Das »Ähnliche«

Felix Riedel über das Verhältnis von Singularität und Wiederholung von Genoziden.

Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. (Karl Marx)

Auf »weltgeschichtliche Totenbeschwörungen« wollen Antifaschisten nicht verzichten: »Bomber Harris, do it again!« rufen sie, als sei Arthur Harris 30 Jahre nach seinem Tod daran gelegen, noch einmal über einem irre gewordenen Europa durch Flakfeuer zu gehen. Das ähnlich markige »No pasaran!« steht für eine totale Niederlage gegen den Faschismus. Selbst das »Never again!« ist Phrase. Überlebenden Juden galt das »Nie wieder!« als drohendes Versprechen. Praxis heute stürzt der Satz in Aporien. Es hat sich ja längst schon wieder ereignet. Und stets war es singulär UND ähnlich.
Die notwendig offene Bestimmung des Ähnlichen hatten sich deutsche Täter und ihr Umfeld zunutze gemacht: Sie verwiesen auf Verbrechen anderer Gesellschaften, um den Nationalsozialismus als anthropologische Normalität zu nivellieren. Die Amerikaner lynchen, Stalin hatte Gulags, Deutsche wurden vertrieben und moderner: Israel sei rassistisch. Gegen diese schuldprojizierende Opferkonkurrenz der Täter hatte das Beharren auf der Singularität ihr naives Recht. Naiv, weil es die vorgeschützte Naivität der Täter nebst Nachkommen ernst nimmt, als wüssten die tatsächlich nicht Bescheid über die Spezifik. Naiv auch, weil es ein Geschichtsbild affirmiert, in dem es überhaupt zu Wiederholungen kommt. Theorie, die darauf nicht reflektiert, droht in Zynik umzuschlagen, wenn Opferkonkurrenz künstlich eingeführt wird, wo Solidarität unter und mit Opfern eher die Regel ist. Eine verdinglichende Sprache der Konkurrenz hat sich in den folgenden Text aus der Pädagogik eingeschlichen:

»Gleichwohl geht dem Antiziganismus als Mordmotiv mit seinen primär am Rassismus orientierten materialen Zuschreibungen – inferiore Natur, Faulheit, Schmutz und Kriminalität – die ideologische Radikalität des Antisemitismus bei weitem ab. Denn für einen Krieg wie jenen gegen den – wohlgemerkt – jüdischen Bolschewismus, dessen Schlachtruf ›Erlösung des deutschen Volkes durch Vernichtung des Weltjudentum oder Untergang‹ lautete, vermochte der Antiziganismus mitnichten das ›ideologische Kanonenfutter‹ liefern. Dem Antiziganismus fehlt ein Verschwörungsmythos, in dem ›die Zigeuner‹ als omnipotente und omnipräsente ›Feinde aller Völker‹ halluziniert werden. Der Vernichtungsdrang wird im Antiziganismus somit nicht ideologie-immanent legitimiert.«

Am Antiziganismus interessiert auch Grunberger/Dessuant in ihrem paradigmatischen Buch »Narzißmus, Christentum, Antisemitismus« nur, welche Kennzeichen er im Vergleich zum Antisemitismus nicht trägt. Bei Postone, Scheit, Claussen und Grigat, sämtlich überaus lesenswerte Autoren, finden sich vergleichbare Passagen, die in aller Regel zur Legitimation ausfallen, sich nur und ausschließlich mit dem Antisemitismus zu befassen.
Spätestens ihren Epigonen tritt der Antisemitismus selbst in einer Totalität als »moderner Antisemitismus« auf, die schlichtweg historisch nicht haltbar ist. Die unwiderlegbare Tendenz der Verwandlung von Klassenkonflikten in Rassenkonflikte im 19. Jahrhundert verführt zu materialistischen Abenteuern, die Geschichte von widersprüchlichen Elementen reinigen. Das Buch Esther, eine 2300 Jahre alte jüdische Legende, benennt Vernichtungsantisemitismus; die frühchristliche Propaganda strotzt von Rassisierungen, Gottesmord und jüdischer Kapitalismus/Kommunismus waren ähnlich dimensioniert, sie produzierten Verschwörungstheorien und eschatologischen Vernichtungsantisemitismus z.B. der Rintfleisch- und Armlederpogrome. Das sind gern »vergessene« Prüfsteine der marxistischen Entwicklungstheorien, die Besonderes und Allgemeines schlecht treffen.

Simmel, Löwenstein und Adorno/Horkheimer erscheinen noch grundsätzlich interessiert an einer komplementären Analyse von Verfolgungsideologien und spezifischen autoritären Charaktertypen. Der darstellende Vergleich ergibt eine konsistentere Differenzierung als die schlecht abstrakte Kategorienbildung der marxistischen Antisemitismusforschung.

»Einzig in der Differenzierung kann emanzipatorisch gedacht werden: dass nicht alles notwendig so kommen musste, wie es kam, und dass nicht alles so bleibt, wie es ist.« (Detlev Claussen)

Differenzierung bedarf der Arbeit des Begriffs, der Entfaltung und Darstellung, bloße Kategorisierung höhlt ihn aus. Die Kategorisierung von Auschwitz als Nicht-Kategorisierbares bedurfte der Kategorie »andere Genozide« worunter auch vormoderner Antisemitismus fiel. Anstelle der Anthropologisierung des Nationalsozialismus betreibt Kritische Theorie heute die positivistische Anthropologisierung der genozidalen Gewalt, die andere Teile der Welt oder andere Opfergruppen in Blut und Asche versenkte. Deren Vernichtung war dann »nicht ideologie-immanent legitimiert« – abfertigender, immunisierter Sprachgebrauch.

