Herr Groll bittet zu einer Aussprache

Das System Kurz stellt den Versuch dar, auch noch die letzten mühsam erkämpften Reste der nachholenden bürgerlichen Revolution in Österreich zu beseitigen.

»Aus welchen Gründen das Richtige geschieht,
ist nicht wichtig. Hauptsache, es geschieht.«

Wenzel Schebesta, Platzwart des FC Wien-Nord

Herr Groll traf seinen Freund, den Dozenten, im Wiener Volksgarten, der sich neben dem Ballhausplatz, in Sichtweite des Bundeskanzleramts und der Hofburg, dem Sitz des Bundespräsidenten, erstreckt. Groll suchte diesen Ort nur an hohen staatlichen Feiertagen auf, seinem profanen Namen zum Trotz war er seinem Wesen nach ein durchaus aristokratischer Ort und als Wiener der nördlichen transdanubischen Bezirke rechnete Herr Groll sich keineswegs zu den hohen Ständen. Beim Dozenten war das anders, der Hietzinger aus reichem Industriellenhaus war sowohl von seiner Herkunft als auch von seiner Kindheit, die er in Begleitung seiner Nurse großteils im Schönbrunner Schlosspark verbracht hatte, aristokratischen Gefilden nicht abhold. Auch aus diesem Grund hatte Herr Groll den Dozenten in den Volksgarten einbestellt, der großbürgerliche Freund sollte sich in vertrauter Umgebung wissen, wenn er Grolls Ausführungen zur Regierungskrise hören würde.
Nach einer knappen, aber höflichen Begrüßung – sie war dem Ort angemessen – lud Groll den Dozenten auf eine Runde durch den Volksgarten ein. Er wußte, daß mit dem Fortgang der Aussprache aus dem Lustwandeln ein Schlendern und schließlich ein forsches Ausschreiten werden würde. Der Dozent schloß seine italienische Rennmaschine mit zwei Sicherheitsschlössern ab und kettete das Rad dann an den hohen schmiede- eisernen Zaun. Groll sah diese Vorsicht mit Wohlwollen. In Kenntnis des ominösen Videos, das die Republik auf den Kopf gestellt hatte, weil es enthüllte, wie ausgeprägt die kleptokratische Sturmtruppenmentalität (Siegfried Mattl) von Teilen der Staatsspitze war, musste man gerade beim Ballhausplatz auf seine Wertsachen besonders bedacht sein.
»Verehrter Dozent! Geschätzter Freund!« hub Herr Groll an. »Ich habe Sie hierher gebeten, weil ich mit Ihnen die Ursachen und Konsequenzen dieser exemplarischen Woche besprechen will, einer Woche, die einer selten reinen und radikalen Ausprägung einer beschleunigten Politik entspricht. Der Verlauf dieser bemerkenswerten Woche bestätigt alles, was der italienische Philosoph und Revolutionär mit dem albanischen Namen – Antonio Gramsci – über diesen Aggregatzustand der Politik aussagt. Bekanntlich hatte Gramsci als erster Gelegenheit, den Aufstieg des Faschismus zur Macht mitzuerleben und akribisch und tiefschürfend zu beschreiben. Er wurde dafür von Mussolinis Schergen ermordet, anders kann man die zehnjährige Gefängnishaft des kränkelnden Sarden nicht bezeichnen.«
