»Antisemiten und Rassisten [...] werden gebraucht, weil die Ächtung von Antisemitismus und Rassismus das moralische Korsett einer Clique sind, die sich sonst alles erlauben will, jede Abgreiferei, aber wie jeder Verein für ihren Bestand Verbote und Tabus benötigt. Sie werden einfach für den Übergang in eine neue Zeit gebraucht. Es läuft glatter, wenn die Elite sich moralisch in Positur werfen kann, während sie Arme, Alte und Arbeitslose beklaut.« (W. Pohrt)
»Der Moralismus geht [...] so wie in der Bewegung gegen die Berufsverbote, als sich Leute den Judenstern anhefteten und sich verfolgt fühlten, nur weil sie nicht Lehrer werden durften. Das ist deutsch.« (J. Bruhn)
Im geo-ökonomisch omnipotenten Deutschland ist es geboten, alles dafür zu tun, das bahnbrechende EU-Projekt nicht entgleisen zu lassen. Als augenscheinlich größter Nutznießer gilt es, so legt die offizielle EU-euphorische Stimmung in der BRD nahe, die Legitimationskrise des Modellprojekts supranationaler Marktkonformität durch das Schüren sittlicher Entrüstung zu bannen. Hierzu greifen ihre Befürworter zunehmend auf eine hypertrophe Moralisierung politischer Fragen zurück. Diese Methode politischer Willensbildung zielt darauf ab, entstandene Antagonismen zwischen Markt und Politik in einer Phase unauflösbar ineinander verschränkter nationaler und supranationaler Organisation zuzudecken.
Die von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden getragene Politik der Weltoffenheit entfaltet ihre Wirkmacht gegenwärtig vor allem dadurch, dass Diskurs-Sittenwächter in Bildungsinstitutionen sowie andere Multiplikatoren der marktkonformen Mediendemokratie suggerieren, angesichts der Gefahr von Rechts in Notwehr zu handeln. Der simulierte Kampf gegen einheimische Rassisten und Reaktionäre zeichnet sich dadurch aus, dass das Notwehrrecht auch Eingriffsbefugnisse zur Lenkung der veröffentlichten Meinung vermittelt.
Besonders bedenklich ist die ausgerufene »neue Politisierung« (H. Maas), da die progressiven Kräfte nicht einmal davor zurückschrecken, die »vollendete Sinnlosigkeit« (H. Arendt) der Nazi-Barbarei als aus der Geschichte gezogene Lehre zu missbrauchen, um das neoliberale Projekt eines supranationalen Großraums ideell zu stärken. Mit gutem Gewissen beruft man sich deshalb auf Auschwitz. Denn die Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst ist inzwischen so weit voran geschritten, dass sie aufgrund von Auschwitz – dem Master-Narrativ – das Selbstverständnis haben, vom Sünder zum Heiligen aufgestiegen zu sein: »Je schrecklicher die Sünde, desto tiefer die Buße und Reue, je tiefer die Buße und Reue, desto strahlender am Ende die moralische Überlegenheit.« (W. Pohrt) Wer sich als multilaterale Zivilmacht im Zeichen von Weltoffenheit und Menschenrechten aufspielt, kommt deshalb nicht umhin, isolationistische Briten, nationalistische Polen oder parasitäre Griechen überheblich zu belehren.
Der Fatalismus der grauen Alternativlosigkeit hat im Schatten der EU- und Migrationskrise auch auf dem Buchmarkt Spuren hinterlassen: Relevante Schriften hierzu haben der kulturprotestantisch Konservative Alexander Grau, der orthodox-marxistische Linkspopulist Bernd Stegemann und der römisch-katholische Liberalkonservative Alexander Kissler veröffentlicht. Sie greifen auf Arnold Gehlens Moral und Hypermoral (1969) zurück. Zum Verständnis: Ein reaktionärer Theoretiker wie Gehlen kann Widersprüche im Schleier des Liberalismus deutlicher sehen, da Reaktionäre Adorno zufolge das Unwahre an einer Humanität, die sich zum Maß der Welt erklärt, ohne verwirklicht zu sein, zur Rechtfertigung absoluter Inhumanität erheben.
Öffentlich verordneter Moralismus ist eine Form der Herrschaftskommunikation, die es erlaubt, so der Grundtenor der drei Autoren, eigene Anliegen als gesinnungsethisch makellos und deshalb nicht verhandelbar durchzusetzen. Daher erschöpfen sich offizielle Medien-Debatten Grau zufolge meist in einem selbstbezüglichen »Jargon aufgekratzter Moralität«. Der Aufschrei der Empörung dient, so Stegemann, »zur Selbstinszenierung moralischer Vortrefflichkeit.« Nie war es so leicht, vom Glanz der Aura sittlicher Erhabenheit zu profitieren. Kissler bezeichnet diesen Glanz als »rhetorisches Lametta fast ohne Substanz«.
