„Ich bin keine Jüdin.“ Ja eh. Ende Juni wurde mit einem Festakt der Baubeginn der Shoah Namensmauern Gedenkstätte Wien zelebriert. Alexander Pankratz nimmt dies zum Anlass einer kritischen Analyse des heutigen Umgangs mit der Shoah in Österreich. Am Montag, dem 22.06.2020 um 10 Uhr vormittags, strahlt der ORF den Festakt zum Baubeginn der Shoah-Namensmauer in Wien aus. Gleich nach der ersten Anmoderation tritt die Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt, Karoline Edtstadler (Die Neue Volkspartei, wir wollen hier kein deadnaming betreiben), ans Rednerpult. Sie versucht der Forderung nach Political Correctness nachzukommen, und beweist, sie nicht verstanden zu haben. Frau Edtstadler stellt zuallererst klar, dass sie keine Jüdin, und in Zeiten des Friedens und Wohlstands aufgewachsen, ist. So weit, so weit. Das privilege scheint vorerst gecheckt, wie es die Milleniums und die Generation Z mögen. (Woanders wäre Frau Edtstadler selbst noch knapp ein Millenial, aber da Österreich immer etwas nachhinkt, ordne ich sie eher als der Generation X zugehörig ein.) Jetzt wird es Zeit für die Art von Universalismus, die uns schon seit jeher groß gemacht hat:
Edtstadler behauptet, dass sie „dennoch“ weiß, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren, weil in ihrer Kindheit ihr Großvater durch einen Verkehrsunfall, nach Tagen auf der Intensivstation, verstorben ist. Sehr konsequent, denn so gibt sie nicht nur zu, dass sie weiß, was es heißt, keine Jüdin zu sein, sondern stellt ihr Wissen handfest unter Beweis. Dieser Gipfel der Geschmacklosigkeit ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Bundesministerin erzählt davon, wie ihre Mutter versuchte, sie zu trösten: „Solange du an ihn denkst, solange du über ihn sprichst, solange du seinen Namen nennst, wird er weiterleben.“
Sebastian Kurz, Regierungschef der türkis-grünen Koalition, ist leider verhindert und fühlt sich nicht wohl, und gerade in Zeiten wie diesen sollte man sich keinem Risiko aussetzen. Sehr vorbildlich. Es sollen aber alle versichert sein, dass es ihm ein Herzensanliegen ist, dass dieses Projekt nun zur Umsetzung kommt. Kurt Yakov Tutter, Gründer des Vereins Gedenkstätte Namensmauern Wien, der seit den 90ern für die Errichtung der Namensmauer kämpft, hat es mit seinen mittlerweile neunzig Jahren durchaus geschafft, sich trotz Zeiten wie dieser per Video dazuzuschalten – aber er hatte ja auch um viele Jahrzehnte mehr Zeit, den Umgang mit Technologie zu lernen. Die Kronenzeitung nennt ihre Aufzeichnug der Veranstaltung nichtsdestotrotz „Baubeginn der Shoah-Namensmauer mit Bundeskanzler Sebastian Kurz“.[1]
„64.259 Namen werden in Stein gemeißelt werden. Unauslöschlich für uns und für die Generationen nach uns. Der Name eines Menschen ist untrennbar mit seiner Person verbunden. An der Shoah-Namensmauer werden wir diesen ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden ein Stück ihrer Personalität, ein Stück Identität und auch ein Stück Würde zurückgeben. 64.259 Namen werden unauslöschlich in Stein gemeißelt werden. Damit diese Menschen in unserer Erinnerung weiterleben. Lange, nachdem die Erinnerung an ihr Aussehen verblasst ist. Der Name bleibt. Der Name bleibt untrennbar verbunden mit einer Person, mit einem persönlichen Schicksal. Heute, morgen und auch für unsere zukünftigen Generationen.“