Gemessenen Schrittes näherten die beiden sich dem Theseustempel. Herr Groll fuhr fort:
»Allenthalben wird Klage geführt, daß Sebastian Kurz blauäugig in sein politisches Verderben gestolpert wäre, daß nun zum dritten Mal hintereinander eine Regierungsbeteiligung der FPÖ mit einem Skandal und der Sprengung der Koalition endete, hätte er nicht wissen können. Das ist natürlich Unsinn, wozu hat man denn Berater. Aber vollständig möchte ich dieses Argument dennoch nicht beiseite wischen.
Herr Kurz ist wie so viele seines Alters ein beispielhaftes Produkt des österreichischen Schulwesens. In den Gymnasien und den anderen Schultypen wird Literatur gar nicht und Geschichte nur lückenhaft unterrichtet. Im Ingeborg-Bachmann Gymnasium in Klagenfurt gibt es zwei Oberstufenjahre, in denen das Fach Geschichte nicht auf dem Lehrplan steht. Dafür gibt es als einzigen Freigegenstand Golf. Besuche der KZ-Gedenkstätte in Mauthausen wurden lange Jahre von den freiheitlichen Landesschulinspektoren verhindert, nun dürfen die Schüler darüber abstimmen, ob sie die Gedenkstätte aufsuchen. Die letzten Abstimmungen in den Klassen gingen alle gegen den Besuch aus, auch von Seiten der Lehrerschaft gab es keine Versuche, Mauthausen ins Programm zu nehmen. Stattdessen gibt es Exkursionen zum Weihnachtsmarkt in Salzburg, den irischen Naturschönheiten und Erholungstage in Lignano an der Adria.
Es ist also nicht verwunderlich, daß der 32-jährige Kanzler, der das österreichische Schulwesen durchlaufen hat, keinen Studienabschluß vorweisen kann. Immerhin war er mit vierundzwanzig Jahren bereits Außenminister, und die EU existiert noch. Das Studienabbrecherschicksal teilt Kurz mit etlichen anderen Politikern wie dem geschassten Innenminister und dem Ex-Kanzler Faymann. Der ÖVP-Spitzenkandidat Karas, der seit zwanzig Jahren im EU-Parlament sitzt und sich einen tadellosen Ruf als Parteigänger von Konzerninteressen erarbeitet hat, vollendete sein Studium erst vor kurzem, im reifen Alter von sechzig Jahren. Diese Leistung verdankt er seinen Mitarbeitern im Parlamentsbüro, die für ihn recherchierten, schrieben und abkupferten, wie Karas freimütig zugibt. Sie, werter Freund, haben gleich zwei Studienabschlüsse, nach dem Besuch der Nobelprivatschule Theresianum gehört sich das auch so. Für unsereins aus Floridsdorf war ein Studienabschluß von vornherein außer Reichweite, ich bin daher niemandem wegen seines Titels neidig, ich stelle aber fest, daß sich aus dem Kreis der Studienabbrecher auffallend viele ressentimentgeladene Leute rekrutieren, die für eine Aufstiegschance ihre Großmutter verkaufen würden und es in nicht wenigen Fällen auch tun. Dieser Zusammenhang ist keineswegs neu, schon Gramsci wies bei der soziologischen Betrachtung der jungen Faschisten auf die Häufung von Studienabbrechern hin.1

