Memory is bunk

Magnus Klaue erläutert, warum Technologiekritik passé ist, seit soziale Netzwerke die Müllabfuhr der Erinnerung besorgen.

Zu den beliebtesten Sprachhülsen, in denen die Start-up-Denker der Kommunikationsgesellschaft die eigene geistige Leere feilbieten, gehört die Rede von den Standards. Wird irgendwo mit zweierlei Maß gemessen, herrschen »doppelte Standards«, im Namen der »Teilhabegerechtigkeit« werden »Mindeststandards« gefordert, und wo sich der inzwischen eingegangene Bürger noch auf Gesetze und Normen berief, pocht sein zivilgesellschaftlicher Wiedergänger darauf, dass dieses oder jenes »Standard« sei. Die Standardinflation verdankt sich keinem ominösen Sprachverfall, sondern reflektiert den Wahn einer Wirklichkeit, die zwar die fraglose Verbindlichkeit von Gesetzen und Normen nicht mehr kennt, deshalb aber nicht freier, sondern unfreier geworden ist. Der Standard ist die als Objektivität fetischisierte Willkür, mit der die als Individuen losgelassenen Unmündigen einander auf die Nerven gehen. Von Standards zu reden, heißt einzugestehen, dass Relativität und Tyrannei der Werte längt dasselbe und die gar nicht so eigenen Meinungen zum Panzer geworden sind, um sich gegen verbindliche Urteile zu wappnen.

Wer geistig erst einmal so weit abgebaut hat, dass er etwas anderes als Standards nicht denken kann, dem fällt es leicht, jedes triftige Urteil wiederum als der Allgemeinheit von Einzelnen aufgezwungene Norm zu diffamieren. Auf die Sache zielende Kritik erscheint dem Schematismus dieses Blicks, der die Wirklichkeit auf seiner Seite hat, dann als willkürliche Krittelei und jedes Argument als strategischer Schachzug, der nicht auf seinen Gehalt zu prüfen, sondern zu parieren ist. Dass solch agile Idiotie sogar sich selbst als Ideologiekritik und jede Kritik als Ideologie in Szene zu setzen vermag, wird von niemandem so anschaulich demonstriert wie von der Freiberuflerbande der Medientheoretiker, die Demagogen der falschen Vermittlung sind. Schon als er sein Ruf als Hort kritischen Denkens noch nicht offen verhöhnt hat, war der beliebteste Tummelplatz dieser Bande hierzulande der Suhrkamp-Verlag, besonders die Edition Suhrkamp. Dort ließ sich im durch mediokre Postmarxisten konformistisch gelüfteten Dunstkreis Adornos und Horkheimers auch die dreisteste intellektuelle Beleidigung veröffentlichen, solange sie auf dem neuesten Stand der Forschung war.

Heute, da die Edition Suhrkamp von der durch Spiegel Online geförderten Edition Unseld beerbt wurde, darf auch der neueste Stand der Forschung ignoriert werden, sofern man sich nur auf dem neuesten Stand der Verblödung befindet. Musste sich, wer die totale Kommunikationsgesellschaft gegen die Kritik der Kulturindustrie ins Recht setzen wollte, vor einigen Jahren noch die Mühe machen, einen auf Norbert Bolz getrimmten Benjamin gegen Adorno auszuspielen, genügt es heute, qua korrumpierter Sprache unter Beweis zu stellen, dass man mit der totalen Kommunikation bereits identisch ist. Denken, in dem sich unreglementierte Erfahrung und Anstrengung des Begriffs kristallisieren, wird dann wie von selbst zum Herumgedenke, das den mit dem kommunikativen Fortschritt organisch verwachsenen Geistespraktikern lästig fällt. Jeder Gedanke, der auf die Sache statt auf ihre Kommunikation zielt, verwandelt sich dem standardisierten Denken in eine »Standardsituation«, in das unzufriedene Gemecker von Kulturkritikern. »Standardsituationen der Technologiekritik« nennt das beliebte soziale Netzwerk Kathrin Passig denn auch seinen aktuellen holzmedialen Output, eine in der Edition Unseld erschienene Sammlung von Twitter-, Facebook-, E-Book-&-Co-Apologien, die zuerst im Merkur publiziert wurden und zeigen, dass auch diese »Zeitschrift für europäisches Denken«, in der immer wieder Texte erscheinen, die im mehr als nur geschwollenen Sinn als Essays gelten können, sich zur Komplizenschaft mit den Feinden jenes Geistes gezwungen sieht, als dessen Hüter sie sich begreift.

