Mythos Medienkunst: Kultur frisst Kunst

Die Bezeichnung Medienkunst nimmt in der Unterscheidung zu Bildende Kunst Distinktivität und semantisches Profil in Anspruch. Und bringt damit plakativ die Konsequenzen des modernen Kulturbegriffs zum Ausdruck. Ein Erkundungsgang von F.E. Rakuschan.

Was auf den ersten Blick für Künstler_innen bedrohlich wirken könnte, kommt in der Kurzform des Titels als verdeckte Paradoxie daher. Aber weil sich Kunst aus Kunst reproduziert, also nicht Kultur ist, ohne Kultur aber auch nicht sein kann, rücken wir Kultur frisst Kunst als eine auch offene Paradoxie in unseren Blick. Der quasi verschlungenen Wegstrecke zwischen verdeckt und offen wollen wir in der Folge nachgehen. Nicht ohne währenddessen an Art of the Electronic Age (Popper 1993) zu denken.

Modern heißt heute uralt. Und so markiert das Aufkommen des modernen Kulturbegriffs zugleich den Abschluss der Anfangsentwicklungen der Weltgesellschaft. Von »Modern World-System« kann gesprochen werden, seitdem der Handel nicht mehr allein nach zufälligen Differenzen abgelaufen ist, sondern Arbeitsteilung induzierte und mithin strukturelle Veränderungen in den beteiligten Gesellschaften bewirkte. Empirisch lässt sich das erstmals im sogenannten langen 16. Jahrhundert (1450-1640) nachweisen (Wallerstein 1974). Ein prominenter Einwand richtet sich gegen die definitorische Reduktion auf Ökonomie und lautet: »Die Weltgesellschaft beginnt in dem Augenblick, in dem eines der Gesellschaftssysteme nicht mehr akzeptiert, dass es neben ihm noch andere Gesellschaftssysteme gibt und dieses Gesellschaftssystem zusätzlich über die Instrumente und Ressourcen verfügt, diese Nichtakzeptation in strukturelle Realität umzuformen« (Stichweh 2000, 249). Dass die Realisierung einer europäisch-atlantischen Gesellschaft in der Epoche der Aufklärung und des Humanismus italienischer Prägung in der Renaissance für Ethnien jenseits des Atlantiks den Genozid bedeutet hat, daran soll immer wieder erinnert werden. Wie ebenso, dass der Sklavenhandel als Teil eines Dreiecksgeschäfts die totalitäre Form der Ausbeutung darstellt (Paczensky 1979). Als systematische Gewinnmaschine ist dieses Dreiecksgeschäft das Fundament des Welthandels. Der Triumph des Kapitalismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts besiegelte diese Entwicklung mit Folgen bis heute. In diesem Zusammenhang muss aber auch daran erinnert werden, dass Kommunikation als Beschleunigungsfaktor zwischen bis dahin getrennten Gesellschaften in die Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Funktionssystemen eingegriffen hat; Buchdruck als kommunikationstechnische Erfindung seit zirka 1445, die Buchkultur n.a. ein relevanter Faktor sozialer Umbrüche (Giesecke 1991) und perfektionierte Verkehrstechniken (Schifffahrt) mitsamt den damit verbundenen Vernetzungsmöglichkeiten. Im Kommunikationssystem Gesellschaft kommt den Kommunikations- bzw. Verbreitungsmedien quasi zwingend ein besonderer Stellenwert zu. Sie schaffen den jeweils relevanten Einheiten – den Interaktions- und Organisationssystemen, sowie den sozialen Systemen – über die Jahrhunderte immer bessere Bedingungen, um einander mit steigender Tendenz zu beobachten, »darin gestützt durch die Möglichkeiten der Verbreitung von Kommunikation« (Stichweh 2000, 255). Das alles nicht ohne den basalen Aggregaten der Kommunikation, den »symbolisch generalisierten Medien« (Parsons 1961; Luhmann 1997, 316-396), wie Macht, Geld, Wahrheit, Liebe usw.. Oder mit Bourdieu ausgedrückt: »Die Auseinandersetzungen um die Aneignung der ökonomischen und kulturellen Güter stellen zugleich symbolische Auseinandersetzungen um jene Distinktionsmerkmale dar, die den wertvollen und Wert verleihenden Gütern und Praktiken innewohnen, wie auch um die Bewahrung oder Vernichtung der Prinzipien, nach denen diese Merkmale distinguieren« (Bourdieu 1982, 388).