Das wirft einige Fragen auf: Sind die ermordeten Juden nun unauslöschlich dazu verdammt, ausschließlich in der Erinnerung des Tätervolkes weiterzuleben? Oder ist es doch gut, dass sie bei uns bleiben müssen – wie es bei Opa war? Sie wurden getötet, nun leben sie ewig. Eine Geschichte, so alt wie die Zeit, und ganz und gar nicht exklusiv mitteleuropäisch. Ist das Wüstenvolk in dieser versöhnlichen Geschichtsinterpretation vielleicht gar nicht wegen, sondern für unsere Sünden gestorben? Mussten wir sie verbrennen, um zu lernen, dass man keine Menschen verbrennen soll? War ihr Tod quasi unsere Herdplatte? Sind die Toten bald in unserem Stein gebannt, wie Jesus im Herrgottswinkel? Ist jedes Opfer der Shoah hier im Herzen des christlichen Europas nicht auch irgendwie unser persönlicher Jesus? Reach out and touch faith. Unterstelle ich hier etwas Ungeheuerliches, nur weil ich es selbst denke? Wie kann eine solche Verwertungslogik auf unvergleichbares Leid angewandt werden? Auf diese schweren Fragen drängen sich beunruhigend leichte Antworten auf. Seit Menschengebeten erklärt man sich das Unerklärte mit Religion. Wie es zur Shoah kam, ist sehr gut erklärbar, doch Erklärbarkeit ist zu wenig. Man will alles begreifen und einordnen können. In der jüdischen Holocaust-Theologie wird die Shoah auf Arten gedeutet, die den Nachkommen der Ermordeten einen Umgang versprechen. Aber es macht einen Unterschied, ob die mitteleuropäische Mehrheitsgesellschaft diese in ihren Kanon aufnimmt, oder ob sie von den tatsächlich Betroffenen (bei uns oder woanders) benutzt werden, um nach vorne schauen zu können. Einige christliche Holocaust-Theologen sehen die Shoah als Beweis für die Einheit der Kinder Gottes, also als willkommene Gelegenheit, den Juden das Auserwähltsein abzusprechen. Manche christliche Gläubige berufen sich auf orthodox-jüdische Deutungen, die den Holocaust als „notwendig“ oder als Strafe erachten. Schon dass die Deutungshoheit der tatsächlich Betroffenen dieser Behauptung erst Legitimation gibt, legt dar, warum sich Nicht-Juden niemals darauf berufen sollten. Die meisten Theologen sind zwar sehr vorsichtig mit der Zuschreibung eines Sinnes, aber wo ein Gott, da ein Plan. So werden die Opfer in vielen Fällen zur Opfergabe gemacht. Im schlimmsten Fall, weil es so kommen musste. Als Brandopfer, Gottesstrafe, Märtyrer. Im „besten“ Fall als Beispiel für die Unergründlichkeit Gottes.[2]
Es darf auch nicht vergessen werden, dass das Framework Europa mit Religionen seit jeher in Wechselwirkung steht. Während die Katholiken mit dem Klein- und Dreckigmachen ihrer Gläubigen eine Gesellschaft herangezüchtet haben, die sich gerne groß und sauber fühlen würde, züchteten die Evangelischen eine Gesellschaft heran, in der der Fremde, der Andere und vor allem der nicht-konventionell-Arbeitende zu kleinem oder zu großem Dreck erklärt wurde. Der evangelische Antisemitismus ist so alt wie Luther. Der europäische Antisemitismus mindestens so alt wie die Pogrome, die Juden in die Geldeintreiberei scheuchten und zu willkommenen Sündenböcken für die endlichen Profiteure machten. Die Unterschiede zwischen sich selbst und dem Anderen erklärte man sich mit dessen Teufelhaftigkeit. So war der Andere in vielen Fällen an Pogromen selbst Schuld, oder konnte halt nichts dafür - aber mit uns gut zusammenleben eben auch nicht. In unserer aufgeklärten Zeit funktionieren dieselben Coping-Mechanismen mittlerweile etwas anders. Der Glaube an die gerechte Willkür Gottes wurde vom Glauben an die gerechte Willkür des Marktes abgelöst. So hat, zumindest für jemanden, der diese Ordnung bewahren will, also für einen Konservativen, alles, was nach Benachteiligung aussieht, doch irgendwie einen Grund. Aber das System an sich kann nicht der Grund sein, weil in dem lebt ja jeder sowieso. Also müssen alle selber schuld sein:
Die Linken werden nur gemaßregelt, weil sie sich aufführen und nicht arrangieren. Dass mehr Schwarze gefilzt werden, ist zwar bedauerlich, aber auch verständlich, weil Schwarze oft Migranten sind, und Migranten sind oft kriminell und die Polizei kann ja nicht riskieren, unbescholtene Bürger zu belästigen. Ja gut, sie sind kriminell, weil sie ärmer sind, aber so wie jeder andere Bürger müssen sie die Vorurteile widerlegen und sich durchsetzen im freien Markt und durchringen zu ehrlicher Arbeit. Dass es in ihren Fällen etwas mehr Vorurteile zu widerlegen gibt, darf man ihnen durchaus anrechnen.
