Der Dozent hatte seinen Freund zu einer Ausfahrt in den elften Bezirk, nach Simmering, eingeladen. Er werde Groll dort ein Beispiel für selbstverliebte Architektur im Verein mit einer gescheiterten städtebaulichen Konzeption präsentieren. Nachdem sie einige Zeit vor den Schießschar-tenfenstern des ehemaligen Gasometers gestanden waren, brach der Dozent in laute Schmährufe aus. Groll hingegen fiel in eine tiefe Depression. Rettung konnte nur ein starker Espresso bringen. So waren die beiden ins Einkaufszentrum am Fuß des Industriedenkmals vorgedrungen. Die Suche nach einem trinkbaren Espresso verlief erfolglos. Zwei Airan-Getränke aus dem Tetrapack stellten zumindest die Flüssigkeitszufuhr sicher. Er höre in den Gängen und Vorplätzen der Wettbüros, Handy-Shops und Zwei Euro Läden viele verschiedene Sprachen, stellte der Dozent sachlich fest. Er habe eben ein paar Brocken Aserbaidschanisch, ein glagolytisches Gebet und einen moldawischen Fluch aufgeschnappt. In diesem Teil Simmerings trete die deutsche Sprache nicht einmal mehr als lingua franca in Erscheinung, führte der Dozent weiter aus und forderte Groll auf, dem vielstimmigen Sprachengewirr zuzuhören, er werde auf diese Weise eine klangliche Vorstellung davon bekommen, wie die Haupt- und Residenzstadt vor hundert Jahren geklungen habe. Groll folgte dem Rat seines Freundes und zeigte sich beeindruckt. Wie so oft, wenn der Dozent seine Hietzinger Schwermut abstreifte und in eine weltoffene Stimmung wechselte, setzte sein Geist zu Höhenflügen an — er wurde politisch oder esoterisch. Am Fuße der Gasometer, zwischen running sushi und sitzenden Augustin-Verkäufern samt Hund gab er sich beiden Schwächen hin und dozierte über den Fall Arigona Zogaj.
Nachdem vom Bundespräsidenten über den Bundeskanzler bis hin zum Sozialminister und dem oberösterreichischen Landeshauptmann Solidarität mit dem geflüchteten Mädchen bekundet worden sei, könne die Wiedervereinigung der Familie auf heimischem Granit wohl nur eine Frage von Stunden sein. Das war der politische Part. Der esoterische äußerte sich darin, daß der Dozent der Überzeugung Ausdruck gab, daß es nunmehr auch zu einer Sanierung der schikanösen Fremdengesetze kommen werde.
Groll lud den Dozenten ein, auf einer verschlissenen Bank Platz zu nehmen. Nachdem sein Freund sich gesetzt hatte, schaute Groll ihm ernst und lange in die Augen, wie ein Personalchef, der einen Mitarbeiter zu sich zitiert hat, um eine unangenehme Nachricht zu verkünden.
»Verehrter Dozent«, sagte Groll leise, aber mit Nachdruck. »Ich bin mir sicher, daß der Fall Arigona Zogiraj nicht nur nicht keinerlei Folgen für das Fremdenrecht haben wird; ich habe Grund zur Annahme, daß er allen Beteuerungen der offiziellen Politik zum Trotz eine neue Runde von Schikanen, Verschärfungen und Behördenwillkür einläutet.«
Wie Groll zu dieser abwegigen Ansicht komme?
»Anhand der Sprache der Schönredner und Philister«, erwiderte Groll. »Da ist die Rede von Aufenthaltstiteln und Instanzenzügen, von illegalen Asylwerbern und aufhältig Seienden. Menschen können niemals illegal sein, höchstens können sie sich rechtlich im Zustand der Illegalität befinden. Ein »illegaler Mensch« ist bereits verbal liquidiert; wem das Menschsein in Worten abgesprochen wird, dessen Leben ist keinen Pfifferling mehr wert, das weiß man nicht erst seit der Strangulierung Marcus Omofumas durch diensteifrige Beamte. Wer »aufhältig ist«, wohnt nicht unter uns. Er ist nicht eigentlich da, sondern hat sich auf hinterhältige Weise seinen Aufenthalt erschlichen. Aufhältig eben. Wenn ein Sozialpolitiker einem »humanen Vollzug« das Wort redet, klingt das, als würde ein Scharfrichter mit diesen Worten die Axt schleifen. Es gibt eine humanistische Haltung im Umgang mit Gestrandeten und Flüchtlingen, egal welcher Provenienz, ob Flüchtling nach der Genfer Konvention oder aus Verzweiflung über katastrophale Verhältnisse im Heimatland. Aber es gibt keinen humanistischen Vollzug. Eine Amtshandlung wird vollzogen, in erstarrten Ehen wird der Geschlechtsverkehr vollzogen, aber eine menschliche Hinwendung wird niemals vollzogen, sie geschieht, weil Menschen das wollen. Auch eine Hinrichtung wird vollzogen. Ebenso wie Abschiebungen vollzogen werden. Schon gar nicht aber gibt es einen humanistischen Vollzug eines inhumanen Gesetzes. Soviel zu Ihren frommen Wünschen, verehrter Dozent. Es gibt aber noch etwas, worüber wir sprechen sollten — auch deswegen, weil niemand sonst das tut.«
»Ich höre«, sagte der Dozent und beugte sich vor.