I. Stegemanns Moralfalle
Stegemanns Buch dient der »Selbstkritik linker Kommunikation«, um die Spirale der Provokation und Empörung im Kraftzentrum der aufeinander angewiesenen Rechts- und Moralpopulisten zu durchbrechen. Ursächlich für die unübersehbare Krise linken Denkens sei die »zudringliche Form der moralischen Bevormundung.« Hellsichtig führt er das Versagen der Analysefähigkeit von Linken auf »Selbstfesselungstendenzen der Moralfalle« zurück. Aus der Trias von poststrukturalistischer Theorie (Dekonstruktion), neoliberaler Ökonomie (Deregulierung) und identitätspolitischer Ordnung (Selbstermächtigung) sei demnach eine wirkungsvolle Herrschaftstechnik entsprungen.
Eindrücklich weist er auf die Dialektik des politischen und ökonomischen Liberalismus hin, um daran deutlich zu machen, dass die beiden Konzepte von Freiheit sich wiederum gespalten haben. Demnach wuchert im politischen Liberalismus hinter einer glitzernden Fassade Unfreiheit, da partikulare Gruppenrechte einander im Wege stehen und so die Unfreiheit die Bedingungen allgemeiner Freiheit sabotiert.
Der Autor verfügt über ein feines Sensorium für die moralischen Paradoxien unserer Zeit: Wenn in der parlamentarischen Debatte eine rechte Partei davor warnt, dass zu viele untereinander in blutige Konflikte verwickelte Gruppen von Migranten die Stabilität der Gesellschaft gefährden, eine gegnerische Partei diese Aussage dagegen dadurch zu entkräften versucht, dass sie Hilfe für Asylsuchende zur moralischen Pflicht erklärt, streiten beide Parteien nicht über das Gleiche, sondern tragen eine Auseinandersetzung über die Frage aus, welche Inhalte und Meinungen überhaupt zulässig sind. Der herrschende Dissens zwischen sogenannten Wut- und Gutbürgern erhält seine Dynamik dadurch, dass mithilfe medialer Techniken der Tabuisierung und Emotionalisierung polarisierende Stimmungen erzeugt werden.
Stegemanns Verdienst ist es, mit einfachen Worten und anschaulichen Beispielen im allgemeinen Fortschrittsglauben angelegte regressive Tendenzen anhand des »Moralismus der Heuchler und der schönen Seelen« kenntlich zu machen. Trotz des fragwürdigen Versuchs, durch Gründung der Sammlungsbewegung Aufstehen Theorie in die Praxis zu überführen, ist die Lektüre des Buchs zu empfehlen.
II. Kisslers Widerworte
Das Nachdenken – immerhin wesentliche Voraussetzung für die Fähigkeit, etwas zu begreifen – verkommt innerhalb schablonisierter Denkformen zum bloßen Nachweismittel für anständige und angepasste Gesinnung. Sprachschaumkraft ersetzt politisches Denken. Kissler nimmt dies zum Anlass, anhand 15 ausgewählter Phrasen der offiziellen politischen Rede nachzuweisen, dass die Phrase »der sprachliche Kokon um eine Redeverweigerung, der verbale Guss auf einem strategischen Schweigen« ist. Er sieht die Phrase da beginnen, wo das Denken aufhört. Als kollektives Herrschaftsinstrument sei ihr natürliches Habitat die Politik. Durch moralischen Dauergebrauch und strategische Instrumentalisierung treibe sie aber eine Implosion der Begriffe im Gleichklang voran.
»Zur Phrase wird ein Spruch, wenn er einen wahren Teilaspekt ausspricht und diesen zur ganzen Wahrheit erklärt. [...] Dem Widerspruch nimmt sie die Kraft, weil sie die unmittelbare Einsichtigkeit für sich hat. Sie ist gepanzert mit dem gesunden Menschenverstand und verbirgt so ihren angreifbaren Kern.« Keinesfalls will er Phrasen als Lügen verstanden wissen, sondern vielmehr als schwarze Löcher unserer Kommunikation. Ihre Verwendung ziele darauf ab, Einverständnis zu erzeugen. Gerade deshalb bedürfte sie der Auslegung, der sie sich aber durch ihren rhetorischen Gestus und ihren Kontext entziehe.
