Kämpferischer Chronist

Eine Biografie ruft die Pionierarbeiten des Historikers Joseph Wulf zum Nationalsozialismus in Erinnerung.

Bei manchen Autoren ist völlig unbegreiflich, wie sie über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten konnten. Der Auschwitzüberlebende und Historiker Joseph Wulf, der in Deutschland als erster die Ermordung der europäischen Juden ins Zentrum der Darstellung des Nationalsozialismus gerückt und die postnazistische Volksgemeinschaft mit der Shoah konfrontiert hat, ist so einer. Nach seinem Freitod 1974 und einer frühen Würdigung durch einen Dokumentarfilm von Henryk M. Broder aus dem Jahr 1977 kam er in Diskussionen über den Nationalsozialismus und die Aufarbeitung der
deutschen Verbrechen kaum noch vor.

Erst Nicolas Berg hatte ihn mit seiner Studie »Der Holocaust und die westdeutschen Historiker« 2004 wieder in Erinnerung gerufen. Zu Wulfs 100. Geburtstag ist nun Ende letzten Jahres eine umfassende, akribisch recherchierte Biografie des Heidelberger Historikers Klaus Kempter erschienen.

Der in Krakau aufgewachsene Wulf gehörte während des Zweiten Weltkriegs zu einer jüdischen Widerstandsgruppe in Polen. Bereits 1945 begann er gemeinsam mit anderen Überlebenden, Dokumente über die deutsche Besatzung zu publizieren. 1955 veröffentlichte er zusammen mit Léon Poliakov die Dokumentensammlung »Das Dritte Reich und die Juden«. Bald darauf folgten »Das Dritte Reich und seine Diener«, »Das Dritte Reich und seine Denker« und zahlreiche weitere Studien. Gegen die strukturalistischen und funktionalistischen Verharmlosungen des Nationalsozialismus sprach Wulf von individueller Täterschaft und persönlicher Verantwortung. Bereits Mitte der fünfziger Jahre räumte Wulf mit dem Mythos von der »sauberen Wehrmacht« auf – 40 Jahre vor der Wehrmachtsausstellung, bei der plötzlich alle so taten, als würde dort bahnbrechend Neues über die deutsch-österreichischen Vernichtungskrieger präsentiert. Gemeinsam mit Poliakov stellte er die Rolle des Auswärtigen Amtes während des Nationalsozialismus dar – Jahrzehnte vor jener von Joschka Fischer mitinitiierten Studie über die deutschen Nazi-Diplomaten, um die 2010, nachdem die meisten von ihnen nicht mehr am Leben waren, ein großes Tamtam gemacht wurde.

Zu Recht verweist Kempter darauf, dass Wulfs Leben und Werk als »ein Seismograf der Entwicklung vergangenheitspolitischen Denkens und Argumentierens« in Deutschland gesehen werden kann. Jenen nicht-jüdischen Historikern, welche die Debatten lange dominierten, galt Wulf stets als verdächtig, allein schon, weil er als Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik »befangen« sei. Während der etablierten Geschichtswissenschaft ein völlig falsch verstandenes wissenschaftliches Objektivitätsgebot lange Zeit zur Schuld- und Erinnerungsabwehr und zur Empathieverweigerung diente, schrieb Wulf seine Werke ausgehend von seinen Erfahrungen mit der deutschen Vernichtungsmaschinerie und nahm die Volksgemeinschaft als Ganzes ins Visier.

Es zählt zu den Verdiensten der ausgesprochen gewissenhaft gearbeiteten Studie von Kempter, Wulfs stets öffentlich proklamierte Solidarität mit Israel, die auch von jenen NS-Forschern gerne unter den Tisch gefallen gelassen wird, die sich mittlerweile positiv auf ihn beziehen oder zumindest seine Pionierarbeit zu würdigen wissen, ausführlich darzustellen. In einem Brief kündigte Wulf 1970 Jean Améry seinen Plan zu einer Dokumentation über den Zionismus an. Sie solle »speziell den Angehörigen der ‚Neuen Linken’, die in ihrer Ignoranz über Zionismus als Neo-Kolonialismus, Faschismus u. dgl. sprechen, (hoffentlich) Anlass zum Nachdenken und Studium geben«. Nachdem die Bundesregierung unter Willy Brandt während des Jom Kippur-Krieges 1973, als Israel mit dem Rücken zur Wand stand, US-amerikanische Waffenlieferungen über Deutschland an die israelische Armee untersagte, notierte Wulf verbittert, der Bundeskanzler habe mit dem Kotau vor den arabischen Staaten seinen Kniefall von Warschau »annulliert«. Israel sei nunmehr »beinahe so einsam« wie die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus.

Der wissenschaftliche Autodidakt blieb zeitlebens ein antiakademischer Forscher im besten Sinne, der, wie er seinem Mitstreiter Poliakov schrieb, nicht »lediglich für Archive« publizieren wollte, sondern für »lebendige Menschen«. In finanziell prekärer Lage und trotz eines bewundernswerten Kampfgeistes reichlich resigniert, nahm sich Wulf, der bis zuletzt ein Außenseiter ohne dauerhafte institutionelle Anbindung blieb, 1974 in Berlin das Leben. An seinen Sohn David schrieb er: »Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«

Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland. (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 18). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 422 Seiten, 65,- Euro