»I want to change things for the better, just like everybody else.« Henry Rollins
Es geht heute nicht mehr um Differenz im Sinne der Dekonstruktion! Vielmehr geht es um Distanz im Sinne der Autonomie. Es geht nicht mehr um die Übersicht über ganze Gesellschaften und globale Zusammenhänge, vielmehr geht es um die Einsicht des Einzelnen und sein und ihr Lebensumfeld. Wir können in der späten Postmoderne nicht mehr umfassend analysieren, warum etwas wie ist. Aber wir können souverän unser eigenes Lebensumfeld gestalten und unseren Wünschen anpassen: Unkonditioniert, frei und illusionslos! Wir können versuchen unsere eigene Integrität zu schützen und vor Konditionierungen und Kompromittierungen zu bewahren. Der Gibling ist Ausdruck dieser Integrität und dieses Wunsches nach Autonomie.
Der Gibling ist eine Kunstwährung und ähnlich einer Gemeinschaftswährung im Kern eine Regionalwährung. Der neue Gibling ist in 1er, 2er, 5er, und 500er Scheinen erhältlich. Er kann von den NutzerInnen im Rahmen von Partnerbetrieben als Zahlungsmittel verwendet werden. Diese bilden den Währungsraum der Gemeinschaftswährung. Die Gemeinschaft startete 2012 in Linz mit 20 Betrieben. Für die Geld- und Währungspolitik ist eine Zentralbank zuständig, die sich »Zentralpunk« nennt und deren Direktion in der Stadtwerkstatt angesiedelt ist. Es gibt drei Wechselstellen, eine in Linz in der Kirchengasse 4, eine in der Sporgasse 18 in Graz und eine neben der Nationalbank in Wien. Die NutzerInnen der Währung und die Partnerbetriebe können hier jederzeit Giblinge entsprechend ihrer jeweiligen Gültigkeit in Euro zurücktauschen. »Die Zentralpunk« emittiert Banknoten und legt die Gültigkeit der Banknoten fest. Am 15. Juni jeden Jahres emittiert sie neue Banknoten. Die Gültigkeit der Giblinge erkennt man am Sicherheitsetikett, der Seriennummer und dem aufgedruckten Ablaufdatum. Nach Ablauf fällt eine Wertminderung von 5% im ersten Jahr an (für jedes darauffolgende Jahr verdoppelt sich der Wertverlust). Dieser negative Zins wird auch als Umlaufsicherung bezeichnet.
Der Gibling kann sich nicht anhäufen und muss ausgegeben werden! Ziel ist es, den Wert von Geld in Form und Fassung gegenüber anderen Gütern zu reduzieren, um eine Investition des gesamten Geldvermögens anzuregen. Damit der Gibling also ständig im Umlauf bleibt und weiter investiert wird muss er ständig an Wert verlieren. Am 15. Juni 2013 kommt der neue Gibling, und der alte, gestaltet von der Künstlerin Valarie Serbest, verliert ab dem 15. Juni 2014 das erste mal 5% seines Wertes. Er wird ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von den Partnerbetrieben angenommen (siehe Skizze). Alle Scheine, die bei der »Zentralpunk« getauscht werden, werden vernichtet. Der nächste Künstler, der den Gibling gestaltet ist Leo Schatzl. Der neue Schein wird neben dem regulären Geldaufkommen in einer Kleinstserie auf handgeschöpftem Papier mit Wasserzeichen gedruckt. Für Schatzl ist es wichtig mit diesem Projekt Kunst in seiner Bedeutung neu zu vermitteln. Jede NutzerIn, die sich für den Künstler oder das Kunstsystem »Gibling« interessiert, hat nun die Möglichkeit einen handnummerierten Geldschein in einer Wechselstelle zu erwerben und ihn auch über seine Gültigkeit hinaus als Kunstwerk zu behalten. Es darf vermutet werden, dass sich der Wert auch nach einem Jahr nicht reduziert, sondern möglicherweise im Kunstsystem seinen Wert behauptet oder langsam erhöht. Der Gibling ist eine ideale Metapher für das, was Postmaterialisten heute fordern. Er stärkt die Gemeinschaft von solidarischen Partnern und Gleichgesinnten.