Kissler liest Phrasen wie »Heimat gibt es auch im Plural«, »Vielfalt ist unsere Stärke«, »Wir schaffen das«, »Europas Werte ertrinken im Mittelmeer« oder »Menschlichkeit kennt keine Obergrenze« gegen den Strich. Wenn es ihm auch meist gelingt, inflationär gebrauchte Worthülsen spitzzüngig als solche vorzuführen, verharrt er doch überwiegend auf der Oberfläche tagesaktueller Geschehnisse. Statt metapolitischer Analyse liefert er gut lesbare Kommentare.
Was die Lektüre aber besonders versüßt, sind die kurzen Passagen, worin der Autor selbst in eine schwülstige Phrasenhaftigkeit zurückfällt: »Heimat sind die ersten Schritte und ist die Einsicht, dass du wurdest, ehe du warst. [...] Heimat ist, wozu du Ja sagst und wo du bleiben willst für lange Zeit, dem du die Treue hältst über Abstoßungen hinweg. Heimat verlangt Bekenntnis, geht aber im Bekenntnis nicht auf.« Seinem konservativen Publikum mag dies gefallen, doch produziert er damit stellenweise genau das, was er sich zu kritisieren vornimmt, nämlich Floskeln: »Nur weil Menschen sich im selben Raum befinden, [...] entwickeln sie kein Gruppen-Wir. Ohne Geschichte und ohne Identität bleibt das Bunte nur eine unverbundene Mehrzahl.«
III. Graus Hypermoral
Graus Schreiben ist das Vergnügen anzumerken, dass es ihm bereitet hat, Hohn und Spott über die Auswüchse der Hypermoral und ihre Apologeten auszukippen. Dabei wurden leider Abstriche beim Redigieren gemacht. Doch immerhin entfaltet er eine überwiegend präzise und pointierte Analyse der zur »Gesinnungs- und Lifestylefrage« aufgeblähten »religiöse[n] Großerzählung«. Die Hypermoral möchte er als säkulares Erbe religiöser Absolutheitsansprüche und des teleologischen christlichen Weltbildes verstanden wissen. Die Lehre des evident Guten begründe den humanistischen Maximalismus zur Errichtung des Edelmenschentums. Was er über die Rolle der Massenmedien und Massenmenschen schreibt, ist trotz geringer Originalität lesenswert. Unvermeidlich wirkt seine ablehnende Haltung gegenüber Konsum, Hedonismus und Universalismus.
Was er als »Utopie einer ausschließlich nach rigiden moralischen Normen organisierten Gesellschaft« verurteilt, schließt er mit der Rolle des Intellektuellen kurz. Es überrascht, dass Grau in einer Zeit schwindender Freigeistigkeit ausgerechnet ihnen den Sieg der Reflexion über die Tradition anlastet. Wenn er den Intellektuellen-Typus als »Fachmann für das richtige Handeln«, »Hohepriester der neuen [...] Moral« oder »Gestalt des säkularen Priesters« dämonisiert, mag das darauf zurückzuführen sein, dass auch konservative Denke dazu neigt, dem Intellekt eine abstrakte und zersetzende Kraft zuzuschreiben und damit in seiner Wirkung maßlos zu überschätzen. Dass Intellektuelle versucht sind, geistige Unabhängigkeit gegen Publicity einzutauschen, zeichnet Kulturbetriebsintrigantentum, nicht aber kritisches Denken aus.
Wie bei Kissler schimmert auch bei Grau eine Sehnsucht nach der guten alten Zeit durch: »Die Welt der Eltern und Großeltern mit ihren Überlieferungen und lokalen Verortungen wird als einengend [...] empfunden. Man betet seine Ahnen nicht mehr an, man verurteilt sie.« Ihm stößt der »Krieg gegen die eigene Vergangenheit« sowie der Verlust dessen bitter auf, »was traditionell Identität und Zugehörigkeit stiftete.«
Störend ist der affirmative Gebrauch des kryptischen Identitätsbegriffs, der, weil er Krisen- und Schwundbegriff zugleich ist, mehr verhüllt als offen legt. Dahinter verbirgt sich vielleicht die Ahnung, dass der rebellische Konformismus der Vielen die ideologische Funktion übernommen hat, die ehemals der ohnehin gebrochenen nationalen Identität zukam.
Alexander Grau: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. München (Claudius), 2017, 12 Euro
Alexander Kissler: Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss. Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus), 2019, 18 Euro
Bernd Stegemann: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin (Matthes & Seitz), 2018, 18 Euro