Der Linzer Soziologe Peter Arlt hat seiner Heimatstadt ein Buch geschenkt. Nicht bloß ein weiteres Linzbuch in einem an Linzpublikationen inflationären Jahr, sondern gleich einen hochformatigen, prächtigen »Linz Atlas«. Dessen Hauptakteure: Nationale und internationale Vergleiche stadtrelevanter Zahlen. Sei es zu Kultur, Gesundheit, Natur, Verkehr, Wohnen, Arbeit und vielem mehr. Umgesetzt in wunderschönen Landkarten und übersichtlichen Tabellen durch die Schweizer Grafiker Dimitri Broquard und Jonas Voegeli. Ganz der Idee eines Schulatlas würdig. Der 48jährige Peter Arlt, der sein Arbeiten als »angewandte Soziologie im öffentlichen Raum« beschreibt, lebte längere Zeit in Berlin, war in Linz zuletzt bei der Gestaltung des Herbert-Bayer-Platzes beim Architekturforum Oberösterreich tätig und beschäftigt sich auch darüber hinaus mit Fragen der Stadtplanung und -gestaltung.
Dein Atlas trägt den Untertitel »Zur Lebensqualität hier und anderswo«. Im Vorwort sprichst du aber von Lebensqualität als »inhaltsleerem Begriff«.
Es ist halt ein Begriff, den jeder in den Mund nimmt. Wo keiner etwas dagegen haben kann. Was wäre das Gegenteil? Wenn ich keine Lebensqualität will, was will ich dann? Die zentrale Frage ist nur: Wie definiert man Lebensqualität? Dies versucht eben der Atlas zu beantworten, indem er bestimmte Themen und deren Kriterien auswählt, während du manche Themen darin wieder vermissen wirst. Der Begriff der Lebensqualität hängt für mich stark mit den Bewohnern zusammen, nicht so sehr von Investoren oder Touristen. Dort lag auch mein klarer Fokus.
Du hast dabei unter anderem Essstörungen, Singvogelverbreitung, Spitalsbettendichte usw. erhoben. Was hat dich zur Sammlung all dieser Zahlen bewogen?
Ich habe mich gefragt, wie kann man den Ort wo man lebt, so mitgestalten, dass ich da auch bleiben will. Ohne dass ich gleich Parteimitglied werden muss oder für den Gemeinderat kandidiere. Mir geht es schon auch darum, in das Gefüge dieser Stadt einzugreifen. Da war mir die Kunst irgendwann zuwenig. Da kann man zwar tolle Sachen machen – nur: es tangiert die Politik nicht. Nicht dass sie das nicht wollen. Aber sie sehen es nie als etwas, was mit ihrer Bauabteilung zu tun hätte.
Stattdessen also die Spitalsbettendichte.
Ich habe bei Diskussionen mit Politikern gemerkt, dass sehr oft mit Zahlen argumentiert wird. Wo ich feststellen musste, da fehlt mir das Wissen. Insofern habe ich mir den Arbeitsauftrag erteilt, mir das genau anzuschauen. Weil ich nicht zum Diskutieren aufhören wollte, wenn ein Politiker mit Zahlen daher kommt: ‚In Linz haben wir ja eh so viele Kinderbetreuungsplätze.’ Und ich kann nur sagen: ‚Für meine Tochter unter drei Jahren hat es nichts gegeben.’ Jetzt weiß ich, es gibt etwas – aber vergleichsweise wenig. Wie in Österreich generell. In Frankreich, Belgien, Skandinavien ist es hingegen überall gang und gäbe, dass Kinder unter drei Jahren in einer Krippe sind.
Du hast internationale Vergleiche gewählt, weil du wissen wolltest, wie die Linzer Zahlen in Relation aussehen. Siehst du jetzt aufgrund deiner Erfahrungen die Bereitschaft der politischen Vertreter, ebenfalls kritisch über den eigenen Tellerrand zu blicken?
Das Gefühl hatte ich bisher nicht. Der Stadtrat Luger hat bei einer Diskussion im Architektur-forum gemeint, dass der »Linz Atlas« erstens nicht wissenschaftlich ist, zweitens falsche Zahlen aufweist und ein Städtevergleich schon gar nicht geht. Wobei die Stadt Linz selbst einen Vergleich der Luftqualität der Landeshaupt-städte auf ihrer Homepage hat. Gerade bei Luftverglei-chen könnte man ebenso gut argumentieren, warum das heikel ist. Wie viele Messstellen haben die? Wo stehen die? Wenn man ins Detail geht, kommt man auf viele Sachen drauf – und manche Daten relativieren sich dann auch. Aber soweit sind wir bei dieser Diskussion gar nicht gekommen. Ich hatte eher den Eindruck, dass ich beim Thema Linz-Zahlen einen hoheitlichen Bereich betreten habe und man nicht unaufgefordert Linz-Zahlen veröffentlichen darf.
Du hast hauptsächlich Zahlen der Statistik Austria genommen, oder auch Zahlen, die von der Stadt Linz selbst veröffentlich wurden.