Der Lebensstil von Postmaterialisten versteht sich als Alternative zur am Konsum orientierten Überflussgesellschaft. Seine Anhänger versuchen durch bewussten Konsumverzicht den Alltagszwängen entgegenzuwirken. Generell ist für ihn das Streben nach materiellen Gütern von geringerer Bedeutung als beispielsweise eine intakte Familie, Gesundheit oder Bildung. Ziel ist ein selbstbestimmtes und bewusstes, freies und illusionsloses Leben zu führen. Nach Auffassung des US-amerikanischen Politologen Ronald Inglehart sinkt bei steigendem Wohlstand einer Gesellschaft das Bestreben nach materialistischen Werten. Währenddessen nimmt das Bestreben nach postmaterialistischen Werten zu.1 Postmaterialisten sehen sich selbst vor allem als Humanisten. Im Zentrum ihres Interesses stehen die Werte und die Würde des Menschen. Hierbei spielt der Wunsch nach persönlicher Integrität und Integrität des gesellschaftlichen Umfeldes eine starke Rolle. Werte wie Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit gelten als wichtige humanistische Prinzipien menschlichen Zusammenlebens. Entspricht etwas nicht dieser Überzeugung, dann nimmt der Postmaterialist lieber Abstand. Er distanziert sich ausdrücklich und demonstrativ davon. Ein weiterer Wesenszug ist eine starke Betonung der eigenen Individualität. Diese Individualisierung geht ebenfalls wesentlich humanistischen Fragen nach: »Was bin ich als Mensch? Was ist meine persönliche Aufgabe in der Gesellschaft und wie kann ich in dieser Gesellschaft Sinn stiften? Sinn stiften für mich, meine Familie und mein gesellschaftliches Umfeld?« Anstelle der kollektiven Glücksversprechen der Werbung geht es nunmehr um die individuelle Erfüllung des eigenen Glücks. Die gesamtgesellschaftliche Konditionierung und ihre immer wiederkehrenden gebrochenen Glücksversprechen werden als solche erkannt und ersetzt durch die individuelle Vorstellung vom persönlichen Glück.
Der Soziologe Paul H. Ray und die Psychologin Ruth Anderson beschreiben schon im Jahre 2000 diese Menschen als Teile einer schnell wachsenden Gruppe innerhalb heutiger Gesellschaften. Sie bezeichnen sie als »Kulturell Kreative«. Diese befördern einen Wertewandel, der kreative Werte vertritt und deren Lebensstil von Gesundheits- und Umweltbewusstsein und einem expliziten sozialen Verantwortungsgefühl geprägt ist.2 Sie verstehen unter »Kulturell Kreativen« eine der weltweit am schnellsten wachsenden Werteszenen. Heute gibt es in Städten wie Berlin Bezirke, in denen diese kulturell kreativen Menschen durch ihre Konsum- und Kulturvorstellungen das Stadtbild weitgehend prägen. Hierzu gehören Teile des Prenzlauer Bergs oder Friedrichshains. Das Bewusstsein, bestimmte humanistische und ökologische Werte zu teilen, führt dazu, dass sich Kindergärten, Schulen, Supermärkte, Cafés, aber auch normale Ladengeschäfte genau den Vorstellungen entsprechend entwickeln. In diesem Umfeld sind die postmaterialistisch geprägten »Kulturell Kreativen« eindeutig tonangebend. Die Straßen sind sauber und die Parks sind gepflegt und man sitzt im Café und trinkt seinen Cappuchino aus fair angebauten und gehandelten Kaffeebohnen mit aufgeschäumter Sojamilch. Er darf für die gute Sache gerne ein bisschen teurer sein. Es sind Ghettos des Wohlstands, selbst wenn sich ihre Bewohner postmaterialistisch wähnen. Allein die Statussymbole sind andere: Die gute Schule, die anregende Kulturreise, das kulturelle oder karitative Engagement und das besonders gute und ausgewählte Essen aus dem Bioladen vom Biobauernhof aus dem Umland. Aber der eigentliche Luxus ist die freie Zeit. Die Zeit, um sie mit sich, seiner Familie, seinen Freunden und seinen Mitstreitern für die gute Sache einzusetzen und sich Träume und Wünsche zu erfüllen. Der eigentliche Luxus ist nicht zu arbeiten und dennoch sorgenfrei und im Einklang mit sich und seinem sozialen Umfeld zu leben. Für sie hat die Arbeit als Statussymbol zugunsten der symbolischen Arbeit für die gute Sache abgedankt.
Die Postmaterialisten würden es sicher abstreiten, aber natürlich verkörpern sie ein unterschwelliges Klassenbewusstsein in ihrem Ghetto des postmaterialistischen Wohlstands. Es lässt sich am Preisgefüge der Umgebung und einem gehobenen Bildungsniveau und Konsumverhalten und den damit verbundenen sozialen Ausschlussmechanismen ablesen. Die Gentrifizierung wird wesentlich von solchen stilistischen Bewegungen mitgetragen. Der aus der Stadtsoziologie kommende Begriff beschreibt spezifische sozioökonomische Umstrukturierungsprozesse in städtischen Wohngebieten als ein Phänomen der sozialen Ungleichheit. Es ist ein Phänomen, das insbesondere von jungen bürgerlichen Familien und wirtschaftlich erfolgreichen Menschen mittleren Alters getragen wird. Denn auch ein Postmaterialist hat Eltern, die Materialisten sind und die Eigentumswohnungen für ihre Kinder erwerben oder wie Robert Musil gesagt hat, auch ein Mann ohne Eigenschaften hat einen Vater mit Eigenschaften. Der Philosoph dieser heutigen kulturell kreativen Generation ist Richard David Precht. Politisch korrekt, kritisch und vermeintlich links, aber nicht ganz links. Prechtig! Zu allem eine Meinung und den Tiefgang eines Kinderplanschbeckens.