Schon an dieser Stelle müssen wir festhalten, dass zwar alles irgendwie mit allem zusammenhängt, wir Übersicht aber nicht dadurch gewinnen können, indem wir im Netz der multiplen Kausalitäten nach ausschlaggebenden Ursachen für individualhistorische Entwicklungen suchen. Auch die Forschung lässt sich in keinem Fall von ihrem Material trennen, das komplex und selbstreferentiell wie sie selber ist. Wissenschaftliche Forschung, verstanden als Beobachtung zweiter oder dritter Ordnung im funktionsspezifischen Schema von Code, Programm, Medium und Funktion, mag bei einer Forschungsunternehmung (Beobachtungsrichtung) noch so viele blinde Flecken anderer Beobachter tilgen, letztendlich kann aber auch sie nur wie die anderen mit Hilfe der Voraussetzung ihrer blinden Flecken Beobachter beim Beobachten beobachten. Einsichten dieser Art haben die »großen Erzählungen von der Geschichte« (Lyotard) tiefgreifend erschüttert und weithin obsolet gemacht. Was nicht schon heißt, dass tradierte Ideologien, sehr einfach gebaute soziologische Theorien wie Klassen- oder Elitentheorien heute völlig verschwunden wären. Schon Mitte der 80er-Jahre sagte Lyotard in einem Interview, dass der Rückfall »von verschiedensten Seiten kommen (kann), von der klassischen Rechten, von der extremen Rechten, aber auch von der Linken. Aber wenn das alles auch möglich bleibt, scheint es mir doch, dass die allgemeinen Auffassungen der Gesellschaft die Idee... einer Universalgeschichte, all dessen, was ein Modell möglicher Vorhersehbarkeit impliziert, aufgegeben haben« (Lyotard 1985, 117). Nach Ausdifferenzierungsstand des heutigen Wissens und Nichtwissens lässt sich die prinzipiell unfassbare Komplexität der Gesellschaft sowohl als Chaos wie auch als Ordnung deuten und ist irreversibel nicht mehr auf einfache, lineare, asymmetrische Formmodelle zu reduzieren. Dennoch müssen wir akzeptieren, dass die Selbstbeobachtung einer Gesellschaft auf Engführungen angewiesen ist. Entlang dieser Einsicht wird man fragen müssen, woher eine Gesellschaft die Themen ihrer Selbstsimplifikation bezieht.

Jede Form von Herrschaft ist historisch obsolet und dysfunktional

Erst einmal volle Wertschätzung für die Protagonisten des Cultural Turn: Michel Foucault (Auflösung des klassischen Modells des Subjekts und die Folgen); Pierre Bourdieu (einem kampfanalytischen, konflikttheoretischen Paradigma verpflichtet, mit Distanzierung zu Sartre und Lévi-Strauss; vgl. Bourdieu 1987); Judith Butler (reformuliert die Sprechakttheorie von John L. Austin mit Louis Althusser und Jacques Derrida, und integriert den Habitus-Begriff von Bourdieu in ihr Modell einer Performativität als eine mehr oder weniger unbewusste Zitatpraxis, die durch Zwang und Kontrolle aufrechterhalten wird; vgl. Butler 1995). Um nur einige praxeologische Kulturtheorien zu nennen, die durch ihre extreme Kulturalisierung von Körper und Psyche, sowie Materialisierung des Kulturell-Symbolischen charakterisiert sind. Sie sind die quasi eine Seite der Theorieoptionen. Weil wir aber der immer wieder behaupteten Unübersichtlichkeit begegnen wollen, nehmen wir eine Theorie der differenzgesteuerten Kausalität, oder auch Kontingenzkausalität (Luhmann 1975, 150-169) in Anspruch, die Konstruktivismus mit der Systemtheorie verbindet. Mit der Konsequenz daraus, dass das in den Kulturtheorien schlichtweg alles kulturalisierende Modell durch eine radikale Logik der Separierung ersetzt wird. Dadurch wird das Material der Analyse zu kategorial und operational sich voneinander unterscheidenden, also differenten Operationssequenzen, die für einander Umwelt sind und sich jeweils »autopoietisch« (Maturana/ Varela 1980) und selbstreferentiell reproduzieren: soziale Systeme, psychische Systeme, organische und auch technische Systeme. Systemgrenzen markieren immer auch Sinndifferenzen, und die Unterscheidung (Einheit der Differenz) ist die zentrale Operation von Systemen. Das basale Element von Sozialität, das alles antreibt und am Laufen hält, ist die in der Zeit emergierende Kommunikation als permanente Selektion aus einem Raum von Möglichkeiten. Diese Selektionen werden aber nicht Subjekten zugeschrieben, sondern der kommunikativen Eigendynamik. Weil Niklas Luhmann die Kommunikation als extramentale und extrakorporale Sequenz definiert und sich mithin auch gegen den Intersubjektivismus der klassischen Handlungstheorien abgrenzt, stellt die soziologische Systemtheorie in der Sicht der Tradition der klassischen Soziologie eine humanistische Kränkung dar. Und was heute längst außer Streit steht, so es um wissenschaftlichen Anspruch geht, enthält sie sich zudem auch noch jedweder Beurteilung nach moralphilosophischen Kriterien.

