Nachrichten aus gewissen europäischen Regionen lesen sich wie eine Art schwarze Chronik der hohen bürgerlichen Kultur, die offenbar auch ihre niedrigen Seiten hat. Der freie Markt entpuppt sich dort in seiner Reinform, als medialer Taktstock und ökonomisches Gängelband der politischen Verhältnisse, als Scheitern der Illusion von der formal »repräsentativen« als der wahren Demokratie, kurz, als existenzieller Paternalismus und teils kriminelle Energie mit allen erdenklichen Folgen. Handelt es sich wirklich um eine regionale Spezialität? Korruption und Kungelei, Vettern- und Misswirtschaft, Revisionismus und Rechtsruck ohne Scham, Arbeitslosigkeit und Altersarmut – wohin das Auge reicht. Man murrt, man duldet, man protestiert, auch monatelang, wenn nötig, und meist vergebens. Manchmal fragt man sich, wozu es überhaupt einen Staat gibt. Bei Sozialleistungen wird schließlich am meisten gespart. Für das Land, heißt es scherzhaft hie und da, sieht man mehr als einen Ausweg: Bahnsteig eins und Bahnsteig zwei. Die Jugend will weg, nur weg, ins vermeintliche Jobparadies namens Ausland. Indes marschieren Schwulenfeinde, Abtreibungsgegner und Nazinostalgiker auf, mitunter in Begleitung von Ministern.
Und bei den nächsten Wahlen wählt man wieder dieselben seelenlosen, politischen Gestalten ohne Rückgrat und Rechtsempfinden, allein – dann vielleicht vom anderen Diebeslager. Der Staat samt den administrativen Strukturen verkommt ohnehin zum Selbstbedienungsladen einer Politikerkaste, Bankerclique und Eigentümerklasse, die sich an den Schalthebeln der Macht ihre Einnahmen sichern. Sie verheimlichen es nicht einmal, sondern zelebrieren ihre partikulären Interessen. Das Volk, geschädigt, ermüdet und etwas abgebrüht von ihren vielen Skandalen, wischt sich, nachdem man es bestohlen und bespuckt hat, normalerweise ab und piepst: »Oh, es regnet!«, oder es grölt zum Ausgleich: »Es lebe der Lügner, unser Lügner!«, oder es singt sein neuestes »Hoch die Ausbeutung!« und auserkorenen Anderen entgegen: »Hass, Hass, Hass!« – Was sonst?! Den sozialen Protesten fehlen ja immer die ideelle Kraft und der praktische Wille, auch die Rahmenbedingungen zu verändern, also ein geschichtlicher Auftrag. Ob die Bürgerbewegung »Gerechtigkeit für David« aus Banja Luka 2018 mehr ausrichten mag als der Arbeiteraufstand in Tuzla 2014, wird sich zeigen. Aber Geschichte ist in dieser Region nicht zum daraus Lernen da, sondern dient bestenfalls zum Kitten nationaler Identitäten. Das ist Balkan.
Die Zustände »da unten« sind generell unerträglich – und personell reinweg. Eines Pseudostaates lokaler Potentat, welcher, wenn er nicht gerade von einem russischen Geschäftsmann ein Kilo Gold erhält, bereits dem Massenmörder Ratko Mladic´ und mittlerweile auch dem österreichischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache einen Ehrenorden verliehen hat, kauft sich 2008 mit einem Staatshaushaltskredit, wohlan, eine Villa um eine Dreiviertelmillion Euro im Belgrader Nobelviertel Dedinje. Als chauvinistischer Trampel thront er, so oder so, seit Mitte der 90er Jahre über der Republika Srpska und bereichert sich nach Strich und Faden. So etwas gibt es; sein Name ist Milorad Dodik, der große Sohn des Dorfes Laktaši, der eigentlichen Hauptstadt des serbischen Landesteils. Nach dem mysteriösen Ertrinken eines Burschen – des obigen David, der weiterhin auf Gerechtigkeit wartet – in einem knöchelhohen Bächlein bezeichnet der derbe Dodik im Fernsehen die darauffolgenden Demonstrationen an öffentlichen Plätzen als Störung möglicher Maturatreffen, »die man doch nur einmal im Leben« hätte.