Was aber unterscheidet den Gibling und seine Unterstützer und Nutzer von den neuen Kreisen der Postmaterialisten des Berliner kulturell kreativen Establishments? Grundsätzlich und völlig frei von Polemik: Der Gibling würde genau in solchen Wohlstandsghettos bestens funktionieren. Eigentlich erstaunlich, warum Herr Precht dies in »Die Zeit« noch nicht angeregt hat. Der Gibling selbst setzt sich deutlich von dieser Werteszene ab, indem er sich selbst im Umfeld des Punks verortet. Er nennt seine Zentralbank »Zentralpunk«. Er kommt aus dem Umfeld eines gedanklichen Postmaterialismus und verkörpert ebenfalls kulturell kreative Tendenzen, aber er versteht sich nicht als Währung des neuen jungen städtischen Bürgertums. Jenes Bürgertum würde nie über Geld reden: »Über Geld redet man nicht, Geld hat man!« Eine Attitüde des gehobenen Bürgertums von je her. Während der Gibling genau das will: Von sich reden machen und über Geld reden! Es gibt demnach große Unterschiede in der Bewegung der kulturell kreativen Postmaterialisten. Es gibt die Bürgerlichen und die Antibürgerlichen. Es gibt die, die sich alles leisten können und sich bewusst für Einschränkungen des eigenen Konsums entscheiden um dem Konsumterror zu entgehen. Und es gibt die Vertreter derjenigen, die sich von je her dem Konsumt entziehen müssen, weil sie ihn sich nicht leisten können. Die einen sammeln Flaschen um sie zu recyceln, die anderen sammeln Flaschen, weil sie das Flaschenpfand zur Aufbesserung ihrer Grundsicherung benötigen. Während die einen freiwillig und aus gesundheitlicher, politischer und kultureller Überzeugung Konsumverzicht üben, kommen die anderen von je her nicht in die Lage dem Konsumdiktat zu folgen, weil sie schlichtweg nicht genug Geld verdienen.
Wofür aber steht der Gibling? Der Gibling ist kein Medium zur Selbstverwirklichung! Die Idee von Leo Schatzl, ihn mit kunstsystemischen Fragen zu verbinden, ist deshalb auch kritisch zu bewerten. Es ist der Versuch, in den eigenen politisch aktiven und solidarischen Umfeldern ein Bewusstsein für das Problemfeld Geld zu schaffen und eine Abkehr von den Geldpolitiken der Großbanken und Staaten symbolisch zu vollziehen und zu mindestens symbolisch mit dem Gibling zu verkörpern. Schaut her, Autonomie funktioniert, sie tut nicht weh, sie macht Spaß und sie ist gleichermaßen gut und nützlich für die Nutzer, die Partnerunternehmen und vor allem um den öffentlichen Diskurs voranzutreiben. Es geht heute nicht mehr um Differenz im Sinne der Dekonstruktion! Vielmehr geht es um Distanz im Sinne der Autonomie. Die neuen jungen bürgerlichen Gutmenschen haben im Prinzip nicht nur Recht, sondern sie haben doppelt Recht. Wir verändern die Gesellschaft nur dadurch, dass wir erstens uns ändern und zweitens mit uns unser Umfeld. Dass sie hierbei nur oder meist nur solidarisch mit sich selbst sind, ist erst einmal nicht zu kritisieren. Vielleicht ist es der Bekehrungseifer, der ein bisschen an Marie Antoinette erinnert. Wenn sie kein Brot haben sollen sie Kuchen essen. Aber auch hier sind wir bestimmt ungerecht. Wir können in der späten Postmoderne nicht mehr umfassend analysieren, warum etwas wie ist, aber wir können souverän unser eigenes Lebensumfeld gestalten und unseren Wünschen anpassen: Unkonditioniert, frei und illusionslos! Und spätestens hier trifft sich der Gibling aus Linz mit dem Postmaterialisten aus dem Prenzlauer Berg. Wir können versuchen, unsere eigene Integrität zu schützen und vor Konditionierungen und Kompromittierungen zu bewahren. Der Gibling ist Ausdruck dieser Integrität und dieses Wunsches nach Autonomie.