Aber auch Jürgen Habermas musste schon Mitte der 80er Jahre einbekennen, dass sowohl die »geschichtsphilosophische Gewissheit« als auch das »revolutionäre Selbstvertrauen« dahin sind (Habermas 1984, 479-480). Und ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen Positionen, war er es, der Luhmann in die linke Szene Deutschlands eingeführt hat. »Mit der Zeit wurde klar, das Luhmanns Theorie einem bestimmten ‘linken’ Selbstverständnis eher entspricht als jene von Habermas. Anders als dessen Theorie, mit ihrer Utopie der Herrschaftsfreiheit, erklärt die Theorie der funktionalen Differenzierung jegliche Form von Herrschaft – sei es die einer Kapitalistenklasse oder die des Patriarchats – für historisch obsolet, für dysfunktional. Zu dieser Einschätzung passt die komplementäre Beobachtung, dass Luhmanns Theorie bei den Konservativen nie besonders attraktiv war« (Burkart 2004, 14). Gemessen an den globalen Fakten, ist die vollends funktional differenzierte Weltgesellschaft allerdings auch eine Utopie. »Viel Streit in und über die Systemtheorie resultiert aus unterschiedlichen Wissenschaftskulturen, die erst neuerdings, angeregt durch die naturwissenschaftliche Rezeption der Systemtheorie und durch die Unbekümmertheit, mit der die computergestützten Wissenschaften des Artificial Life mit jahrhundertealten Distinktionen zwischen Seele und Körper, Geist und Materie, Wort und Sache umgehen, wieder einer gewissen Konvergenz Raum geben« (Baecker 2002, 102). »Die Realität komplexer Systeme legt eine andere Form des Pluralismus nahe« (Mitchell 2008, 138). Und auch: »Die Philosophie muss sich mit Vorstellungen davon, was als Ursache zählt und welcher Logik man bei kausalen Schlüssen folgt, auf die neuen Entwicklungen der Komplexitätsforschung einstellen« (Mitchell 2008, 107).

Also wie weiter? Sicher kein Weiterkommen ohne den Begriff Kontingenz (der Aristoteles zugeschrieben wird). Der Definition nach bedeutet kontingent, weder notwendig noch unmöglich. Der Begriff wird demnach durch Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit gewonnen. Ein Begriff wird hier durch zwei Negationen konstituiert (weder notwendig noch unmöglich), die dann im weiteren Einsatz des Begriffs als Einheit behandelt werden; also Kontingenz als Einheit der Differenz Möglichkeit/Selektion. Damit verstehen wir schon etwas besser, was den modernen Kulturbegriff ausmacht. Einer historisch-semantischen Analyse folgend, ist der moderne Kulturbegriff eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass die vormalige Norm von schichtenspezifisch verbindlichen Symbolen und Werten schubweise durch Unterscheidungen und damit Operationen des Vergleichens aufgelöst wurde. Mit dieser Tendenz wurde Bildung und Wissen offensiv öffentlich dargestellt und so mithin als Kultur sichtbar gemacht. Der moderne Kulturbegriff impliziert eine vergleichende und unterscheidende Beobachtung, eine Beobachtung zweiter Ordnung (Luhmann 1997, 93 usw.), die sich schließlich in allen gesellschaftlichen Bereichen durchsetzte. Die von der Beobachtung zweiter Ordnung vollzogene Verdoppelung von Artefakten, Texten usw. zog eine Kontingentisierung aller Gegebenheiten nach sich. Mit der Folge, dass es nichts mehr gibt, das neben dem Gebrauchssinn nicht auch mit einem Kultur- und Symbolsinn ausgestattet ist. Damit kann das selbe Bezugsobjekt für jeden jeweils auch etwas anderes sein und evoziert Fragen wie: Anderes für wen? Was beinhaltet es, dass es für andere anders ist? Begriffe, die eine Form der Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit bezeichnen wollen, wie Originalität, Authentizität oder Identität, verlieren an Überzeugungskraft bzw. werden im Diskurs problematisiert. Kurzum, mit der Beobachtung zweiter Ordnung wird alles kontingent, weil damit das, was beobachtet wird, davon abhängt, wer beobachtet wird (Parsons 1951; Luhmann 1976). Der moderne Kulturbegriff veränderte auch die Bedingungen für die Kunst. Er diskreditiert das unmittelbare Genießen ebenso wie das Gefühl für Authentizität, womit die Kunst zu Kunst als Kultur wird. Was zugleich heißt, dass einer Kunst ohne Beobachtung zweiter Ordnung für immer der quasi Boden entzogen wurde. (Eine Konsequenz, der auch die Religion nicht entkommen konnte: Religion als Kultur.)