Im Rest von Bosnien-Herzegowina sieht die Lage kaum hoffnungsvoller aus. Der Staat ist nicht für seine Bürger da, vielmehr umgekehrt. Die in Affären mit öffentlichen Beschaffungen im Gesundheitswesen verwickelte Frau eines Regierungs- und Parteichefs wird, weil sie nun einmal seine Gattin ist, unlängst zur Vorsitzenden im bosnischen Staatspräsidium nominiert. Der Gatte selbst, der vor Kurzem den Sultan neoosmanischer Träume, Recep Erdoğan, auf einer türkischen Wahlkampfveranstaltung in Sarajevo empfängt und ihn vor tobender Menge plötzlich »von Gott gesandt« nennt, kann sich brüsten, viele Moscheen erbaut, den Klüngel im Beamtenapparat geschaffen und wahhabitische Kreise unterstützt zu haben, die vom Verfassungsschutz observiert werden. So etwas gibt es; sein Name ist Bakir Izetbegović, Sohn des Alija aus Kriegszeiten, in dynastischer Linie höchstpersönlich. Der Mann aus dem Politikgeschäft lebt letztlich in einem Paralleluniversum.
Rumänien birgt seinerseits Schmankerl. Der Softwaremagnat Microsoft verkauft dem rumänischen Staat beispielsweise Schulausstattungs-material. So weit, so gut. Rund 60 Millionen Euro Schmiergelder fließen allerdings an Regierungsmitglieder, um den Deal zu besiegeln. Eine ehemalige Ministerin für Tourismus und Regionalentwicklung, seit 2017 immerhin in Haft, lässt sich in Amtes Würden fürstlich bestechen und verschleiert durch Geldwäsche den Verbleib von neun Millionen Euro einer Transaktion von Microsoft an ihren Gatten, einen landesweit wichtigen Wirtschaftstreibenden. So etwas gibt es; ihr Name ist Elena Udrea, geistige Tochter der Rechtswissenschaften einer Bukarester Christlichen Universität. Mehr noch: Ungeachtet zigtausender Demonstranten im Dezember 2017 hat die rumänische Regierung per Eilverordnung eine Justizreform beschlossen und die Strafverfolgung auf Amtsmissbrauch eingeschränkt, und zwar so, dass bei einem Diebstahl unter 44.000 Euro von Gesetzes wegen keine Gefängnisstrafen mehr zulässig sind. Was einst Präsident Traian Băsescu an Rechtsstaatlichkeit sozusagen im Trab eingestampft, hat Ministerpräsident Victor Ponta im Galopp niedergetrampelt. Danach fielen viele Figuren der Politik flugs um. Nun ist seit Anfang 2018 Vasilica Dăncilă die Regierungschefin, und sie bekennt sich loyal zu ihrem leider schon vorbestraften Parteivorsitzenden, der ansonsten sehr gerne ihr Amt übernommen hätte.
Erst 2013 ist in Bulgarien die Regierung von Ministerpräsident Bojko Borisov geschlossen zurückgetreten, bitte sehr, aufgrund von Protesten der Bevölkerung gegen allzu hohe Heizkosten. Man friert folglich privatisiert. Pünktlich zur Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft wird in Sofia ein Firmenboss von einem Profikiller über das Zielfernrohr erfasst und auf offener Straße erschossen. Die betont bequeme Reaktion von Cveta Karajančeva, einer konservativen Politikerin der Regierungspartei, dazu: »Solche Dinge passieren in jedem europäischen Land.« Ganz ehrlich, das kann man sich nicht ausdenken!