Dann können auch die weniger Erfolgreichen unter ihnen sehen, wie gut man es hier haben kann.
Ansichten, die man von normalen Menschen hört, wenn man auf die Existenz von systemischem Rassismus aufmerksam macht. Der Glaube an die Verhältnisse wird erbittert gegen die Kenntnisnahme ihrer Ungerechtigkeit verteidigt. Wenn man dieser Doktrin zu ihrer Konsequenz folgt, wird klar, dass da auch die Juden keine Ausnahme bilden dürfen: Man kann zwar so nicht sagen, dass sie an der Shoah selber schuld wären…Aber man kann zumindest schauen, dass man selber etwas davon hat, an der Shoah beteiligt gewesen zu sein. Selbst aus diesem heißen Eisen muss man schließlich das eigene Glück schmieden. Auch in der Zukunft will Mitteleuropa in einer noch-nie-dagewesenen Vergangenheit leben und hat deshalb keine Zeit für die Schuld aus der Dagewesenen. Für die medienwirksame Wiedergutmachung schon, weil nur mit der alles wieder gut wird. Für einen Konservativen oder einen Wirtschaftsliberalen ist jeder Fehler der Vergangenheit nur ein Bug-Report für das neue Europa 3.0. Scheitern als Chance.
Wenn eine Vertreterin der Regierung tatsächlich behauptet, Opfern der Shoah auch nur ein Stück von etwas zurückgeben zu können, wird damit die Mauer zu einem Monument unserer Allmacht umgedeutet. The Lord giveth the Lord taketh. Wenn wir die Greuel mit dieser Mauer tatsächlich wiedergutmachen könnten, wäre die Mauer dann nicht nur eine Mahnung an die Nachkommen der Opfer, uns die Nachkommen der Täter nicht wieder zu verärgern?
Karoline Edtstadler beantwortet diese letzte Frage mit einem entschiedenen „nicht nur“. Sie versichert auch, dass die Demokratie unter der Mitte der Gesellschaft alles in ihren Möglichkeiten feststehende tun werde, um Antisemitismus und dann sofort Extremismus, egal welcher Art, zu stoppen. Das heißt, dass das Mahnmal doch auch die Nachkommen der Täter anhält, sich nicht zu verärgern. Also weder durch allzu starke Andersartigkeit, Linksradikalität, noch durch salonunfähigen Antisemitismus. Die Partei arbeitet kräftig an Verärgerungsverhinderung mit. Auf der Website der neuen ÖVP ist zu lesen: „Die Sicherheit in unserem Land hat für uns oberste Priorität. Deshalb müssen extremistische sowie staatsfeindliche Tendenzen und Strömungen von Anfang an und von der Wurzel her bekämpft werden – ganz gleich, ob politischer Islam, Rechtsextremismus wie die Organisation der Identitären oder Linksextremismus.“[3]
Für Rechtsextremismus braucht man ein konkretes Beispiel, damit niemand unschuldig zum Handkuss kommt – wir sind schließlich in einer Demokratie. Auch für den Islamismus können Beispiele und Bekämpfungsstrategien gefunden und benannt werden. Für Linksextremismus nicht. Aber braucht man wirklich so handfeste Gründe, um Linksextremismus zu bekämpfen? Braucht man Strategien, wenn die österreichische Polizei bereits mit ihrer Gesinnung ein wichtiges politisches Korrektiv zur Antifa bildet? Ein Dissens, der schon lange auf Biegen und Brechen fortbesteht und zeigt, wie frei unsere Republik wirklich ist. Wir sind schließlich eine Demokratie – und das bedeutet, dass die Mehrheit bestimmt, wo es langgeht. Und die Mehrheit will dort lang, wo sie schon immer lang wollte, sicher nicht nach links. Das sagen alle. Schon als Reaktion auf das Massaker von Christchurch hatte Sebastian Kurz von der Einrichtung einer Extremismusstelle gesprochen. (Die bundesweiten Extremismus-Beratungsstellen in Österreich konnten nicht gemeint sein, da es diese schon etwas länger gibt.) Zuerst erwähnte der Regierungschef der damals noch bestehenden türkis-blauen