Michael Gielen starb am 8. März 2019 in seinem Haus am Mondsee. Geboren 1927 in Dresden als Sohn des Regisseurs und Theaterdirektors Josef Gielen und der Schauspielerin Rose Gielen, Schwester des Pianisten und Schönbergschülers Eduard Steuermann. Die Familie flüchtet 1933 zunächst nach Wien, dann nach Argentinien. 22 Jahre alt führt Gielen das gesamte Klavierwerk von Schönberg auf, mit dessen Kreis er nicht nur durch »Onkel Eduard«, sondern auch seine Klavierlehrerinnen Olga Novakovic und Rita Kurzmann-Leuchter sowie den Kompositionslehrer Josef Polnauer verbunden ist; später sollte die Bekanntschaft mit Adorno und dessen Schriften hinzukommen (Adorno wiederum hat sich für ihn als Dirigenten eingesetzt). 1950 nach Wien zurückgekehrt ist er zunächst Korrepetitor an der Staatsoper, danach Chefdirigent in Stockholm, Brüssel und Amsterdam. Zur wichtigsten Station wird jedoch Frankfurt am Main, wo er ab 1977 ein Jahrzehnt die Oper leitet. Legendär mittlerweile auch seine daran anschließende Zeit als Chefdirigent des SWR Sinfonieorchester Baden-Baden (und Freiburg). Gielen betrachtete allerdings stets das eigene Komponieren keineswegs als Nebenbeschäftigung, sondern als den »Teil« seiner Tätigkeit, der ihm »der wichtigste« war. Zu diesen Kompositionen siehe vor allem seine 2005 erschienenen Erinnerungen: »Unbedingt Musik«, die zudem wie der Band »Mahler im Gespräch« von 2002 – aus dem im Folgenden zitiert wird – ungemein wichtige Einsichten insbesondere zu Mahler und zur Wiener Schule enthalten.
Im 1. Satz der Vierten Mahler enden die Exposition und in erweiterter Form die Reprise mit einer Passage, der Mahler beim ersten Mal die Vortragsbezeichnung »Wieder sehr ruhig und etwas zurückhaltend« gegeben hat. In Gielens Interpretation wird sie zu einer Art Traumdeutung. Tatsächlich gab es davor die Angabe »ruhig« in dem Satz noch gar nicht, sondern nur »Bedächtig, nicht eilen«, »Recht gemächlich«, »Breit gesungen«, »Plötzlich langsam und bedächtig« – mit ihrer z.T. ironischen Konnotation verraten sie schon etwas von dem, was Adorno gerade an der Vierten so sehr schätzte: das Uneigentliche als Ausdruck musikalischer Wahrheit, »ein Als-ob von der ersten bis zur letzten Note«; oder wie Michael Gielen sagt: das »Unechte«. Es beginnt in den ersten Takten: während Schelle und Flöten streng den Takt vorgeben, sollen Klarinetten am Ende ihrer Sechszehntelfigur und Geigen beim Beginn des Hauptthemas retardieren; letztere mit der ersten Auftaktnote beim Einsatz zwar nicht zögern, aber schon bei der zweiten Note – als typisch wienerischen Dialekt sozusagen – im Tempo »zurückhaltend«, um von der dritten zur nächsten ein Glissando zu machen. Zum ersten Mal, so Gielen, seien hier in der Praxis von Mahler verschiedene Tempi gleichzeitig da. Der Anfang eines Hauptthemas mit Ritardando und zugleich Nicht-Ritardando: das habe es bis dahin nirgendwo sonst in der sogenannten klassischen Musik gegeben: »Es ist ein aleatorisches Moment des Durcheinanders«. Kein Mensch wisse, »was das denn ist: weil eben die einen im Tempo weiterspielen und die anderen retardieren.«
