Karl Marx konnte in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie noch schreiben: »Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.« Dass dieser Vertrauensvorschuss nicht eingelöst werden, sondern »das Volk« sich für die Errichtung von Vernichtungslagern entscheiden würde, ahnte Marx noch nicht.
Dass sich deren absolute Grausamkeit von der Fähigkeit zu »höheren Kulturleistungen« nicht so fein säuberlich abtrennen lässt, wie manche Kunstbegeisterte es gerne hätten, zeigt Paul Schuberth in seinem Beitrag zur Musik in Konzentrationslagern: Diese war zugleich Folter- und Kontrollinstrument, Quelle der Vergnügung, sowie Mittel von Täuschung und Propaganda.
Auch der »Zeithorizont« wird gerne exkulpativ bemüht, um Gräuel zu relativieren – Paulette Gensler hat sich in ihrem Text genauer angesehen, inwieweit dies beim Vorgehen des Propheten Mohammed historisch gerechtfertigt ist und Felix Riedel beschäftigt sich mit der Theologie des islamischen Antisemitismus.
Ein anderes Mittel der Schuldabwehr besteht in der Pathologisierung von Täter/innen – Bernhard Torsch arbeitet für uns die Unterschiede zwischen individueller Erkrankung und gesellschaftlicher Wahnproduktion heraus.
In Österreich lässt sich die Obsession mit dem nunmehrigen Ex-Kanzler Kurz nicht anders als wahnhaft nennen – die Banalität des Systems hinter dem Personenkult ist Gegenstand der neuen Groll-Geschichte von Erwin Riess.
Einer, der bereits früh die reale Brutalität in der Sprache von Faschismus und Nationalsozialismus antizipiert hat, war der 1939 ermordete und heute kaum noch gewürdigte Jura Soyfer – Herbert Arlt versucht, dem entgegenzuwirken.
Diejenigen, die beschlossen, nicht als Soldaten zum Vernichtungskrieg beizutragen, sondern desertierten, wurden in Österreich jahrzehntelang übel diffamiert. Wie es kommt, dass in Goldegg ein Denkmal für Wehrmachtsdeserteure steht, zeichnet Michael Mooslechner – in einer Art inhaltlichen Fortsetzung aus der Versorgerin #121 (S. 16) – nach.
Auch Svenna Triebler greift in ihrem Text über die »Incel« (involuntary celibates) das Phänomen toxischer Maskulinität erneut auf und Richard Schuberth führt seine Analyse der Konstruktion von Männlichkeit fort. Dabei baut er auf Erkenntnissen der Psychoanalyse auf, deren Grenzen (aber auch Unverzichtbarkeit) als Erkenntnisinstrument Renate Göllner eine Essaysammlung gewidmet hat, die Florian Müller rezensiert.
Marcel Matthies hat sich einige aktuelle Veröffentlichung zur Verschränkung von Moral und Moralismus angesehen und Magnus Klaue kritisiert, dass im akademischen Betrieb Pseudo-Öffentlichkeiten entstehen, deren vornehmliche Tätigkeit in der Projektemacherei besteht. Während dies meist komplett verzichtbare Publikationen zum Resultat hat, ist es im Falle der nicht-realisierten Pläne des Regisseurs Sergej Eisensteins schade, dass diese nicht umgesetzt wurden. Melanie Letschnig gibt einen kleinen Überblick.
Auf den letzten Seiten thematisiert das Kunstdepartment der STWST ihren Jahresclaim »Stay Unfinished«, und in gewisser Weise auch die Vorzüge des Unfertigen »gegen die Fertigen«. Franz Xaver und Tanja Brandmayr geben auf zwei Seiten über einige Projektvorhaben der nächsten Monate Auskunft.
Auf einer dritten Seite im STWST-Kontext wurden Kristina Binner und Fabienne Décieux angefragt, zu kapitalistischen Landnahmen im Stadtraum zu schreiben. Dieser Text steht im Zusammenhang mit einer längerfristigen Auseinandersetzung mit den Öffentlichkeitszonen des Hauses – ein Projekt mit offenem Ende.
Und ebenfalls von der STWST initiiert: Am 1. Mai wurde vor dem Haus STWST derjenige Karl Marx des Linzer Künstlers Hannes Langeder gezeigt, der nun das Cover dieser Versorgerin ziert.
Noch unfertig ist zum Zeitpunkt der Drucklegung das Projekt Übergangsregierung in Österreich – anstelle in das unsägliche »So sind wir nicht!«-Mantra einzustimmen, fordert die Redaktion mit Else Feldmann:
»Das Volk muss vor sich selbst erschrecken!«
Else Feldmann, geboren 1884 in Wien, wurde 1942 in Sobibór ermordet.
Die Redaktion