Mein Ziel war ja nicht über Romanes, also die Sprache zu arbeiten, sondern über die künstlerischen Darstellungen und die Fremdzuschreibungen; insofern musste ich in andere europäische Sprachen hineingehen. Wir haben bis zum Ende des Kriegs, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, keine schriftlichen Zeugnisse in Romanes, es ist eine mündliche Sprache, eine orale Kultur und die große Schwierigkeit meiner Arbeit war, überhaupt authentische Quellen zu finden in der Geschichte, die es nicht gibt, da es die Sprache nur als mündliche gibt. Auf der anderen Seite ist die Sprache natürlich ein wichtiges Bindeglied, der doch sehr unterschiedlichen Romvölker, die wir in Europa kennen und von denen nicht mehr alle diese Sprache sprechen. In Ungarn sprechen die Romvölker seit langen Jahren nur noch ungarisch; in Deutschland ist das anders, in Bulgarien auch. Das sind eigentlich Gruppen, die traditionell zweisprachig sind, wie wir das heute nennen.

In ihrem Buch zeigen Sie die Bilder und Geschichten auf, welche die Europäer von den Rom-Gruppen erzählten. Erzählt und geglaubt wurde zum Beispiel, der Zigeuner sei ein Naturwesen inmitten der Zivilisation. Es ist eine Metapher voller Widersprüche. Wie kam es dazu, dass sich diese Bilder derart erfolgreich durchsetzen konnten und bis heute virulent sind?

Bogdal: Das ist die Kernthese meines Buches. Die Zigeuner wurden als die Wilden, die Indianer Europas, die Neger Europas bezeichnet; diese Vergleiche setzten sich im semantischen Feld fort. Das ist meine These: Sie kommen zu einem Zeitpunkt, wandern zu einer schwierigen Zeit in Europa ein, als die mittelalterliche Welt zusammenbricht und sich das moderne Europa herausbilden wird. Sie sind eine Gruppe, die sich diesen Prozessen nur sehr langsam anpasst, das muss man auch dazu sagen, dass sie sich als Gruppe zu jenen Zeiten wirklich abschließen, und eben viele Entwicklungen nicht mitmachten, die andere Völker in vergleichbarer Situation in Europa eben doch mitmachten. Aber – sie werden eben als zurückgeblieben Gruppe in Europa ausgegrenzt und man mißt sich geradezu an ihnen, und den eigenen zivilisatorischen Fortschritt an Rom-Gruppen. Das ist eine der großen Festschreibungen – bis heute. Schauen Sie sich an, wie in Frankreich berichtet wird. Da wird  dann von Leuten gesprochen, die überhaupt keine zivilisatorischen Standards erfüllen, die in Schmutz und Elend leben. Das sind die Bilder: sobald sie irgendwo auftauchen, zerstören sie sofort alles was sie an Zivilisation vorfinden. Sie verfeuern im Winter den Fußboden in ihren eigenen Wohnungen. Ständig finden Sie auch heute Zuschreibungen von den hoffnungslos Unzivilisierbaren.   

In der Kunst waren solche bisweilen exotischen Narrative eine ideale Projektionsfläche. Sie durchstreifen die Literaturgeschichte von Victor Hugo, Maria Ebner-Eschenbach bis hin zu Puschkin, den Russen, der wohl als Ausnahme gilt, wenn er den nomadischen Lebensstil der Romvölker als anarchistische Lebensphilosophie skizziert. Im 19. Jahrhundert interessieren sich neben der Kunst dann auch andere Disziplinen für die Rom-Gruppen. Im Bereich der Kriminologie führte das in die Rassenbiologie und Eugenik. Sinti und Roma wurden dann als kriminell geboren bezeichnet. Wie kam es, dass die strukturelle Gewalt an Römvölkern in diesen Schrecken führte?

Bogdal: Das ist eine Phase, die sich nicht unbedingt so hätte ereignen müssen. Aber das war ganz erstaunlich. Das Repertoire an Vorurteilen war ausgearbeitet und die Rasseanthropologen und die Kriminalwissenschaftler und Kriminalbiologen, die sich damit beschäftigten und eine hohe Autorität in der Gesellschaft innehatten, codierten die vagen und bisher ungenauen Vorstellungen dann um, und gießen eine wissenschaftliche Form darüber. Machen aus Wahrnehmungen und Beobachtungen wissenschaftliche Wahrheiten über diese Ethnie, und das im Kontext doch schon rassistischer Gesamtkonzepte. Also nicht mehr wie im 17. und 18. Jahrhundert, dass man Völker hierarchisiert hat und die sozusagen unterentwickelten Völker konnten auch nachrücken, sich verlagern, sondern der Rassismus bricht mit dieser Vorstellung und legt unveränderliche Merkmale fest, wie auch eine unveränderliche Hierarchie und zieht damit am unteren Rand Grenzen: die Juden sind diejenigen, die Schwarzen sind diejenigen und die Zigeuner, das sind die Völker, die nicht zivilisierbar sind und die man mit eugenischen Maßnahmen eigentlich ausrotten und vernichten muss. Das findet sich nicht nur in Deutschland. Ob in der Schweiz, in Schweden, sehr bald fangen die ersten eugenischen Maßnahmen an. Das sind Heiratsverbote, Kindesnahmen und in den 1920er Jahren zunehmende Sterilisierungsprogramme. Und die Nationalsozialisten treiben das in ein Programm der totalen Vernichtung hinein.   

Wie ist die Situation von Sinti und Roma heute?

Bogdal: Das ist eine schwierige Gemengenlage im Augenblick in Europa, da verlagern sich ganz unterschiedliche Probleme. Und wir haben natürlich die historisch gewachsenen Vorurteile gegenüber den Romvölkern, die seit sechshundert Jahren in der Wahrnehmung in aktuellen politischen Problemen auch immer eine Rolle spielen und die eigentlichen sozialen Probleme dann überlagern. Frankreich ist dafür ein gutes Beispiel. Andererseits haben wir in der Europäischen Vereinigung durch den Fall des Eisenen Vorhangs eine andere Situation. Völker im Südosten der EU gehören zu den Ärmsten der Armen und mit ihnen sind soziale, und vor allem wirkliche aktuelle soziale Probleme verbunden – diese werden aber nicht als solche wahrgenommen, sondern sie werden als ethnische Probleme weitergegeben und medialisiert.



Prof. Klaus-Michael Bogdal hat das Buch »Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte zwischen Faszination und Verachtung« 2011 im Suhrkamp Verlag aufgelegt. Die taz schrieb: »Klaus-Michael Bogdals Buch ist für das Verständnis der gegenwärtigen Situation der Roma in Europa und deren Hintergründe unentbehrlich. Man möchte hoffen, dass es seinen Weg in den Geschichtsunterricht und auf den Schreibtisch von Politikern findet – denn, wie Bogdal so treffend bemerkt, der europäischen Kultur ist die Fähigkeit zur Entzivilisierung noch nicht abhandengekommen.«
Einen großen Teil des Buches hat Klaus-Michael Bogdal im Übrigen in einem Wohnwagen verfaßt. Er, wie er selbst sagt, kokettiert zwar damit, aber im doppelten Sinn: Ein nomadischer Lebensstil ist kein Hindernis für Bildung.

Das ganze Interview liegt im CBA – Cultural Broadcasting Archive zum Nachhören bereit: http://cba.fro.at