Auf diese Weise verfremdet Mahler den österreichischen Dialekt, stellt ihn sozusagen aus oder führt ihn vor. Im Ton größtmöglicher Harmlosigkeit mit Glöckchen wie Schlitten-, Narren- oder Kinderschellen erfolgt die Tempo-Irritation, und Gielens Einspielung des Werks mit dem SWR-Orchester von 1988 widmet ihr die denkbar größte Aufmerksamkeit. Selbst die außergewöhnliche Aufnahme von Jascha Horenstein von 1970 mit dem London Philharmonic Orchestra, die in der Ausformung der kammermusikalischen Faktur und mit ihrem Sinn für die heterogenen Momente in den kleinsten Nuancen Gielens Aufnahme an die Seite gestellt werden kann (was die Subtilität des Rubatos und die Durchsichtigkeit des Klangs an bestimmten Stellen im zweiten und dritten Satz betrifft, über sie sogar hinausgeht), zeigt hier eine Schwäche: In den ersten Takten bleiben die Flöten und Schellen gerade nicht streng im Takt, sondern retardieren wie Klarinetten und Geigen, sodass die Verfremdung des wienerischen Klischees abgemildert wird. In der Live-Aufnahme von Willem Mengelberg von 1939 findet sich indessen eine merkwürdige Verschiebung: Auch bei ihm geben Schellen und Flöten im Tempo nach, aber um den Gegensatz zum Auftakt der Geigen zu wahren, wird eben dieser Beginn des Hauptthemas mit unerhörtem Rubato noch viel, viel langsamer gespielt – wodurch hier allerdings das Wiener Idiom kaum mehr kenntlich ist –, um dann sofort energisch zu beschleunigen, zu einem Tempo jedoch, das gar nicht mehr bedächtig und gemächlich genannt werden kann.
Die ganze sich anschließende Exposition ist scheinbar sehr konventionell nach dem Schema der Sonatenhauptsatzform komponiert, dem bedächtigen Hauptthemensatz in der Grundtonart G-Dur folgt der Übergang in die Tonart der Dominate D-Dur und das »breit gesungene«, in Sextintervallen schwelgende Seitenthema in den Violoncelli, das darin gar nicht ruhig ist und zurückhaltend, fast glaubt man schon, alle Verfremdung und Irritation sei nun doch glücklich vergessen, doch wird das Thema allmählich ausgedünnt und – »plötzlich langsam und bedächtig«, nur von Oboe und Fagott gespielt – watschelt gleichsam ein armseliges Sechzehntel-Achtelmotiv-Motiv unangebracht in die romantische Szene hinein und zerstört sie ganz. Bei der Wiederholung der Exposition fehlt dann das Seitenthema, stattdessen wird der Übergang, der eigentlich zu diesem führen sollte, unvermittelt von jener Passage des »Wieder sehr ruhig und etwas zurückhaltend« unterbrochen – in der also etwas wiederkehrt, was eigentlich noch gar nicht da war. Bei Gielen mehr als bei jedem anderen Dirigenten erscheint es hier, als ob die Musik in Schlaf versetzt wird: wie in Zeitlupe gedehnt und insofern ausdruckslos ihre Bewegungen – mitten darin aber ein einziges Motiv, das im Gegenteil »expressiv« hervortreten soll. Gleichförmig Ausdrucksloses und expressiv Hervortretendes zugleich. Surreal kann es insofern vielleicht genannt werden, als man das hervortretende Motiv bereits am Ende des Hauptsatzes der Exposition gehört hatte, aber in Gestalt einer beiläufigen Figur in der Begleitung: Dort war es ein munter unbeschwertes und tänzerisches, mit seinem Nonenintervall etwas alpenländisch gefärbtes, jodlerähnliches Motiv gewesen, das dann beim Übergang zur D-Dur des Seitensatzes, an der Stelle, an der man seine Wiederholung erwartet hatte, auch schon verschluckt wurde. Nun aber zeigt es sich ausgebreitet in der völlig veränderten Umgebung: vor dem Hintergrund des zurückgehaltenen Ausdrucks, selbst vollkommen verändert. Mit seinem Nonenintervall, und insbesondere in den Celli, erinnert