Während Herr Groll mit seinem Kleinwagen die Donau querte und auf den Gürtel einschwenkte, überlegte er, was er dem Dozenten in wenigen Minuten erzählen werde. Er habe im Fernsehen das Sommerinterview mit dem Bundeskanzler gesehen, würde er sagen, eine traurige Veranstaltung, denn der Kanzler habe mit der überforderten Interviewerin allzu leichtes Spiel gehabt. »Wer ihm zuhörte, musste den Eindruck gewinnen, daß in der Republik alles in Ordnung sei. Die Flut an Reformen würde bloß eine bessere Verwaltung anstreben und keine Bevölkerungsgruppe besonders belasten oder begünstigen. Wir beide wissen, daß das Gegenteil der Fall ist. Und heute beim Frühstück lese ich einen Text des Armutsforschers der Diakonie, der den programmatischen Titel ‚Anleitung zur Erhöhung der Armut in neun Schritten‘ trägt.[1] Erst wenn man all die Einschnitte im Sozialen, die darin aufgelistet sind, in ihrer Gesamtheit betrachtet, zeigt sich die Wucht eines von langer Hand vorbereiteten Generalangriffs auf den Sozialstaat. Unter vielen Punkten führt der Experte an, daß im Budget keine Mittel für den Ausbau von Kindergärten vorgesehen sind und dass auch das Geld für Familienberatungsstellen gestrichen wurde. Die Abschaffung der Notstandshilfe werde enorme Konsequenzen haben, denn Ersparnisse müssen nun verbraucht werden, bevor Mindestsicherung bezogen werden kann und zu den Ersparnissen zählen auch private Pensionsvorsorgen. Auch Eigentumswohnungen, Häuser, Grundstücke oder Autos müssen zuerst zu Geld gemacht werden, bevor die Mindestsicherung greift. Jeder Arbeitsplatzverlust birgt das Risiko ‚eines sozialen Absturzes nach ganz unten‘. Kürzungen bei der Mindestsicherung werden viele Menschen in extreme Armut, viele sogar in Obdachlosigkeit, treiben, führt Martin Schenk aus, und das insbesondere in den stark wachsenden Städten – so wächst Wien in zehn Jahren um die Einwohnerzahl von Linz. Am stärksten werden kinderreiche Familien, Menschen mit chronischen Erkrankungen oder mit Behinderung sowie anerkannte Asylberechtigte getroffen. Der Familienbonus wird den ärmsten Kindern, rund 200.000, nicht zugute kommen, denn es gilt das Prinzip: wer mehr verdient, bekommt mehr Unterstützung und wer es nicht zur Steuerpflicht schafft, weil er oder sie zuwenig verdient, geht leer aus. In vielen Fällen werden sie nicht einmal den Kindermehrbetrag von 250 Euro bekommen.«
Im Geiste hatte Groll sich so sehr in Rage geredet, daß er auf dem Gürtel um ein Haar in einen Lastkraftwagen gekracht wäre, der abrupt die Spur wechselte. Der Ausbau von Ganztagsschulen wird gestoppt, sprach es in Grolls Kopf weiter, was Müttern die Erwerbstätigkeit erschwert und ihre Pensionsvorsorge schmälert. Überhaupt müsse festgestellt werden, daß in den letzten Jahren über zwei Drittel aller neu geschaffenen Frauenarbeitsplätze in Teilzeitberufen erfolgten, was zwei bittere Konsequenzen habe: einmal würden die Frauen dadurch an besser verdienende Männer gefesselt, mit der Selbstbestimmung von Frauen sei es in diesen Fällen vorbei. Wer den Mann verlässt, wird zur Bettlerin gemacht. Zum anderen befinden diese Frauen sich mit den Teilzeitjobs auf dem schnurgeraden Weg in die Altersarmut, denn die Pensionen werden aufgrund der geringen Einzahlungen kaum zum Überleben reichen.