Next Society: Diversität statt Monotonie

Ehest psychoanalytisch lässt sich klären, warum die Kompensation des »Schocks der Moderne« (Walter Benjamin) in der Feier der Kultur ihren Ausdruck fand. Also Kultur im Verständnis einer Wertsphäre der besonderen Art, was bei aller nicht mehr umkehrbaren postmodernen Ironie auch heute noch zelebriert wird. Mit gegenseitiger Abgrenzung, auch mit der Anerkennung des Andersseins im Sinne von Toleranz, hat jeder Kultur. Die Vergleiche und Unterscheidungen als Kultur bleiben allerdings sehr vage. Wie auch die Debatten um Multikulti, Integration und Interkultur zeigen. Die Behauptung eines »Deutsch-/Österreichseins« mit Hinweis auf Kultur seitens der autochthonen Bevölkerung mutet heute mehr als befremdlich an. Noch vielmehr im aktuellen Kontext des Übergangs der modernen kapitalistischen Ökonomie zu einer wissensbasierten Produktionsform (nicht ohne damit schon Kapitalismus abgeschafft zu haben), in der Kommunikationsmedien neue Formen und Niveaus der Verdichtung von Verstehen ermöglichen. Aber fraglos hat die Gesellschaft erst noch zu lernen, wie sie mit dem Computer und den neuen Umwelten angemessen umgehen soll. Evident ist aber schon heute, dass soziale Ordnung nicht durch Einheit, sondern nur durch Diversität ein prospektives Modell für die »next society« (Drucker 2001) sein kann.

Elena Esposito vertritt die Ansicht, dass der Begriff der Kultur aus einer unvollkommenen Realisierung der Beobachtung zweiter Ordnung resultiert, die Kontingenz und Andersartigkeit zwar registriert, nicht aber bis zur Autologie radikalisiert (Esposito 2002). »Die Beschreibung vollzieht das Beschriebene. Sie muss also im Vollzug der Beschreibung sich selber mitbeschreiben« (Luhmann 1997, 16). Autologie bedeutet, dass der Beobachter in sein Beobachtungsfeld wieder eintritt (vgl. Spencer Brown 1972). Diesen Schritt hat die Semantik der Kultur nicht gemacht, sie kann sich selbst nicht als Ergebnis von Kultur reflektieren. Der Kulturbegriff greift zwar ordnend in die Kontingenz ein, was auch Einschränkung von Beliebigkeit bedeutet, aber die Selbstbeschreibung ist (im Unterschied zu Funktionssystemen) keine Voraussetzung der Operationen. Kultur als differenzloser Begriff ohne Radikalisierung der Kontingenz hat keinen ‘Ort’, an dem mittels eigenen Codes und Programmen Selbstbeschreibungen hergestellt werden können. Das leisten nur soziale Funktionssysteme (selbstreferentielle, -organisierende, -reproduzierende, also ko-evolutionär sich formierende System/Umwelt-Zusammenhänge in stabiler Unruhe und im dynamischen Gleichgewicht) der Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft, Erziehung, Recht, Wissenschaft usw., mit ihren je eigenen Wertpräferenzen.