Koalition wie immer die Extremismusformen, die bei uns tatsächlich für Tote gesorgt haben. Das sind zufälligerweise Rechtsextremismus und islamischer Fundamentalismus. Zwei Ideologien, die sich nur in einem rigiden Geschlechterverständnis, Antisemitismus, Homophobie, Reproduktionsfetischismus, Todeskult, Ideal einer „richtigen“ Familie, Hypertraditionalismus, dem Glauben an Befehlsketten, die den Menschen zum übermenschlichen Ideal seiner Bestimmung führen, einem Bemühen um Omnipotenz und einer Dehumanisierung aufgrund davon, wie Menschen zur Welt kommen, sowie noch wenigen anderen Punkten überschneiden. Warum sollte also Linksextremismus nicht genauso gefährlich sein? Dass die Türkisen sich hier zu einem internationalen Trend bekennen, bei dem Antifaschismus mit Faschismus gleichgesetzt wird, halte ich für unwahrscheinlich. Wenn der Glaube lebt, braucht er kein Bekenntnis. Staatsgewalt und Zivilgesellschaft bilden zusammen den Rechtsstaat, der für sich selbst einsteht, also das Hier und Jetzt und etwas rückwärts, weil wir immer noch wir sind. Die Conclusio, die man als militanter Zivilist ziehen soll, ist somit klar wie Grießnockerlsuppe: Wir als Herzeuropäer müssen Verantwortung für die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte übernehmen und dafür die Werte, die uns „wirklich definieren“, umso überzeugter auf dem Wimpel tragen. Dadurch gelingt eine Rechnung, nach der das Elend der Shoah zwar mit einer großen Geste aufzuwiegen ist, sprich doch als irgendwie quantifizierbar wahrgenommen wird, mit deren Hilfe aber, sobald man auf die Schädlichkeit aktueller politischer Praxen und wirtschaftlicher Arrangements Mitteleuropas hinweist, gerade die Unvergleichbarkeit benutzt werden kann, damit die Vergangenheit den Vergleich mit jedem Elend der Gegenwart gewinnt. So ist es auch nicht überraschend, dass sich Edtstadler entschuldigt – für den Teil ihres Vortrages, bei dem es eine Chance gibt, dass doch Einige verstehen, warum er geschmacklos ist. Am 25. Juni twittert sie: „Ich nehme Kritik sehr ernst und bedaure, dass meine Worte missverständlich waren. Darüber habe ich auch mit Präsident @DeutschOskar gesprochen. Es war niemals meine Intention, einen Vergleich zu ziehen. Nichts ist mit der Shoah vergleichbar. (1/2)“ Und: „Es geht um das Erinnern. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Namen der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus mit den Namensmauern sichtbar machen. Um ihnen zumindest ihre geraubte Identität zurückzugeben. (2/2)“ Dass zumindest die demokratisch abgesegneten Vertreter des Mainstreams die Singularität der Shoah akzeptieren, ist überfällig, und gerade in Österreich leider ein Fortschritt. Dass dieselben erzählen, so etwas wie „Identität zurückgeben“ zu können, ist der Status Quo.
Wenn die Singularität der Shoah anerkannt wird, aber ignoriert wird, dass die Mitte der Gesellschaft durchaus beteiligt und die Normalität durchaus notwendig war, wird Never Again von der Forderung nach Niemalswieder zu einem Unglauben, dass Jemalswieder. Antisemitismus wird vonseiten unserer Regierung ausschließlich als Problem politischer Extremisten festgemacht. Der Durchschnittsösterreicher und fast der ganze Volkslaib werden endlich freigesprochen, weil ohne die Scherzerl am Rand ja eh jede Schnitte gleich aussieht. Die Ideen, dass doch wieder etwas passieren könnte, oder Gott bewahre, dass man Europa jetzt kritisieren dürfe, sind vielleicht bald, gemeinsam mit auffälligem, expliziten Antisemitismus (wir erinnern uns: ab den Identitären fängt es an), Fälle für die Extremismusstelle.