Ich habe alles vermieden, was auf Umfragen zurückgeht, habe harte Zahlen aus der Volkszählung genommen – und Daten der Stadt Linz.
Ein Vorwurf seitens der Politik an dich war, es ließen sich keine Handlungsanweisungen aus dem Atlas herauslesen. Was du im Atlas aber ohnehin von dir weist. Ein paar Handlungshinweise lassen sich doch erkennen. Immerhin haben wir vergleichsweise die höchste Wartezeit bei Öffis, während umgekehrt die Ampelphasen für Fußgänger sehr kurz sind.
Ich habe das aus der Sicht des Fußgängers gezeigt, aber das heißt umgekehrt auch, dass die Autofahrer vergleichsweise wenig warten. Wenn ich sage, Grünphasen für Fußgänger sind zu kurz, lässt sich auch argumentieren, dass wir dann längere Stauphasen hätten, was zu mehr CO2-Aus-stoß bei den Autos führt. Ich kann auch sagen, das ist ja gut, dass wir in der Stadt eine hohe Autoquote haben. Aber diese Bewertungen habe ich im »Linz Atlas« grundsätzlich vermieden. Und erst recht finden sich keine Begründungen für einzelnen Fakten. Das ist für mich eigentlich genau der diskursive Raum, den der »Linz-Atlas« eröffnen soll. Er eignet sich in seiner Offenheit hervorragend als Diskussionsgrundlage; aber eben nicht als fixfertiges Arbeitsprogramm für die Kommunalpolitik.
Ein paar Worte zu den Karten und der Gesamtgestaltung.
Ich hatte mehrere Grafikbüros um Musterentwürfe gebeten. Die Schweizer Dimitri Broquard und Jonas Voegeli schickten mir dann einen Entwurf, der so einen leicht historischen Touch hatte. Das fand ich ganz interessant. Weil er Anleihen an historischen Atlanten nahm. Humboldt ist uns immer ein wenig vorgeschwebt. Wobei wir wussten, dass dessen Kartenmacher 25 Jahre daran gearbeitet hat. Das waren natürlich andere Zeiten. Im ersten Blick ist der Atlas also ein wenig historisch. Wir haben dann gekämpft, dass der Leineneinband in Plastik eingeschweißt wird. Um das sozusagen wieder ein wenig zu brechen. Damit es grafisch nicht zu historisch wird.
Kürzlich wurdest du von der Stadt Berlin eingeladen, dir mit Kollegen über die Nutzung des Areals des Flughafens Tempelhof Gedanken zu machen. Wird mit solchen Fragen in Berlin anders umgegangen als in Linz?
Tempelhof hat die Stadt Berlin quasi vom Bund bekommen. Das ist eine riesige Fläche mitten in der Stadt. Vom Flughafengebäude heißt es, es ist das drittgrößte Gebäude der Welt. Sie haben wahrscheinlich auch versucht, das zuerst anders in den Griff zu kriegen. Irgendwann werden sie sich gesagt haben: Masterpläne können wir zwar machen, aber es gibt keinen, der das dann bauen wird. Berlin hat eher Leerstand. Der Bedarf ist nicht so da, dass man das groß zubauen könnte. Ein Park wäre nahe liegend, dafür hat aber die Stadt Berlin – die im Gegensatz zu Linz bankrott ist – kein Geld. Vielleicht noch zum Anlegen, aber nicht mehr zur Betreuung. So sind sie vermutlich auf diese Szene gestoßen sind, die in Berlin seit der Wende temporäre Räume entwickelt hat. Die sind eingeladen worden: ‚Was würdet ihr da machen? Ist das ein Platz für Euch?’ Da ging es um Strategien, wie man Leute aus dem Kultur- und Kunstbereich aktivieren könnte. Gar nicht so sehr im Sinne temporärer Nutzung. Sondern eher: wie kriege ich da eine Vielfalt hin, wie kriege ich das bunt? Ist das überhaupt interessant? Das war dann eher so von unten herauf gedacht. Das sind also ganz andere Situationen als in Linz.
Ist die Gesprächskultur in Berlin in so einem Bereich eine andere?
Natürlich. So lange ich in Berlin gelebt habe, war die Politik für mich gar nicht präsent. Weil die auch so wenig Geld und Macht hatte. Der Senat hat aber in den Neunziger Jahren öffentliche Podiumsgespräche organisiert. Zu »Stadtforen« kamen regelmäßig ein paar hundert Leute um über die Entwicklung von Berlin zu diskutieren. Da war ich regelmäßig dabei. Zum Beispiel wurde diskutiert, wie sich der Alexanderplatz entwickeln soll. So hat man Leute im Publikum kennen gelernt, wo man gedacht hat, der oder die haben super Ideen – wer ist das? Da hat man sich gut vernetzen können, ist aus meiner Sicht viel passiert. Der Senat hat immerhin versucht, von außen Anregungen zu kriegen oder ihre Vorhaben zu diskutieren. Das erlebst du in Linz nicht. Die Stadt hat nicht das Gefühl, dass sie etwas nicht weiß. Die brauchen keine anderen Fachleute, und den Bürger schon gar nicht.