So wie keines der Funktionssysteme die Gesellschaft in der modernen (Welt-)Gesellschaft repräsentieren kann, so auch keine Organisation das System im jeweiligen Funktionssystem. In der modernen Gesellschaft gibt es keine Hierarchie im Verhältnis von Funktionssystemen zueinander. Die Entfaltung der Eigendynamik der Organisationen im Netzwerk wird in den Verfahrensprozessen der Beobachtung zweiter Ordnung im jeweiligen Funktionssystem unter den Bedingungen laufender Reaktualisierung quasi aufgefangen. Etwa in Form von Markt (aller Arten), über die so genannte öffentliche Meinung (Print-, TV-Medien, Internet), funktionsspezifische (bspw. wissenschaftliche) Publikationen usw.. Schon die Organisationen in der Moderne sind ihrem Selbstverständnis nach weniger Institution und vom Anspruch an Autorität getragen, sondern vorrangig vom Kalkül der Entry- und Exit-Optionen in und aus Märkten angeleitet. Die strukturelle Diskrepanz zeigt sich historisch-empirisch im Sachverhalt, dass die moderne Gesellschaft einerseits mehr als je zuvor auf Organisation angewiesen ist, andererseits aber unter ihren Bedingungen einer stabilen Unruhe und eines dynamischen Gleichgewichts in ihrer Einheit oder in ihren Teilsystemen nicht als Organisation begriffen werden kann. Aus der Perspektive der Aktanten kommen politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, religiöse und künstlerische Kalküle ins Spiel, »die in nichts anderem verankert sind als in der selbstreferentiellen Frage danach, inwieweit nach jeder politischen Entscheidung, jeder Investition, jeder Hypothese, jedem Gebet, jedem Kunstwerk auch weiterhin Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst möglich sein werden« (Baecker 2007, 16). Ob das jeweilige Kalkül zu einem Erfolg oder Misserfolg führt, stellt sich immer erst im Nachhinein heraus, wie aktuelle Ereignisse im globalen Ausmaß zeigen. Und die Anzeichen werden immer deutlicher, dass ebenso wie »die Umpolung des modernen Denkens von vorgefundenen Wesensunterschieden auf Differenzierung eine semantische Innovation gewesen ist, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts an Resonanz gewinnt« (Luhmann 1997, 1145), Vergleichbares die computergestützten Formen des Beobachtens und Beschreibens in der Next Society leisten werden. Ihre Kultur- und entsprechende Strukturform (Luhmann 1997, 405 ff.; Baecker 2007, 10 ff.), die den selektiven Umgang von Überschusssinn in der nächsten Weltgesellschaft reguliert, wird aber noch viele Jahrzehnte an Findungsprozessen benötigen.

Spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts, nach einer längeren Phase der Umstellung auf Beobachtung zweiter Ordnung, kommt es auch im Kunstsystem zu einer operationalen Schließung. Damit hatten Außenvergleiche wie Wiedergabe von etwas außerhalb der Kunst in der sowohl herstellenden wie auch betrachtenden Beobachtung an Bedeutung verloren. An ihre Stelle traten der Nachvollzug interner (systemeigener) Unterscheidungen mit einer Ausweitung der Medium/Form-Relation. Der Begriff Medium ist als eine Menge nur lose gekoppelter Elemente zu verstehen, die für Formenbildung zur Verfügung stehen. Und Form ist, anders als in der klassischen Formtheorie, nicht eine statische Gestalt, sondern das Differenzpaar Medium/Form, das in ihrem zirkulären Verhältnis eine evoluierende Eigendynamik entfaltet (Luhmann 1986; Krämer 1998). Mit der (soziokulturell-evolutionär formierten) operativen Schließung des Kunstsystems gilt als Autonomie primär seine Selbstlimitierung. Sämtliche Funktionssysteme sind in dem Sinne autonom, indem sie selber bestimmen, was für sie relevant ist und was nicht. Mit Berücksichtigung der Ermöglichung von Formenbeobach-tung folgen alle Kunstsparten dem Prinzip des Einbaus von Medien in Medien, um damit neue Möglichkeiten strikter Kopplung zu gewinnen (Luhmann 1986, 6-15). Das bedeutet zugleich, alles von Außerhalb des Kunstsystems Kommende wird als interne Referenzen eingebaut und nach eigenen Kriterien verwendet. Egal womit Kunstanspruch gestellt wird, es kann nur im Kunstsystem zu Kunst werden. Denn außerhalb der Kunst gibt es keine Kunst.

