Stammtisch »Franckviertel« – ein Versuch wider die Archivierung

Eva Eichinger erinnert sich an drei Jahre Stammtisch Frankviertel.

Langzeitarbeitslose, psychisch Kranke, FrühpensionistInnen – die Leistungsgesellschaft hat viele Bezeichnungen für Menschen die aus dem Erwerbsleben aussortiert wurden. Im Linzer Frankviertel trifft sich seit drei Jahren eine Gruppe solch »Aussortierter« zu einem regelmäßigen Stammtisch. Durch Ausstellungs-, Theater-, Universitätsbesuche wird versucht in eine Gesellschaft einzudringen, der man lediglich als RandständigeR angehört. Und immer wieder wird die Frage gestellt, was Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik für die (Über)Lebenspraxis jener bereit hält, die von der Gesellschaft zu Outsidern gemacht wurden.

Eva Eichinger erinnert sich an drei Jahre Stammtisch Frankviertel.

Jahrelang fuhr ich nach Linz, hinein ins Zentrum, an meinen Arbeitsplatz, eine Stätte des professionellen Sozialen und mühte mich um Projekte der Integration und um meine Existenzsicherung durch Lohnarbeit, zumal da nicht nur ich, sondern auch noch zwei abzusichernde Kinder waren, denen ich als sogenannte Alleinerzieherin verantwortlich war. Vor drei Jahren kam für mich dieses Normal-Projekt aus verschiedensten Gründen in die Krise. Ich wollte da nicht mehr weitermachen, aber auch nicht einfach in ein anderes Gleiches wechseln, auch nicht mich AMS-mäßig für den Markt qualifizieren, sondern Abstand gewinnen und mich zumindest zwischenzeitlich freistellen oder freisetzen.

So kam es, dass ich mich Linz und dem Rest der Welt in den letzten drei Jahren anders näherte – theoretischer sozusagen. Einerseits etwas meta-mäßig durch eine Dissertation in Soziologie und andererseits realer über einen Stammtisch, wo aber auch mehr das Besprechen der Welt denn ein Machen und Werken im Vordergrund stand. Um diesen zweiten Studienzirkel soll es hier gehen.

Der »Stammtisch« hatte sich in einem Wirtshaus im Franckviertel etabliert. Das schien uns ein guter Ort zu sein, für einen Blick vom Rand auf das Ganze. Wir trafen uns wöchentlich Dienstag vormittags. »Wir«, das waren eine kleine Gruppe eher »randständiger BürgerInnen«, denen gemeinsam war, dass sie eben nicht (mehr) in übliche Arbeitszüge integriert waren, dh. wir waren eben arbeitslos, berufsunfähig bescheidet oder studierend. Dementsprechend waren die Finanzlagen. Die finanzielle Enge war sozusagen als Horizont eingefroren. Die Frage war dann eher, ob gar nichts mehr geht oder was in den Zonen jenseits des Getriebes entdeckt, erfunden oder gemacht werden könnte. Welche Entwürfe oder Perspektiven konnten entwickelt werden? Fragen, die in üblichen Lebenszusammenhängen oft eher Karrierefragen als Sinnfragen sind oder sich erst nach dem Ausbrennen in der sogenannten Normalität stellen. Das umgangssprachliche »studierat werden« verweist eher auf eine problematisierende Erkenntnis aufgrund von unvereinbaren Erfahrungen und vorgesetzten Theorien. Wer »studierat« wird, wird vielleicht auch »sinnierat« und Schlimmeres. Wir haben diese Art von Studieren und Sinnieren zum deklarierten Motto unseres Stammtisches erklärt, auch indem wir für eine Kupf-Innovationstopf-Ausschreibung 2005 formuliert hatten, dass es uns darum ging, sich zu treffen, auszutauschen, zu diskutieren und zu »studieren«, was die Wissenschaft und die Archive der Gesellschaft dazu zu sagen haben, und ob sie dem »Rigorosum« unserer Lebensbedingungen genügen. Um uns nicht archivieren zu lassen oder in der Lethargie zu verkommen, während dies andere im unhinterfragten Super-Funktionieren gleichermaßen tun (müssen).

In diesem Sinne haben wir in den letzten Jahren einiges gemeinsam erforscht und unternommen, wie zum Beispiel: eine Wandzeitung im Franckviertel gestaltet, an Diskussionsrunden, Ausstellungen, Kulturaktionen und –veranstaltungen, Uni-Seminaren, sowie an einer Armutskonferenz teilgenommen und uns eingebracht; vor allem haben wir uns aber auch über unsere Einzelprojekte ausgetauscht wie schwierige Wohnungswechsel, Kämpfe mit Wohungsgenossenschaften, »Schöner-Wohnen«-Projekte, Studium, Familien- und Freundschafts-Dienste, Kultur-Projekte, Bildungs-Versuche. All das hatte belebende Wirkung und war eine soziale Struktur, die Halt gab, am Leben dran zu bleiben und über die Tage und Wochen zu kommen. Dennoch wurde immer wieder auch das Vakuum rund um das Reden und Unternehmen bewusst, als würde sich alles in einer Unsichtbarkeits-Zone abspielen, in einer Sphäre von geringerer Wichtigkeit und Wirklichkeit. So kamen wir auch öfter gemeinsam ins Sinnieren. Im Umfeld schienen denn auch oft das Leiden und die Verwirrungen konzentriert. Was konnte dem entgegen gehalten werden? Freie menschliche Ionen zu sein, die noch Zeit haben anzudocken, wenn um uns wer herumirrt? Immer wieder sich Bedeutung und Wirklichkeit zusprechen, weil die gemeinsame Welt in einem ganz präzisen Sinne unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird, wie Hannah Arendt meinte? Oder aber sich weg zu saufen, zu zu schütten?

Der Stammtisch hat sich verändert: einer kommt nicht mehr, weil er sich aus diesem Leben verabschiedet hat. Auch darin wurde für uns Zurück-bleibende die Sinnfrage schmerzhaft konkret. Mein Dabeisein beim Stammtisch hat sich reduziert, als mein Studiumsprojekt unter Zeitvorgaben, die vor allem finanziell begründet waren, stand. Insgesamt wurde die Gruppe wieder loser. Es kamen zwar immer wieder Einzelne dazu, aber die Regelmäßigkeit wurde dünner. Das zeigt auch, wie sehr die Lebenslagen im System unser soziales und kulturelles Sein in der Welt bestimmen. Die Welt erscheint dann brutal eingeteilt in verschiedene Sonderwelten, die einer Hierarchie von oben und unten und drinnen und draußen unterliegen. Und letztlich zeigt sich auch der Stammtisch als fragwürdiges Projekt. Ging es um illusionären Trost, gegenseitige Selbstermächtigung, Abwechslung, Wirklichkeitskonstruktion? Vielleicht war er das Eine oder das Andere, oder das Eine und das Andere oder ganz was Anderes? Wäre ein Thema für einen nächsten Stammtisch, um an den Beunruhigungen dran zu bleiben und keine Ruhe zu geben. Die Anderen haben mir jedenfalls aufgetragen, zu schreiben, dass der Stammtisch sehr wichtig für sie war und ist. Für mich auch. Als eine, die jetzt aufgrund der Einteilungen der Welt den Stammtisch verlässt (Job in Steyr), wünsche ich ihm eine Zukunft als Stammtisch zum »studierat werden« und nicht zum »deppat saufen«, auch wenn Zweiteres verständlich und Ersteres schwierig ist. Trotzdem, extra, z’Fleiß!