Wie jede zeitgemäße Propaganda sich als Subversion eines vermeintlich bornierten Common Sense gebärdet, so kokettiert auch Passig damit, wie deplatziert ihre medienprogressiven Texte im Merkur seien, nur um dummdreist zuzugeben, dass sie eben deshalb gut hineinpassen. Der fünfte ihrer sechs Artikel beginnt mächtig autotreferentiell mit der mutigen Thematisierung des Mediums: »Wenn dieser Text erscheint, wird man ihn zwar im Netz lesen, aber nicht kommentieren können. Sie können sich darüber bei mir beklagen, ich sage dann: ‚Das ist eben so beim Merkur, ich würde es auch gern ändern.’« Dann folgt das launig postmoderne Eingeständnis: »Das ist gelogen. Ich finde es insgeheim ganz gut so. Wenn jemand nach dem Grund fragt, gebe ich gern an, bei Printerzeugnissen stecke man in einer unangenehmen Übergangszeit. Es gebe zwar schon allerlei Feedbackkanäle, Gedrucktes sei aber nun mal schwer bis gar nicht zu korrigieren. Das berechtige den Autor quasi dazu, die Augen zuzukneifen, denn wenn ich schon nichts ändern kann, dann will ich auch keine Kritik hören. Aber auch das ist nur eine Ausrede. In Wirklichkeit will ich einfach keine Kritik hören, Punkt.«

In schlechteren Zeiten, als die Menschen sich angesichts der Selbstabdankung ihrer Gattung zeitweilig nicht sicher waren, was Fortschritt und was Barbarei ist, verfielen Eigenbrödler auf das Bild der Flaschenpost, um die Aporie eines Denkens zu beschreiben, das sich, gerade weil es nicht in sich selber kreisen, sondern die verstummten, in sich verkapselten Individuen ansprechen will, der Kommunikation verweigern und darauf verzichten muss, seinen potentiellen Adressaten leutselig plaudernd ans Bein zu pinkeln. Passig kennt solche Skrupel nicht. Bei ihr schwimmt jede Flaschenpost munter im eigenen Feedbackkanal, statt im weiten Meer verloren und mit zarter Hoffnung einer ungewissen Zukunft entgegenzutreiben. Dass Gedrucktes, das verbindlich Gedachtes ist, sich weder ändern noch korrigieren lässt und keines Kommentars bedarf, erscheint Passig anmaßend. Dass sie ihrer Leserschaft unter die Nase reibt, man möge sie mit Kritik verschonen, erscheint ihr superanarchisch. Ein Widerspruch ist das deshalb nicht, weil das standardisierte Denken sein Selbstbewusstsein aus der Gewissheit bezieht, dass es sowieso kein Wahr und Falsch und keine letzten Worte gibt. Eine Sprache, die auf Wahrheitserkenntnis zielt und sich deshalb der Kommunikationsgemeinschaft verweigert, empfindet Passig als Affront. Eine Sprache aber, die sich als durch applaudierende oder nörgelnde Kommentare, eifernde Korrekturen und anderes Feedback endlos transformierbares Material begreift und deren Komplement das zur totalen Selbsttransformation freudig bereite Menschenmaterial ist, findet sie okay, weshalb sie deren Agenten die Legitimation erteilt, den Kulturkritikern den Mund zu verbieten. »Das ‚Wenn’s Dir hier nicht passt, dann geh doch nach drüben’, das im staatsbürgerlichen und geopolitischen Raum nur sehr begrenzt funktioniert, ist im Netz ein praktikabler Vorschlag«, schreibt sie und verleiht der Denunziation, die in Foren und Blogs längst selbst zum Standard geworden ist, den Persilschein: »Und wenn es das gesuchte Drüben nicht gibt, dann kann man es immer noch gründen.« Verwirklichte Freiheit ist, wenn die vielfältig bornierten Meinungen konflikt- und versöhnungslos koexistieren und Einigkeit nur gegen den kulturkritischen Störenfried besteht, der diesen feindseligen Friedensschluss in Frage stellt.