Der Genozid an den Armeniern, die Gulags, die leninistisch-stalinistischen Sozialexperimente vom Holodomor bis zum chinesischen »großen Sprung nach vorn« mit seinen zig Millionen Hungertoten, die strategisch vergessene, durch und durch rassistische Massenmörderei der japanischen Armee in China und Südostasien – Kritische Theorie heute schreibt mit dem Rücken zum Leichentuch der Geschichte, Universalismus und bestimmter Vergleich scheint ganz demodée. Völlig von der formalistischen Antisemitismusforschung ignoriert wird der Genozid in Kambodscha. In diesem Agrarstaat eliminierte der Terror die Städte, das Geld, selbst den individuellen Fischfang und Brillen. Keine andere Strafe als die Todesstrafe war zugelassen, Kinder nahm man den Eltern und die Sektenführer entrissen sogar die kärglichen Mahlzeiten dem Privaten. Zwei bis drei Millionen Menschen haben die roten Khmer in Lastwägen hinein und über Klippen getrieben, in den Feldern erschossen und als Dünger ausgelegt, in Lagern ermordet oder zu Tode gehungert. Keine Weltverschwörungsfabeln, kein christlicher Narzissmus, und dennoch wurde diese komplett ausgebombte Gesellschaft von einem crétin wie Pol Pot und seiner Armee aus Kindersoldaten unterworfen und in ein gigantisches Lager gehetzt. Wahrscheinlich gibt es kein einziges Buch im ça-ira-Verlag, in dem Ben Kiernans Standardwerk über diesen Genozid überhaupt zitiert wird. Ebenso Rwanda. In nicht einmal 100 Tagen wurden eine Million Menschen mit Radios, Macheten und Maschinengewehren ermordet. Kein Geldrätsel findet sich hier, freilich aber die Verwandlung von Klasse in Rasse und von Organisation in Destruktion – in einem Land ohne Industrie.

Genozide im Plural zu schreiben bedeutet heute das grauenerregende, beiläufige Eingeständnis, dass die Wiederholung des Ähnlichen stattgefunden hat. Das darf nicht konkurrieren, das steigert unendliches Entsetzen ins Unendliche. Die groteske Unzahl an »anderen Genoziden« im Trikont hat bislang die bürgerliche Wissenschaft immerhin »beforscht«, wie der Jargon lautet, wenngleich auch hier Solidarität gegen tauschwertbasierte akademische exploitation ankämpft. Genocide-studies entstanden, die von Theorie nichts wissen wollen und in deren Mailinglisten sich die Nakba ebenso oft findet wie offener Antisemitismus.
Es gäbe also genug Arbeit für Kritische Theorie. Aber als Tarantino eine antipatriotische Kritik formulierte, indem er die Sklaverei »unseren«, das heißt den amerikanischen Holocaust nannte, unterstellte man ihm ernsthaft, er habe Relativierung betrieben – als hätte er nicht ein deutlicheres Bewusstsein von den Unterschieden als jene Adorno-Zitierer, die vom Rassismus offenbar nur wissen wollen, dass er keine »Übermacht« projiziere.

Detlev Claussen hat in seinem unverzichtbaren Band »Grenzen der Aufklärung« notiert: »Nicht blinder Haß ist die entscheidende Voraussetzung für das monströse Verbrechen gewesen, sondern ein entschlossener politischer Wille mit einem disziplinierten modernen Organisationsapparat und ›modernen Menschen‹, also entsolidarisierte Atome, als deren Hauptmerkmal Indifferenz anzusehen ist.«

Diese sich freilich wiederholende und ökonomisch produzierte Entsolidarisierung und Indifferenz sind leider auch dort zu spüren, wo man sich brüstet, die Vorgänge besser zu verstehen. Eine in Formelwesen verwandelte Antisemitismuskritik trägt zur verdinglichenden Wahrnehmung von Qualitäten nur weiter bei. Wo von »anderen Genoziden« nur im Nebensatz räsoniert wird, ist vom Antisemitismus so wenig begriffen wie von jenem simplen, von jedem greifbaren kategorischen Imperativ, den nicht erst Hitler, schon gar nicht Adorno der Welt aufzwang.

Literatur

1. Karl Marx 1972 : »Der achzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.« MEW Bd. 8, 115-123. Berlin: Dietz-Verlag.
2. Sebastian Kneitschel 2013: »Melancholische Weltveränderung. Bemerkungen zu Adornos ›Erziehung nach Auschwitz‹ und zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«. Via: http://www.kritiknetz.de/index.php/antisemitismus/1202-melancholische-weltveraenderung
3. Ben Kiernan 2008 (EA 1996): »The Pol Pot Regime - Race, Power, and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, 1975-79.« New Haven, London: Yale University Press.
4. Detlev Claussen 2005 (1987): »Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus.« Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
5. Béla Grunberger, Pierre Dessuant 1997: »Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung.« Stuttgart: Klett-Cotta.