Die Kurz-Regierung übernimmt die Verantwortung für die Vergangenheit Österreichs nicht, sie kapert sie. Das Mahnmal wird, durch Edtstadlers Rede, wenn nicht als „Geschenk“ der Kurz-Regierung, als „Gefälligkeit“ dargestellt. Es ist allerdings ein gesellschaftlicher Fortschritt, dass man einem Juden mittlerweile öffentlich einen Gefallen tun darf. Nationalratspräsident Sobotka (Die neue Volkspartei) sagt in seiner Rede, wie betroffen es ihn machte, als Kurt Tutter 2018 zu ihm kam. Sehr, nämlich. „Es wäre eigentlich nicht die Aufgabe unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, und auch nicht [derer], die das Glück hatten, die Shoah zu überleben, dafür zu kämpfen, dass wir den Opfern eine Namensmauer errichten. Es wäre eigentlich unsere Aufgabe längst gewesen, und so kann ich nur ein beschämendes Danke an Kurt Tutter sagen, dass er diese Aufgabe für uns eigentlich übernommen hat.“ Das Selbstbild der neuen Volkspartei legt nahe, dass hier in erster Linie bedauert wird, dass man den tatsächlich Betroffenen nicht auch noch die schwere Bürde der Deutungshoheit abnehmen konnte. Zumindest nicht rechtzeitig. So erklärt sich, warum das „Danke“ und nicht die Untätigkeit als „beschämend“ benannt wird.
Für die restliche Veranstaltung überlässt man das Framing größtenteils Leuten, die mehr mit diesem Projekt zu tun haben, als es nur zuzulassen oder zu bankrollen. Hannah Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus spricht am Anfang der Veranstaltung, direkt vor Edtstadler, über die Erfahrung, die verstorbenen Lieben nicht an Gräbern besuchen zu können, deren Steine die Namen behüten. Sie sagt, dass sich zwischen den Grafittafeln der Shoah-Namensmauer ein Raum der Begegnung eröffnen wird.
Lessing äußert Wünsche, die sich sehr „ähnlich“ anhören wie die Wunscherfüllungen, von denen Edtstadler behauptet, dass „wir“ sie verwirklichen werden. Mir geht es nicht darum, wen Edtstadler mit diesem „wir“ gemeint hat, sondern darum, dass es so wirkt, als hätte sie die Regierung gemeint. Wenn jemand versucht, mit seiner Vergangenheit umzugehen, will er in die Zukunft schauen. Wenn jemand glaubt, mit der Vergangenheit eines anderen umgehen zu können, leugnet er diese. Das eine ist der Umgang einer Person mit persönlichen Traumata, eine Erwartung an ein Projekt, an dem sie maßgeblich beteiligt war, und ein Wunsch an eine Gesellschaft und an die Zukunft. Das andere ist bestenfalls eine Allmachtsfantasie.
Die Sprecher bei dieser Veranstaltung, die nicht von der ÖVP waren, ließen in ihren Reden erahnen, was unternommen werden musste und was für ein Schritt nach vorne die Errichtung auch für die konkreten Lebensrealitäten von Juden in Österreich tatsächlich ist. So ändern die Profilierungsversuche der Volkspartei nichts daran, was mit dem Bau dieser Mauer effektiv passiert. Egal, wie kräftig sich die Türkisen auf die Schulter klopfen, die Erinnerung wird davon nicht fallen. Was sie leider können, ist, sie in nicht-jüdischen Räumen (und Österreich besteht fast nur aus solchen) umzudeuten. Da bleibt es nicht aus, wachsam zu sein. Sosehr wie es sich die Vertreter marginalisierter Gruppen nicht immer leisten können, sich nicht zu arrangieren, sowenig darf die Linke es sich leisten, sich mit dieser Normalität zu arrangieren. Der Herr Karl ist überarl.