Sie schlugen einen Bogen um den Theseustempel. Herr Groll zeigte dem Dozenten eine Hebeplattform, die außer Betrieb war. »Im Prinzip sind wir ja barrierefrei. Wie wir ja im Prinzip alle Demokraten sind.«
»Der junge Kanzler hat nicht verstanden, daß neben der ÖVP, der SPÖ und der KPÖ auch die FPÖ ein Substrat der österreichischen Geschichte darstellt, ein Substrat, das wie die anderen nicht auf die Zweite, sondern schon auf die frühen Jahre der Ersten Republik zurückgeht. Tatsächlich wirkte sich der Zusammenbruch der Monarchie in seiner staatstheoretischen Dimension als nachholende bürgerliche Revolution, durchgeführt und erzwungen von den Parteien der Arbeiterklasse, aus. Nicht das Bürgertum vollbrachte diese Leistung, nein, sein Antipode. Zur Verhinderung einer Räterepublik wurden die Grenzen einer bürgerlichen Republik freilich bis über das damals vorstellbare Maß hinaus gedehnt – und das hinsichtlich der Arbeits- und Sozialgesetzgebung, der Einrichtung von Arbeiterkammern und Betriebsräten und der bestimmenden Mitwirkung der Arbeiterschaft in der Sozialversicherung – allesamt Politikfelder, die von der Kurz-Strache Koalition abgeschafft beziehungsweise in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Wovon die geschwächte Bourgeoisie in den frühen 1920er und den frühen 1950er Jahren träumte, mangels Stärke aber nicht verwirklichen konnte – die Beseitigung des sozialen und politischen »Revolutionsschutts« – bildete das Kernstück der rechtsautoritären Koalition von ÖVP und FPÖ. Die fremdenfeindliche Hetze bildete nur den Rauchvorhang, hinter dem sich in einem atemberaubenden Tempo eine basale Achsenverschiebung der Machtverhältnisse der Zweiten Republik vollzog. Deshalb wurden ÖVP und FPÖ von Industriellen so freigiebig unterstützt, von Waffenproduzenten über Glücksspieloligarchen, Immobilien- und Medientycoons sowie Milliardärswitwen, die auf dem durch Arisierung gestohlenen Vermögen ihrer verstorbenen Männer (der Horten-Kaufhauskonzern) sitzen. Dazu gesellten sich reaktionäre adelige und kichliche Kreise, sowie die im Raiffeisenkonzern zusammengefasste Agrar- und Finanzindustrie. Schließlich seien auch die hohe Beamtenschaft mit ihren Rekrutierungs- und Vorfeldorganisationen in Cartellverband und Burschenschaften nicht vergessen. Letztere dienten als lebende Korsettstangen in der Verschränkung von politischer und ökonomischer Macht, als organische Intellektuelle eines in sich tief gegliederten reaktionär-rechtsextremen Blocks.
Sie werden mich nun fragen, verehrter Dozent, warum ich Ihnen diese staatstheoretische Ableitung zumute. Weil ich, wie Sie aus früheren Gesprächen wissen, davon ausging, daß die VP-FP Koalition mit normalen demokratischen Mitteln nicht mehr von der Macht zu verdrängen sei. Die handelnden Herren sahen das genauso, die Koalitionsspitzen wurden ja nicht müde zu betonen, daß das »Reformwerk« auf zwei, wenn nicht drei Regierungsperioden ausgelegt war, also auf fünfzehn Jahre und mehr. Selbst nach der Aufkündigung der Koalition wurde Ex-Kanzler Kurz nicht müde, zu betonen, daß die Koalition inhaltlich eine grandiose Arbeit im Dienste von Industriekapitänen und Finanzkonglomeraten geleistet habe. Und der Bevölkerung wurde durch eine amerikanisch anmutende Propagandamaschinerie und (mit wenigen Ausnahmen) willfährigen Medien Sand in die Augen gestreut. Im übrigen ist es eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet jene Partei, die als erste umfassend auf die Sozialen Medien gesetzt hatte, diesem Sektor auch als erste zum Opfer gefallen ist.
Mit der FPÖ wird sich in den nächsten zehn Jahren niemand mehr getrauen, eine Koalition einzugehen. Selbst wenn diese Partei der Korrupten und Unanständigen, dieser antisoziale Heimatpöbel, dreißig und mehr Stimmprozent erhalten sollte – diesen Tort wird sich niemand mehr antun, der seine fünf Sinne beisammen hat. Die Herren Strache, Gudenus und Co werden als strohdumme, überhebliche und teils gefährliche politische Glücksritter in die Geschichte eingehen – im übrigen eine der wenigen Rollen, die gescheiterten Rechtsradikalen außerhalb von Gefängnismauern offen steht. Und im Sicherheitsapparat wird das Regime Kickl als bizarres Aufflackern eines skurrilen Faschismus des Möglichen, bei dem man staunte, was alles möglich ist, in Erinnerung bleiben. Wer Österreich nicht aus der EU hinaussprengen und zum Paria der Staatenwelt machen will, wird mit FPÖ-Funktionären nicht einmal mehr auf einen Kaffee gehen. Im Würfelzucker könnte eine Kamera versteckt sein.«
Die beiden waren wieder beim Eingang zum Volksgarten angekommen. Mit großer Bestürzung stellte der Dozent fest, daß seine Rennmaschine verschwunden war. Er fand ein in Klarsichtfolie eingeschweißtes Schreiben am Zaun. Das Rad sei von Parkwächtern sichergestellt worden, das Anketten sei nicht gestattet. Gegen eine Strafzahlung könne es ausgelöst werden, das aber erst in drei Tagen zwischen 10 Uhr fünfzehn und zehn Uhr dreißig im zuständigen Amt, dessen Adresse man im Internet erfahren könne.
»Ich danke Ihnen für die ergiebige Aussprache«, sagte Groll zu seinem Freund. »Sie dürfen mich jetzt im Café Landtmann auf eine Flasche Champagner einladen. Das Ende der FPÖ an der Regierung muß gefeiert werden. Ich bevorzuge den Jahrgang 1996 der Manufaktur Krug aus Reims.«

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[1] Karin Wieland. Die Geliebte des Duce. Das Leben der Margherita Sarfatti und die Erfindung des Faschismus. Hanser Verlag, München 2004