Seit ein paar Monaten widmet sich der auf Philosophie und Kunsttheorie spezialisierte Zürcher Verlag diaphanes mit der Reihe booklets dem Phänomen der Fernsehserie. Genauer gesagt, jenen amerikanischen Kulturprodukten, die seit ungefähr einem Jahrzehnt gerade in Europa für Verzückung sorgen. Sie stammen zum überwiegenden Teil vom amerikanischen Kabelsender HBO: von Seinfeld über The Wire bis hin zu Lost. Eingeläutet wurde das »Goldene Zeitalter« der amerikanischen Fernsehserie um die Jahrtausendwende von The Sopranos. Bei den Sopranos handelt es sich um eine fiktive italo-amerikanische Mafiafamilie in New Jersey. Im Mittelpunkt steht der Mittvierziger Tony Soprano. Weil ihn Panikattacken plagen, sucht er eine Psychotherapeutin auf. Eigentlich unterscheidet ihn nichts von anderen Männern seines Alters der weißen, etwas gehobenen US amerikanischen Mittelschicht: es kriselt in seiner Ehe, seine Kinder kommen ins Teenageralter, sein Job macht ihm immer mehr zu schaffen. Mit dem Unterschied, dass er gewerbsmäßig immer wieder Menschen liquidieren muss. Als Mafiamitglied gehört das zu seinem Job. Vor seiner Familie und seinen Kollegen muss er seine shrink-Besuche geheim halten. Und auch seiner Psychotherapeutin Dr. Melfi enthüllt er erst langsam die wahre Natur seiner beruflichen Tätigkeit.
»Die ›Sopranos‹ haben immer den Umstand artikuliert, dass Leute, die eigentlich nichts anderes wollen als ein Häuschen in Suburbia, nicht anders überleben können als durch Kapitalverbrechen.« Diedrich Diederichsen
Zuerst mal allgemein: Sind Sie ein Serienjunkie, ein Serienschauer? Wie oder unter welchen Umständen haben Sie die Sopranos für sich entdeckt?
Nein, ich bin kein Junkie. Die Sopranos waren ja kein Geheimnis, man musste sie nicht entdecken; sie liefen ja sogar im ZDF.
Was hat Sie an den Sopranos fasziniert?
Ich habe ja ein Buch über diese Serie geschrieben; wie man von ihr fasziniert wird, lege ich ja dar. Ob ich persönlich fasziniert bin oder war, möchte ich am liebsten offen lassen. Ich bin nicht unbedingt ein Anhänger der Idee, dass man von dem, was einen interessiert, fasziniert sein muss.
Die Serie handelt vom Alltag eines Mafiaclans in New Jersey. Sehr schnell identifiziert man sich mit der Hauptfigur Tony Soprano, der, wie sie selbst schreiben, ein mehrfacher Mörder und Peiniger ist. Wie gelingt das?
Na, ich denke, ich habe auch das recht ausführlich in dem Buch beschrieben: Man identifiziert sich halt gerade nicht mit Tony Soprano, sondern es werden einem unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten geboten, sich mit Figuren in seiner Nähe zu identifizieren, bzw. deren Perspektive einzunehmen. Das Spezifische an modernen Serien ist ja, dass sie unterschiedliche Publika im Auge haben und daher verschiedene Perspektiven auf das Geschehen anbieten.
Die Sopranos haben ja in den Augen vieler Kritiker und Auskenner das »Goldene Zeitalter« der amerikanischen Serien eingeleitet. Was macht denn die Sopranos besonders, hebt sie ab von Vorgängerserien der 90er wie Seinfeld oder Ally McBeal?
Im Gegensatz zu den beiden genannten Serien erzählen sie eine einzige große Geschichte mit diversen größeren und kleineren Erzählbögen. Das alleine ist noch kein Alleinstellungsmerkmal, aber selten hatte so eine Erzählung so eine fein gebaute und doch sehr tragfähige Architektur. Mir ist aber nicht klar, in welcher Hinsicht Ally McBeal und Seinfeld Vorläufer sind, allenfalls in Bezug auf öffentliche Gespräche. Der große Unterschied wäre dann, dass dieses Gespräch bei diesen beiden noch von Sendeterminen im TV vorstrukturiert wurde, während man die Sopranos eher auf DVD oder gerippten Files angesehen hat - also nach einem eigenen, selbst gewählten Zeitregime, ähnlich wie beim Lesen von Büchern.
Sie sinnieren im Buch auch über das Serienschauen selbst. Heute konsumiert man Serien anders, zieht sich eine DVD nach der anderen rein, hortet sie auf der Festplatte. Es geschieht nicht mehr häppchenweise und durch den Sender bestimmt, wie vor 10 bis 20 Jahren. Wird es da leichter in eine Serie hineinzukippen?
Also ich hoffe, dass ich nicht sinniere. Die Serien sind ja so gebaut, dass sie einen solchen Rezeptionsstil begünstigen. Ich würde ja sagen, dass Dr. Melfi eine Allegorie des teils süchtigen, teils analytischen Zuschauer eines deregulierten Fernsehens darstellt. Man kippt rein, wie Sie sagen, aber genauso leicht, bricht man auch mit einer Serie: Man begegnet ihr dann nicht zufällig wieder, wie beim alten TV.
Bei den Sopranos handelt es sich um eine Parabel auf die untergehende (amerikanische) Mittelklasse mit ihrer Kultur der materiellen Arbeit, schreiben Sie. Tony Soprano funktioniert nicht mehr wie er sollte, hat Panikattacken und sucht deshalb eine Psychiaterin auf. Warum eignet sich das Mafiamilieu dafür so besonders?
Die Mafiafamilie ist halt eine Verschärfung. Sie ist genauso spießig wie die echte Mittelklasse, aber es geht immer um Leben und Tod. Wenn eine Klasse untergeht, geht es ja um Leben und Tod; die Mafiafamilie ist ein gutes Bild dieser Verschärfung.
Geld, in den allermeisten Fällen höchst schmutziges, spielt (nicht besonders überraschend im Mafiamilieu) eine wichtige Rolle. Das Seelische wird zu einer Sache der Buchführung (...) mit dem der Seelenfrieden zurechtkonstruiert wird, schreiben sie. Das lässt sich wohl auch über »normalere« Menschen sagen. Ticken wir im Prinzip alle wie die Sopranos?
Dass das Seelische zu einer Sache der Buchführung wird, kann man schlecht als normal akzeptieren, das ist in hohem Maße neurotisch. Ich weiß nicht, wer mit »wir alle« gemeint ist. Man braucht schon eine nähere Klassifizierung: Westliche Kleinbürger, die ein kleines bis mittleres Unternehmen führen, ticken zumindest so ähnlich; nämlich in der Hinsicht, dass die Sopranos auch solche Kleinbürger sind. Aber die Anzahl möglicher Ideologien in Bezug auf ihren Seelenfrieden ist doch höher und bietet mehr Selektionsmöglichkeiten.