EPU oder Survivor of the Dead in der Polit-Kultur

So wie die Wissenschaft für die Popularisierung ihres Wissens die Massenmedien benötigt, so auch die Kunst. Die Massenmedien nehmen quasi die ausgezeichneten Beobachtungsplätze in der Gesellschaft ein und schaffen Bedingungen für eine ins Extrem getriebene Beobachtung zweiter Ordnung. Als Funktionssystem befriedigen die Massenmedien den Bedarf nach Information und Unterhaltung nach dem Code Information/Nicht-Information und dem Programm Mitteilungen. Ungeachtet welchen anderen Funktionssystemen oder ihren je eigenen Kulturen entnommen, hier werden alle Themen funktionsspezifisch operationalisiert, ohne (wie jedes Funktionssystem für sich) eine konsenspflichtige Realität schaffen zu müssen. Die Massenmedien machen aus allem Kultur (mit dem oben beschriebenen Defizit), sind aber gerade deswegen als Produzent von gesellschaftlicher Semantik führend. Kultur heißt damit auch semantischer Themenvorrat einer Gesellschaft, der die Kommunikation strukturiert und mithin für ihre Anschlussfähigkeit sorgt. Fallweise kann das den »take off einer besonderen Ideenevolution« (Luhmann 1980, 19) ermöglichen, was als soziokulturelle Evolution bezeichnet wird. Entgegen mancherorts weit verbreiteter Meinung, gibt es in der modernen Gesellschaft kein semantisch-kulturelles Zentrum, keine für alle verbindliche Leitideologie, keine herrschende Kultur und schon gar nicht ein übergreifendes Kultursystem. Und auch wenn aus der je eigenen Beobachterposition vorgegeben wird, das Ganze zu repräsentieren, hat jedes soziale Funktionssystem seine eigene Kultur.
Letzteres ist relevant, wenn von Kultur als einem Gedächtnis der Gesellschaft gesprochen wird. Wenig ergiebig hat sich diese Bezeichnung in der Verbindung etwa mit der kulturwissenschaftlichen, neueren Gedächtnisforschung erwiesen, die wegen ihrem Festhalten am Speicherbegriff zu Recht kritisiert wird (vgl. Luhmann 1997, 578). Denn Gedächtnis ist die Art und Weise, in der Bedeutungen verfestigt, »in Semantiken Identitäten rekursiv kondensiert werden« (Esposito 2002, 24). Gedächtnis ist in diesem Verständnis eine Operation des psychischen Systems und im Falle sozialer Systeme eine Kommunikation, die als solche immer nur in der Gegenwart, also mit der kommunikativen Aktualisierung des Erinnerten, möglich ist. Kultur ist demnach nicht Bibliothek oder Museum und auch kein Tiefenspeicher für Symbole. Kultur hat ganz entgegen befremdlichen Wünschen weder Integrations-, Legitimations- noch Sinnstiftungsfunktion. Kultur als Gedächtnis der Gesellschaft ist, Heinz von Foerster folgend, »der Filter von Vergessen/Erinnern und die Inanspruchnahme von Vergangenheit zur Bestimmung des Variationsrahmens der Zukunft« (Luhmann 1997, 588). Gedächtnis der Gesellschaft kann auch nicht mit gespeicherten Daten als mögliche Informationen im Internet gleichgesetzt werden. Eine Maschine kann, weil ohne Gedächtnis, weder vergessen noch erinnern. Nur ein kognitives System kann sich mittels der Organisation Gedächtnis einen Zugang zu Information verschaffen (Esposito 2002, 24).