Die Abschaffung der Aktion 20.000 bedeutet, daß tausende Langzeitarbeitslose weiterhin arbeitslos bleiben und dadurch eine niedrige Pension in Kauf nehmen müssen. Zu diesen Einsparungen kommen Maßnahmen, die das ohnehin teure Wohnen drastisch verteuern. So wird die Aufhebung des Lagezuschlagverbots in Gründerzeitvierteln die Mieten im Altbau empfindlich verteuern. Geschätzter Freund, wird Groll sagen, das ist nur eine Auswahl dessen, was auf unsere lieben Landsleute, die diese Regierung mit einer satten Mehrheit von sechsundfünfzig Prozent gewählt haben, zukommt. Und niemand dürfe sagen, er habe nicht gewusst, was auf ihn zukomme, denn ähnlich wie Donald Trump arbeitet diese Neuauflage einer Wenderegierung ihr Wahlprogramm Zug um Zug ab. You get what you ordered, sagt Trump. Leider wissen die meisten nicht einmal, was sie bestellt haben, hörte Groll seinen Freund sagen, als er die Thaliastraße stadtauswärts fuhr.
Kurz darauf traf Herr Groll vor dem Schloß Wilhelminenberg auf dem Gallitzinberg ein. Der Dozent stand, an seine italienische Fahrmaschine gelehnt, vor der östlichen Rampe. Herr Groll parkte seinen Wagen auf der Feuerwehrzufahrt.
»Diese Auffahrtsrampe wurde gebaut, um die Zufahrt von herrschaftlichen Kutschen zu ermöglichen. Es gibt keinen besseren Ort für die Vorfahrt des Gespanns Groll und Joseph III. Guten Tag!«
Groll bremste den Rollstuhl ein und schüttelte die Hand des Dozenten.
»Verehrter Dozent, ich weise daraufhin, daß hier kein Behindertenparkplatz markiert ist. Das Schloß betreibt ein Hotel der vierten Kategorie; laut mir vorliegenden Geheiminformationen gibt es auch keine Rollstuhltoilette. Kein Zimmer ist barrierefrei, und dieser Aufgang ist zu steil, um gefahrlos von fußmaroden Menschen bewältigt werden zu können.«
Der Dozent trat einen Schritt zurück. »Sie sehen mich beschämt! Ich nahm an, daß die Häuser der Hotelkette Austria Trend, zu der dieses Schloßhotel zählt, selbstverständlich barrierefrei sind. Schließlich ist das seit mehr als zwei Jahren geltendes Gesetz und die Übergangsfrist war mit zehn Jahren auch großzügig bemessen. Mit wachsendem Zorn füge ich hinzu, daß die Hotelkette der Gemeinde Wien gehört, die sollte sich doch an die Gesetze halten, wenn sie schon nicht mit gutem Beispiel vorangehen will!«
»Das tut sie auch. Sehen Sie nur diese seltsame Mauer«, erwiderte Groll und ließ sich vom Dozenten die Rampe hinaufschieben. Oben angekommen, bestaunten die beiden eine mitten auf der Auffahrt befindliche Bank aus Marmor. An einem Ende stieg sie an und lief in einem hüfthohen Sockel aus, an dem eine Klingel angebracht war. Daneben befand sich ein Rollstuhlzeichen.
»Haben Sie eine Ahnung, was das ist? Jeder vernunftbegabte Mensch würde die Klingel am Fuß der Rampe montieren, sodaß Hilfe herbeigeholt werden kann. Hier wird das Prinzip umgekehrt: Wer die steile und mit einem holprigen Bodenbelag ausgestattete Rampe bewältigt, kann die Rezeption davon verständigen, daß man es geschafft hat. Warum dieser Unsinn?«
Die Antwort erfordere einen Exkurs in die Historie, erwiderte Groll. Recherchen hätten ergeben, daß das Predigstuhl genannte Gebiet im späten achtzehnten Jahrhundert, in den Jahren Mozarts und der Wiener Jakobiner um Franz Hebenstreit, von Feldmarschall Graf von Lacy erworben wurde, der mit dem Bau eines Schlosses begann. Sein Freund, der russische Botschafter in Wien, Fürst Gallitzin, auf russisch Dmitrij Michailowitsch Golizyn, kaufte dem Feldmarschall die Besitzungen ab und erwarb von der damals selbständigen Gemeinde Ottakring Wälder und Hutweiden, die er zu dem bis heute bestehenden Park umgestalten ließ. Nach mehreren Besitzerwechseln schenkte ein gewisser Moritz von Montléart das Schloss 1866 seiner Gattin Wilhelmine.