In Serbien, wo Ana Brnabić, eine lesbische Premierministerin aus amerikanischer Schule und dem Eck des Unternehmertums, endlich angstfrei bei der Gay-Parade Regenbogenfähnchen schwenken kann, beläuft sich – infolge einstiger Sanktionen, Nato-Angriff, Sezessionen, Deindustrialisierung und Raubprivatisierung hernach – auch 2015 noch das BIP auf 27,5% unterhalb des Niveaus von 1989. Fabriken und Betriebe werden wie überall sonst am Balkan für Kleingeld gekauft, zugesperrt und als Immobilien weiterverkauft, aber auch Maschinen veräußert und Löhne nicht ausbezahlt. Der Neoliberalismus scheitert hier praktisch, außer bei der Konzentration von Reichtum, versteht sich. So sind aus Staatshand zum Beispiel attraktive 220 Hektar des Belgrader Donauhafens für weniger als 50 Millionen Euro an die Oligarchen Miroslav Mišković und Milan Beko verscherbelt worden, und deren ursprüngliche Baupläne sind längst – ungültig und futsch. Der Staat steht bei dieser Plünderung der Allgemeinheit bereitwillig Schmiere. Hauptsache ist hingegen, wie es scheint, dass posthum der Tschetnikführer und Nazikollaborateur Draža Mihailović, ebenfalls
2015, von den staatlichen Organen rehabilitiert wird. Was gäbe es Wichtigeres zu tun als ebendas angesichts der grassierenden gesellschaftlichen Misere!
In Kroatien wiederum, wo Regierungsmitglieder und katholische Kirchenvertreter bei Gedenkfeiern für Kriegsverbrecher teilnehmen, sei es für den Paramilitärkommandeur Slobodan Praljak, der nach der Urteilsverkündung im Haager Tribunal sich durch Zyankali das Leben genommen hat, sei es beim größten europäischen Faschistentreffen für die Ustascha in Bleiburg/Pliberk 2018. Übrigens unterstützt die kroatische Regierung finanziell diese makabre Zusammenkunft mit mehr als doppelt so viel Geld als die heimischen Gedenkveranstaltungen im KZ Jasenovac, die obendrein von den Serben, Juden und Roma boykottiert wird. Umsonst hat die jüdische Gemeinde in Österreich dagegen protestiert, und umsonst ist auch der Direktor des Simon Wiesenthal Zentrums Ephraim Zuroff nach Wien angereist: »Doch in Österreich Kriegsverbrecher zu jagen ist sinnlos, eine reine Zeitverschwendung! Sie landen sowieso nicht vor Gericht!« Derweil laufen in Zagreb homophobe oder xenophobe Referenden zur Beschneidung von Frauen- und Minderheitenrechten, wie Parlamentsvizepräsident und Vertreter der italienischen Minderheit, Furio Radin, beklagt. Es ist ein Jammer…
Nun, wenn man im deutschen Duden nachschlägt, was denn Balkanisierung bedeutet, findet man erstaunlicherweise höchstens einen Hinweis auf die Zersplitterung von Vielvölkerstaaten, wenn auch mit dem interessanten Zusatz: »wie die Staaten der Balkanhalbinsel vor dem Ersten Weltkrieg«. Bekanntlich ist der Begriff zumeist negativ in Gebrauch, bei Wikipedia sogar als »Verfall von guten Sitten analog der Entwicklung der Jugoslawienkriege«, sodass die Frage sich aufzwingt, ob in einem deutschen Wörterbuch der Zerfall von Völkerkerkern wie etwa der österreichischen oder der osmanischen Monarchie allen Ernstes ein Negativum zu verkörpern hätte. Überhaupt weist so eine Haltung rassistische Elemente auf. Slavoj Žižek bespricht in seinem Buch »Das fragile Absolute« diesen sogenannten »reflexiven Rassismus«, indem er erklärt, dass für Serbien wohl Bulgarien und Rumänien abfällig als Balkan gelten, für Slowenien und Kroatien sind es Bosnien und Serbien, für Österreich und Deutschland das ganze ehemalige Jugoslawien, für Großbritannien gar der europäische Kontinent als solcher usw. Dabei sind religiöse Fundamentalismen, ethnische Hassideologien, kriminelle Machtfantasien und neoliberale Armutsfallen in vielerlei Hinsicht schlicht Importwaren aus dem Westen – selbiger hat ihnen, entgegen allem demokratischen Anstrich, über Jahrzehnte hinweg diplomatisch, materiell und medial zu ihrer heutigen Macht verholfen. Von Krisen anstatt systemischen Störungen spricht man demgemäß nur, um das Eingeständnis gesetzmäßiger Kehrseiten des Kapitalismus zu verschleiern. Dass bei einer analogen Auslagerung der Ursachen außerhalb des ökonomischen Systems nichts als kopfloser Populismus herauskommen kann, weiß man, aber Geschäft ist Geschäft. Das ist Europa.