Das Aufkommen der Medienkunst ist untrennbar mit dem Neoavantgardismus nach dem zweiten Weltkrieg verbunden. Und wenn wir dazu Fluxus nennen, ist das schon ein Hinweis dafür, dass ihre Protagonisten und Propagandisten, durchaus in Übereinstimmung mit dem damaligen Zeitgeist, immer schon mehr wollten als bloß Kunst zu machen; in Europa war das die Situationistische Internationale (Ohrt 1990). Einer Mehrheit von Fluxusmitgliedern, die eher die Linie von Duchamp vertrat, bzw. sich an diesem kritisch abarbeitete, stand einer dezidiert marxistischen Fraktion gegenüber. In dem bekannten Brief vom 1. Februar 1964 an Fluxus-Mitglied Tomas Schmit schreibt ein Vertreter dieser Fraktion, George Maciunas, dass die Ziele von Fluxus soziale und nicht ästhetische seien. Ganz nach dem Vorbild der LEF-Gruppe (Linke Front der Künste in der Sowjetunion der 20er-Jahre), plädiert er dafür, dass die Künstler ihre Fähigkeiten »auf sozial konstruktive Ziele zu richten« hätten. Etwa im Bereich der angewandten Künste, wie »industrielles Design, Journalismus, Architektur, Ingenieurwissenschaft, grafisch-typografische Künste« usw., »die alle den schönen Künsten nahe verwandte Bereiche sind und dem schönen Künstler beste Berufswechselmöglichkeiten bieten« (Maciunas 1965, 36). Was uns daran heute so vertraut ist, war allerdings damals – und völlig im Einklang mit den sozialen Bewegungen der Zeit – an die Forderung geknüpft, den Umbau der »kapitalistischen Gesellschaft« gleichsam von innen her in eine sozialistische bzw. radikaldemokratische voranzutreiben.

Während noch Anfang der 1990er-Jahre über ein angemessenes Rolemodel für die Künstler der Medienkunst diskutiert wurde, entwarf der Zukunftsforscher John Naisbitt schon einen Ausblick auf das, was sich inzwischen in die Alltagssemantik als Creative Industries integriert hat. Naisbitt ließ mit der Ankündigung aufhorchen, dass alles »kulturisiert« wird und künftig mehr hartes Geld in den »geistig-ästhetischen Sektor« fließen wird (Naisbitt 1990). Und was einige Jahre in linken Kreisen als neoliberale Konstruktion gegeißelt wurde, ist heute nicht nur seitens der Wirtschaft ein Hoffnungspotential für die Zukunft. Auch die Politik zeigt reges Interesse an den Entrepreneurs bzw. EPUs (Ein-Personen-Unternehmen) der Kreativwirtschaft als Ideenspender, wenn auch bislang ohne Anzeichen dafür, die Debatten etwa um das Internet zu ihrer Agenda machen zu wollen. So erfrischend unbekümmert nur zwei Jahrzehnte zurückliegende medientheoretische Texte auch sein mögen und ich auch im betreffenden Fall zu keinem uneingeschränkten Zuspruch kommen kann, lesen sich bspw. die Reflexionen von Peter Zec im Rückblick geradezu prophetisch. Er spricht von einem »Medienwerk«, das »weder ein Original sein kann, noch durch ein Urheberrecht oder Copyright wirksam zu schützen ist.« Hat der Künstler »diesen Schritt einmal vollzogen«, so gibt es »bereits keinen Rückzug in die traditionellen Bereiche der Kunst mehr« (Zec 1991, 111). »Der einzige Ausweg, der ihm also bleibt, ist der auf den öffentlichen Markt der Ideen und Produkte, wo er sich gegen nicht künstlerische, industrielle und technokratische Konkurrenz behaupten muss« (Zec 1991, 112). Und um die Absage an das Kunstsystem noch mehr zu verdeutlichen: »Heutzutage sind nicht Video oder Computer die Terra incognita ... Das ‘Wunder’, vor dem wir heute stehen, ist ... der dematerialisierte Raum der elektronischen Gemeinschaft, innerhalb dessen wir uns mit Lichtgeschwindigkeit bewegen« (Youngblood 1991, 318). Fehlt nur noch das Amen. Zudem drängt sich die Vermutung auf, dass dieses Statement eine substanzialistische Auffassung des absoluten Raums zur Voraussetzung hat.

Wie Begriffe von »Ubiquitous Computing« (Mark Weiser, Palo Alto 1988) bis »Pervasive Computing« ausdrücken, ist der Computer längst in allen Bereichen der Gesellschaft integriert. Auch in der bildenden Kunst, implizit und explizit. Video besonders im Genre des sogenannten Biennaleismus, wo es vorrangig um Identität im Zusammenhang von Körper-, Gender- ,Biopolitik und kulturelle Differenz geht; typisch für die zahlreichen Biennalen etwa in Istanbul, Moskau oder Shanghai. In Ländern mit aktuell aufstrebenden Volkswirtschaften gibt es auch noch ein begeistertes Publikum für Medienkunst bzw. für Kunst als (westliche) Kultur. Die aussichtsreichste Kandidatin für ihre Nachfolge ist die BioArt, mit Referenzen wie Orlan und Stellarc. Ganz wie für die MediaArt, wird es auch für die BioArt die Phase eines Hypes geben. Danach wird auch sie in das kondensieren, was man Kultur nennt.