»Das ist jene Gönnerin, die den Bau des späteren Wilhelminenspitals ermöglichte. Nun muß man wissen, daß Moritz nervenleidend und Wilhelmine, eine geborene Fitzgerald aus Dublin, nach einem Unfall durch eine Wirbelsäulenverletzung behindert war. Die beiden konnten sich also in ihrem Schloß nur eingeschränkt bewegen. Sie hätten ein zurückgezogenes Leben geführt, heißt es. Kunststück! Wenn man ein Anfallsleiden hat oder auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wird auch ein Schloß zum Gefängnis.«
Vielleicht handle es sich bei der Marmorbank um ein steinernes Mahnmal im Gedenken an die behinderte Frau, meinte der Dozent.
»Und ihr zum Gedenken werden behinderte Menschen vom Besuch des Schlosses ausgeschlossen?« Groll schüttelte den Kopf. »Diese Episode fügt sich in die traurige Schloßgeschichte, von der ich nur Eckpunkte erwähne: In dem Schloß waren unter anderem die Sängerknaben untergebracht, es diente weiters als Lazarett und nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im März 1938 wurde die Österreichische Legion im Schloß einquartiert. Dieser Haufen fanatischer Nazis, die während des Austrofaschismus ins Deutsche Reich geflüchtet waren, mußten von dort mitansehen, wie ihre Hoffnungen auf Posten und Pfründe enttäuscht wurden. Die Offiziere und SSler aus dem Altreich machten bei allen wichtigen Besetzungen das Rennen, die alten Kämpfer aus der Ostmark schauten durch die Finger. Wenn der Wiener Stadtkommandant Baldur von Schirach vor Bombenangriffen der Alliierten auf den Wilhelminenberg raste, um sich in seinem Führerbunker, er liegt gleich um die Ecke, zu verstecken, ertönte vom Schloß Wilhelminenberg die Warnsirene. Und ab 1961 wurden sogenannte schwer erziehbare Mädchen im Schloß untergebracht und über Jahre systematisch geschlagen und vergewaltigt. Erst vor wenigen Jahren erstellte ein Team von Wissenschaftlerinnen um die Juristin Barbara Helige eine Studie, die den Skandal aufrollte[2]. Es zeigte sich, daß die Stadtpolitiker dem Treiben tatenlos zugesehen hatten. Sie sehen, es handelt sich um ein Schloß des Grauens, da kommt es auf eine seltsame Bank nicht an.«
Der Dozent ließ sich auf dem Bauwerk nieder.
»Sie wissen, daß ein ‚gemischter Satz‘ ein guter Weißwein ist?«
Der Dozent nickte.
»Sie haben aber auch schon von einem ‚besonders weiten Satz‘ gehört?«
»Bei Übertragungen von Schispringen, ja.« Der Dozent runzelte die Stirn.
»Ich weiß jetzt, was es mit dieser Bank auf sich hat«, sagte Groll. »Sie stellt eine Sprungschanze dar. Die Sache ist jetzt klar. Die Architekten, angewidert von der Geschichte dieses Schlosses, empfehlen den Abriß und die Errichtung einer Sprungschanze. An den Hängen kann man ja ‚gemischten Satz‘ pflanzen.«
»Eine Sprungschanze inmitten von Weingärten. Großartige Idee!« rief der Dozent und sprang auf.
»Folgen Sie mir«, sagte Groll. »Ich weiß im Liebhartstal einen guten Heurigen. Dort können wir unser Projekt ausarbeiten. Ich bin sicher, daß der neue Bürgermeister begeistert sein wird.«
»Wenn er es nicht auf die lange Bank schiebt«, rief der Dozent und eilte zu seiner Rennmaschine. Vorsichtig fuhr Groll die holprige Rampe hinunter zu seinem Wagen.