Als »Kulturkritiker« firmieren bei Passig nicht nur verspätete Bildungsbürger, sondern alle, denen die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht passt. Fortschritt dagegen heißt für sie, die Einsicht, dass unter herrschenden Bedingungen Fortschritt einer zum Schlechten ist, erfolgreich zu verdrängen und sich jede Erinnerung an die vom Geschichtsprozess kassierte Möglichkeit des Besseren auszutreiben. Progressiv ist, wer vergisst, was doch nicht zu retten ist: Nach diesem Motto verabschiedet sie nicht nur die Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern auch das gedruckte Buch, das sie im Geiste Henry Fords, dessen kernige Innovationskraft sie gegen die blässlichen Verächter des Neuen ausspielt, auf den Müllhaufen der Geschichte befördert. Tatsächlich kann Passig den Müllhaufen so wenig wie Ford von der Geschichte unterscheiden. Weil sie weiß, dass die erfolgreichsten Verräter einer Sache die sind, die sich dazu bekennen, das Verratene selbst einmal geliebt zu haben, gesteht sie: »Ich war der beste Freund der Buchbranche. In meiner Kindheit herrschte Büchernot (…), aus pädagogischen Gründen durfte ich nicht mehr als 14 Bücher ausleihen. Später lieh ich nicht mehr gern, ich kaufte lieber, und ich kaufte viel. Wenn ich es mir leisten konnte, griff ich zur bibliophilen Ausgabe. (…) Ebenso wie die Buchbranche maß ich meine Einstellung zum Bücherlesen der Einfachheit halber am Kaufvolumen. Erst als ich eines der vielen virtuellen Bücherregale benutzte, in denen Leser notieren, was sie zu lesen gedenken, gerade lesen oder beendet haben, war das Auseinanderklaffen meines Kauf- und meines Leseverhaltens nicht mehr zu beschönigen: Ich las noch knapp drei Bücher im Monat zu Ende.«

Da Passig zwar ständig von sich selber spricht, damit jedoch niemals sich selber, sondern das automatische Mediensubjekt meint, als dessen Bauchrednerin sie fungiert, kommt sie auch nach dieser geistigen Bankrotterklärung nicht auf die Idee, sich zu fragen, welche Ursachen es haben mag, dass sie, als bester Branchenfreund, das Buch stets gehasst, geistige Erfahrung mit dem Kaufvolumen verwechselt, Lesen als »Verhalten« missverstanden hat und bis heute der allem geistigen Leben spottenden Überzeugung anhängt, der Wert einer Lektüre bemesse sich daran, ob ein Buch »zu Ende« gelesen wird. Vielmehr wirft sie es der sperrigen und zeitraubenden Buchkultur vor, dass deren »Darreichungsformen und –praktiken« ihrer eigenen Beschränktheit noch nicht völlig entsprechen, und ärgert sich darüber, dass all das nie Erfahrene, nie Begriffene nicht wenigstens spurlos verschwindet, sondern als mühsam zu entsorgender Papiermüll den eigenen I-Phones –Pads und –Pods den Platz wegnimmt: »Ist der Nimbus einmal dahin, bleiben einige Kubikmeter Zellulose zurück.« An den neuen Medientechnologien schätzt sie daher vor allem deren Fähigkeit zur zeitsparenden und restlosen Geistesschrottentsorgung und meint es nicht einmal negativ, wenn sie über ein »Angebot« im Internet schreibt: »Vor fünf Jahren hätte ich die Nachrichtenaggregationssite Reddit empfohlen – und es kurze Zeit später bereut. Was ich heute mit Gewinn lese, wird schon kurz nach Erscheinen des Beitrags seinen Nutzwert verlieren.«

Je schneller sich der Gegenstand des Interesses in Scheiße verwandelt, desto besser passt er zu einem Leben, das ganz und gar im Prozess des eigenen Selbstverschleißes aufgehen soll. Wer allen Ernstes »maximal zwei Gründe für den Kauf von Büchern« anzugeben weiß, nämlich den Wunsch nach »Unterhaltung« und »Information«, dem gelten »Bibliotheken, Schreibmaschinen, Verlage« und selbst »Fernsehen« nur mehr als Objekte eines »hinderlich gewordenen Wissens«, das der pragmatische Kommunikator so schnell wie möglich »ablegen« sollte. Das Ressentiment gegen die Zweckfreiheit aber, gegen die glücklich verschwendeten Stunden mit Büchern, deren Inhalt man längst vergessen hat, ja gegen das nie Gelesene selbst, das als nie Gelesenes Träger der Erinnerung ans Versäumte sein kann, verbindet Passig mit dem Schlechtesten jenes Bürgertums, als dessen Provokateur sie auftritt und zu dessen Wesen stets die Sehnsucht gehörte, sich endlich selbst loszuwerden. Indem sie die neuen Medientechnologien als Formen gelingender Selbstentledigung preist, versöhnt sie die zu Abfall der Geschichte gewordenen, jede Erinnerung an ihre verratenen Möglichkeiten wütend von sich weisenden Bürger mit ihrer eigenen Nichtigkeit.

Literatur

Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013, 100 Seiten, 12,40 Euro