Date: Tue, May 18 2010 5:04:54
CALL FOR APPLICATIONS

The Interface Culture Lab at the University of Art and Industrial Design in Linz/Austria was founded in 2004 by Christa Sommerer and Laurent Mignonneau, and provides an internationally oriented master program in Interactive Media Arts. The two-year program, which is entirely organized in English language, is open to prospective students with multidisciplinary backgrounds integrating art, design, science and technology...
www.ufg.ac.at/interface_cultures

Date: Tue, May 18 2010 16:54:15
Zitat von »ISEA 2010 RUHR Gesa Barthold«

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Theis,
sehr geehrter Herr Rakuschan,
in diesem Jahr kommt die ISEA, International Symposium on Electronic Art, erstmals nach Deutschland und präsentiert vom 20. bis 29. August 2010 in der Region Ruhr aktuelle Entwicklungen der Medienkunst...
www.ruhr2010.de/starkeorte

Literatur

Baecker, Dirk (2002): Die Theorieform des Systems, in, ders., Wozu Systeme?, Berlin.
C. (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/M.
Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.
C. (1987): Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.
Burkart, Günter (2004): Niklas Luhmann: Ein Theoretiker der Kultur?, in, Luhmann und die Kulturtheorie, hrsg. von Günter Burkart und Gunter Runkel, Frankfurt/M.
Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin; Orig., Bodies That Matter: On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London 1993.
Drucker, Peter F. (2001): The Next Society: A Survey of the Near Future, The Economist, Nov. 3rd, 2001; wiederabgedruckt in, ders., Managing in the Next Society, New York, S. 233-299.
Esposito, Elena (2002): Soziales Vergessen: Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt/M.
Giesecke, Michael (1991): Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Frankfurt/M.
Habermas, Jürgen (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.
Youngblood, Gene (1991): Metadesign, in, Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, hrsg. von Florian Rötzer, Frankfurt/M.
Krämer, Sybille (1998): Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?, Rechtshistorisches Journal 17, S. 558-573.
Luhmann, Niklas (1975): Evolution und Geschichte, in, ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2.
C. (1976): Generalized Media and the Problem of Contingency, in: Explorations in General Theory in Social Science: Essays in Honor of Talcott Parsons, hg. von Jan J. Loubser et al., New York, Bd. 2, S. 507–532.
C. (1980): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt/M.
C. (1986): Das Medium der Kunst, Delfin 4.
C. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/M.
Lyotard, Jean-Francois (1985): Philosophien, im Gespräch mit Peter Engelmann (Hg.), Graz, Wien.
Maciunas, George (1965): Brief an Tomas Schmit vom 1. Februar 1964, in, Happenings, Fluxus, Pop Art, Noveau Réalisme, hrsg. von Jürgen Becker und Wolf Vostell, Hamburg.
Maturana, Humberto R./ Varela, Francisco J. (1980): Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Dordrecht.
Mitchell, Sandra (2008): Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt/M.
Naisbitt, John (1990): Megatrends 2000. Ten New Directions for the 1990´s.
Ohrt, Roberto (1990): Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg.
Paczensky, Gert von (1979): Weiße Herrschaft. Eine Geschichte des Kolonialismus, Frankfurt/M.
Parsons, Talcott (1951): General Statement, in: ders./Edward A. Shils (Hg.), Towards a General Theory of Action, Cambridge/Mass., S. 14 ff.
C. (1961): Order and Community in the International Social System, in: International Politics and Foreign Policy, hg. von James N. Rosenau, S. 120-129.
Popper, Frank (1993): Art of the Electronic Age, New York.
Spencer Brown, George (1972): Laws of Form, New York, dt. 1997.
Stichweh, Rudolf (2000): Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/M.
Wallerstein, Immanuel (1974): The Modern World-System, Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York.
Zec, Peter (1991): Das Medienwerk. Ästhetische Produktion im Zeitalter der elektronischen Kommunikation, in, Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, hrsg. von Florian Rötzer, Frankfurt/M.


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www.ferakuschan.at

F.E. Rakuschan, Medienepistemologe, Dozent an der Universität für Angewandte Kunst Wien (2003-2010); aktuell UdK Berlin. Seit 1989 Zusammenarbeit mit diversen Künstler_innen, seit 2006 Mitglied von L.S. (Ludic Society). Lebt als freier Autor in Wien und Berlin.