es von fern her zwar an die Sextenseligkeit des Seitenthemas, doch wenn dieses Thema in der Dominanttonart bereits wie eine Erfüllung klingen wollte, so wird jetzt das Nonenintervall des einst alpenländisch getönten Motivs gerade in der Grundtonart zu einem Unerfüllten, zu einer bloßen Sehnsucht, deren Ausdruck deshalb zwar durch eine Aufwärtsbewegung drängender, aber zugleich durchs Diminuendo immer leiser und zurückhaltender wird – und allmählich ganz verschwindet. Die Durchführung beginnt in diesem Moment und erzählt, warum. In den Worten von Gielen: Mahler zieht »dem Hörer den Boden unter den Füßen« weg, »und plötzlich zappelt man in der Luft herum«. Wenn man den Bass »überhaupt wahrnimmt, dann ist er thematisch, nie nimmt man ihn als reine Baßfunktion wahr in der ganzen Durchführung. Man ist gewohnt, daß das Fundament dauernd das Ganze trägt, plötzlich aber gibt’s kein Fundament. Das ist eine kompositorische Strategie von größter Tragweite.« So sieht Gielen diese ums Fundament gebrachte Durchführung als Voraussetzung des 2. Satzes, der dann durch seine plötzlich entfaltete Polyphonie einzigartig hervorsticht.
Im Scherzo der Fünften wird Mahler abermals und sehr ähnlich wie in der Vierten am Ende der Exposition aus einer ephemeren, kaum wahrzunehmenden Figur eines Übergangs ein Thema machen, das schließlich den ganzen Charakter des Satzes verändert: Ein Vermittelndes tritt plötzlich als Unvermitteltes (in Gestalt eines Hornsolos) aus einem scheinbar geschlossenen Zusammenhang hervor, als Nichtidentisches Ausdruck äußerster Einsamkeit, dem dann eine an jüdische Traditionen erinnernde, tänzerische Sequenz Antwort zu geben sucht. Dieser Satz gilt nun gemeinhin als der erste polyphone von Mahler, was Gielen mit Hinweis auf die Vierte – und ohne damit die Bedeutung des späteren Scherzos zu schmälern – zu Recht bestreitet. Im Allgemeinen wird nämlich die Vierte den frühen »Wunderhorn-Symphonien« zugerechnet, weil sie ebenfalls noch, was das Themenmaterial betrifft, mit Mahlers Liedern nach Texten aus des Knaben Wunderhorn korrespondiert, ihr letzter Satz selbst aus einem solchen Lied besteht. Wer jedoch Gielens Interpretation hört, weiß, dass die Vierte von Mahlers späteren Werken am wenigsten getrennt werden kann. Sie demonstriert, wie die Polyphonie des 2. Satzes sich bereits im 1., so harmlos erscheinenden Satz vorbereitet und zwar in jener Gleichzeitigkeit verschiedener Tempi und gegensätzlicher Ausdruckscharaktere, die – bei allen hier für Mahler‘sche Verhältnisse vergleichsweise geringen Anforderungen ans Orchester – jeden Dirigenten mit Problemen konfrontiert, die es in vorangegangener Musik noch gar nicht gab.
Die Polyphonie, der solchermaßen schon im dritten Takt des ersten Satzes und in der Passage am Ende von Exposition und Reprise vorgearbeitet wird, entfaltet Mahler im strengen Sinn freilich erst im 2. Satz der Vierten – dem »ersten polyphon gedachten Scherzo-Satz bei Mahler«, wie Gielen festhält: die avancierteste Musik, die Mahler bis dahin geschrieben hatte.
So vielfältig, verwickelt und doch offen sind die Fragen, die von musikalischer Interpretation aufgeworfen werden, und sie stellen sich bei jeder Aufführung neu – so wie jede neue Aufführung der Vierten, wenn sie wirklich auf das Werk sich einlässt, an die Kunst Michael Gielens erinnern wird.