Auch Groll beugte sich vor. »Wie lange ist es her, daß Kanzler Schüssel als Dompteur Jörg Haiders bezeichnet wurde? Er habe dem Amokläufer gezähmt, hieß es, habe der Giftspritze die Zähne gezogen, hätte ihn mürbe gemacht. Wo ist Wolfgang Schüssel jetzt? Und wo ist Jörg Haider? Der ORF holt ihn zu Diskussionssendungen über das Asylrecht. Befehl von oben? Oder Ausdruck von etwas anderem? Vielleicht einer tektonischen Verschiebung in der österreichischen Gesellschaft, die dazu führt, daß honorige Verfassungsjuristen unisono von der Unhaltbarkeit der Fremdengesetze sprechen und durchblicken lassen, daß der Boden, auf dem Österreich über Asyl, Zuwanderung und gesellschaftliche Teilhabe diskutiert, ein rechtsextremer ist. Was vor zwanzig Jahren als lächerliches Geschichtsderivat außerhalb des zivilisatorischen Bands vor sich hin krebste, nämlich kultureller Rassismus, Antisemitismus und ein hemmungsloser Sozialdarwinismus im Verein mit unüberbietbar plumper Demagogie, bestimmt in Österreich seit geraumer Zeit die gesellschaftliche Debatte. In wichtigen Politikfeldern herrscht eine stabile rechtsextreme Hegemonie. So ist zu erklären, daß Politiker der Mitte zu vorher inkriminierten Begriffen Zuflucht nehmen, von »Überfremdung« und »artfremd« reden. Eben das zeichnet ideologische Hegemonie aus, daß sie selbstverständlich wird, quasi naturwüchsig erscheint, hinter dem Rücken der Menschen ihr Denken und Fühlen vergiftet. Nur so ist das Zustandekommen inhumaner Gesetze zu erklären, die ihrem einzigen Ziel und Zweck auch entsprechend inhuman angewendet werden! In Wirklichkeit künden all die widerlichen »Einzelfälle« der letzten Jahre von der Existenz eines stabilen Systems rechtsextremer Anschauungen und Haltungen in gesellschaftlichen Grundfragen. Daß die zivilisatorischen Antipoden gegenwärtig von der Mitte der Gesellschaft aus agieren können, umschmeichelt von umsatzgeilen Medien und weitgehend unwidersprochen von einer ängstlich-opportunistischen Sozialdemokratie und schläfrigen Grünen, macht ihren Erfolg nachhaltig. Und der Innenminister mit den harten Konsonanten ist nur ein sinnfälliger Exponent einer windelweichen Politik der Mitte gegenüber dem rechten Rand. Das ist der Erfolg des schlauen Ex-Kanzlers. So schaut die Zähmung des frechen Lümmels bei Lichte besehen aus. Seinesgleichen sitzt an unseren Tischen und dreht mit jeder Schamlosigkeit das Rad der Widerwärtigkeit ein Stückchen weiter, sodaß was einst — zu recht! — als Tabubruch galt, heutzutage als selbstverständlich erscheint. Nein, verehrter Dozent, ich teile Ihren Optimismus nicht. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, in einer überschaubaren Zeit Asylanträge zu bearbeiten, gibt damit nicht zu verstehen, daß er das nicht kann, sondern daß er das nicht will. Sein Ziel ist es, Menschen über Jahre in Unsicherheit zu halten, zu Bittstellern und Objekten der Behörde zu degradieren und unerträglichem Existenzdruck auszusetzen. Dabei, werter Freund, sind nicht die Asyl- und Aufenthaltswerber die eigentlichen Adressaten dieser Politik. Ziel der öffentlichen Nullifizierung einer Minderheit ist die Einschüchterung der Mehrheit. Deshalb, geschätzter Freund, glaube ich nicht, daß der Fall Arigona Zogaj etwas ändern wird. Er ist nur ein weiteres Glied auf einer Kette der Schande.«
Der Dozent holte tief Atem, als wolle er zu einer Gegenrede ansetzen. Eine Lautsprecherstimme kam ihm zuvor. Der achtjährige Antun sei wieder aufgetaucht, seine Mutter solle sich bei der Information einfinden, sodaß die Übergabe des Kindes vollzogen werden könne.